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Demokratie und Wahlrecht

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Gedanken zur Demokratisierung des Wahlrechtes in Österreich zu äußern bedeutet, ein Thema zu behandeln, das in der letzten Zeit sehr aktuell geworden ist, weil vor einiger Zeit die SPÖ und in der Vorwoche die ÖVP Vorschläge zu einer Wahlrechtsreform gemacht haben. Dieses Thema ist aber unabhängig von den Vorschlägen der Parteien aktuell, denn es mehrt sich in unserem Land ein merkwürdiges Unbehagen, das darauf zurückzuführen Ist, daß die wahlberechtigten Bürger unseres Landes mit einer sehr hohen Wahlbeteiligung die politischen Parteien Österreichs wählen, ihnen aber auf Schritt und Tritt mißtrauen.

Dieses Mißtrauen hat eine zweifache Wurzel. Es rührt erstens davon her, daß unsere politischen Parteien in dem Bundesverfassungsgesetz 1920 keine Erwähnung finden, und zweitens hat dieses Unbehagen seinen j Grund in Umständen, die in unserem Wahlrecht begründet sind.

Parteien: 1920 unbekannt

Wenn das Bundesverfassungsgesetz 1920 auch nicht ausdrücklich auf die politischen Parteien Bezug nimmt; so darf die staatsrechtliche Rolle der politischen Parteien nicht unbeachtet bleiben. Sie sind die Subjekte und Objekte des politischen Geschehens in Österreich. Als Wahlparteien machen sie die Personen ¡namhaft, die das Bundesvolk vertreten und das öffentliche Geschehen in Österreich nahezu ausschließlich beherrschen. Der Vorgang der Kreation dieser Personen ist von größter Bedeutung.

Das Wahlsystem wird im Bundesverfassungsgesetz, im Art. 26 für den Nationalrat, im Art. 95 für die Landtage und im Art. 119 für die Gemeindevertretungen durch die zwingende Vorschrift des gleichen, unmittelbaren, geheimen, persönlichen Verhältsniswahlrechtes der männlichen und weiblichen Staatsbürger, die das 20. Lebensjahr vollendet Ihaben, festgelegt. Zur Durchführung und Leitung der Wahlen zum Nationalrat, der Wahl des Bundespräsidenten und von Volksabstimmungen sowie zur Mitwirkung bei der Überprüfung von Volksbegehren sind Wahlbehörden zu bestellen, denen als stimmberechtigte Beisitzer Vertreter der wahlwerbenden Parteien anzugehören haben. In diesen Rahmenvorschriften spiegelt sich bereits das im Bundesverfassungsgesetz nicht ausdrücklich erwähnte, aber stillschweigend als selbstverständlich vorausgesetzte freie Wahlrecht, das die freie Parteienbildung und die Parteienkonkurrenz, also das Mehrparteiensystem, voraussetzt.

Das Mehrparteiensystem fand ausdrückliche Aufnahme im österreichischen Verfassungsrecht erst durch den Staatsvertrag von Wien vom 15. Mai 1955, BGBl. 152. In seinem Art. 8 bestimmen die vier Vertragspartner Österreichs, nämlich die Union der Sozialistischen Volksrepubliken, das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, die Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreich, die Republik Österreich unter dem Titel „Demokratische Einrichtungen“: „Österreich wird eine demokratische, auf geheime Wahlen begründete Regierung haben und verbürgt allen Staatsbürgern ein freies, gleiches und allgemeines Wahlrecht sowie das Recht, ohne Unterschied von Rasse, .Geschlecht, Sprache, Religion oder politischer Meinung zu einem öffentlichen Amt gewählt zu werden.“ Damit haben durch die vier Großmächte die Systeme des allgemeinen und des gleichen, des freien und des geheimen Wahlrechtes staatsvertragsförmige Garantie erhalten, das heißt, diese Vorschriften können nur mit vertragsförmiger Zustimmung der Großmächte, also auch der Sowjetunion, abgeändert werden. Es ist auf diese Weise erstmals das freie System einer Demokratie westlicher Prägung vertragsförmig von der Sowjetunion anerkannt worden.

Die gebundene Freiheit der Wahl

Betrachtet man das gegenwärtig geltende österreichische Wahlrecht, so muß erkannt werden, daß mit der verfassungsgesetzlichen Entscheidung zugunsten des Verhältniswahlsystems den politischen Parteien eine tatsächliche Vorzugsstellung in der Bewegung um die Wählerstimmen eingeräumt wurde. Der Initiative der Wähler ist nur wenig Raum geboten, denn der Wähler hat nur die Möglichkeit, sich für Parteien und weniger für Personen seines Vertrauens zu entscheiden. Nicht die Persönlichkeit des Kandidaten, sondern das am Parteitag beschlossene Parteiprogramm und seine entsprechende Auslegung sind entscheidend.

Undemokratische Nebenwirkungen

Wenn auch das Verhältniswahlrecht die Person des Kandidaten in den Hintergrund treten läßt, vermeidet es dafür, daß Stimmen unberücksichtigt bleiben. Es sorgt dafür, daß jeder Gruppe eine Parlamentsvertretung nach der Stärke ihrer Anhängerschaft zukommt.

So demokratisch das Verhältniswahlrecht im Hinblick auf die mögliche Repräsentanz erscheint, so undemokratische Begleiterscheinungen zeitigte es. Der Wähler wählt meist die Partei und nicht ihren Kandidaten, oft kennt er ihn nicht einmal. Der von der gewählten Partei nominierte Kandidat ist von dieser abhängig; die Folgen des Verhältniswahlsystems wandelt das im Art. 56 statuierte freie Mandat in ein gebundenes. Die Abgeordneten sind nämlich durch die Parteidisziplin und eine bereits im vorhinein unter schriebene Verzichtserklärung gebunden. Sie müssen sich in ihren Äußerungen und Abstimmungen, sofern eine solche nicht etwa von der Klubleitung ausdrücklich freigegeben wurde, streng an die Direktiven halten, die von der Fraktion, der sie angehören, ausgegeben wurden, widrigenfalls der Ausschluß aus der Partei erfolgt.

Die Wahlordnungen seit der Wahlordnung St. 114 1918 haben sich für das Proportionalwahlsystem mit starren Listen entschieden, da eine Einfachheit des Ermittlungverfahrens ermöglicht wird. Dem Wähler ist bei der Auswahl der einzelnen Kandidaten keine Einflußnahme gegeben. Die Nationalratswahlordnung 1949 ist von dieser Ordnung des Listenwahlverfahrens erstmals abgegangen. Die heute geltende Nationalratswahlordnung 1962 gestattet den Wählern in Paragraph 77, Abs:. 3, im Sinne des Prinzips der lose gebundenen Liste eine allerdings nur beschränkte Einflußnahme auf die Zusammensetzung der Kandidatenlisten: Der einzelne Wähler muß sich zwar grundsätzlich für eine der veröffentlichten Parteilisten entscheiden, er kann aber nunmehr die Reihenfolge, in der die Bewerber von der Leitung der Wahlpartei auf die Liste gesetzt wurden, durch Beifügung eines Reihungsvermerkes ändern oder auch Bewerber streichen.

Reihen und Streichen

Die Möglichkeit des Reihens und Streichens bietet einen Ansatz zur Demokratisierung des Wahlrechtes, denn es ermöglicht dem Wähler, den

Kandidaten, seinen Abgeordneten, auszuwählen. Welcher Erfolg war dem beschieden? Ein geringer, sei vorweggenommen: Bei den Nationalratswahlen am 18. November 1962 wurden insgesamt 4,456.131 gültige Stimmzettel abgegeben. Von diesen waren 10.080 Stimmzettel mit Reihungsvermerken im Sinne des Paragraph 78 der Nationalratswahlord- nung versehen. Die Stimmzettel mit Reihungsvermerken entsprechen somit bei den letzten Nationalratswahlen einem Promillesatz von 2,26.

Auf die einzelnen Parteien entfiel folgende Anzahl von Stimmzettel mit Reihungsvermerk: ÖVP 7682, das sind 3,79 Promille, SPÖ 1677, das sind 0,86 Promille, FPÖ 610, das sind 1,94 Promille, Kommunisten und Linkssozialisten 61, 0,45 Promille, und EFP 50, das sind 2,32 Promille der auf die jeweiligen Parteien entfallenden gültigen Stimmen.

Die vorhandenen Möglichkeiten einer Verlebendigung der Demokratie vom gegenwärtig geltenden Wahlrecht her scheinen ausgeschöpft und nicht befriedigend zu sein. Es erhebt sich nun die Frage, ob nicht neue Wege zu einer Wahlrechtsreform zu beschreiten wären, welche unter der Voraussetzung eines entsprechend fähigen Wählerwillens unser Wahlrecht zu demokratisieren vermögen. Eine solche Reform hätte eine Aufgabe: Den Abgeordneten näher zum Wähler zu rücken.

Der sozialistische Vorstoß

Den gegenwärtigen Verfassungsbestimmungen angepaßt eine Wahlrechtsreform durchzuführen, versucht zunächst die SPÖ mit einem am 10. Juli 1963 eingebrachten Antrag der Abgeordneten Uhlir, Doktor Winter, Mark und Genossen. Er sieht vier entscheidende Abänderungen der Nationalrats Wahlordnung vor.

1. Die Reduzierung der bisher 25 Wahlkreise auf neun Wahlkreise, die jeweils den Bundesländern entsprechen.

2. Die Bildung von zwei Wahlkreisverbänden.

3. Die Ersetzung des Grundmandates durch die Fünf-Prozent-Klau- sel.

4. Die Hinaufsetzung der Abgeordnetenzahl von 165 auf 180.

Nach Art. 26, Abs. 2, AVG, ist das Bundesgebiet in räumlich abgeschlossene Wahlkreise zu teilen, deren Grenzen die Landesgrenzen nicht schneiden dürfen. Auf die Wahlberechtigten dieser Wahlkreise ist dann die Gesamtzahl der im Bundesgebiet zu vergebenden Mandate nach dem Verhältnis der Bürgerzahl der Wahlkreise, das ist die Zahl der Staatsbürger, zu verteilen, die nach dem Ergebnis der jeweils letzten Volkszählung in den Wahlkreisen ihren ordentlichen Wohnsitz hatten. Es sei wohl zugegeben, daß nach dem Wortlaut des Art. 26, Abs. 2, Bundesverfassungsgesetz, die Bildung von ein ganzes Land oder mehrere Länder umfassenden Wahlkreisen nicht ausgeschlossen ist. Diese würden aber dem demokratischen Geist der Verfassung widersprechen, denn mit der Verringerung der Wahlkreise wäre auch eine Verringerung des Kontaktes zwi-

sehen Wähler und Gewählten verbunden. das heißt, eine Verlebendigung der Demokratie wäre erschwert, ja fast unmöglich gemacht. Die Macht des Parteiapparates würde an Bedeutung und Stärke gewinnen.

Die von dem sozialistischen Initiativantrag abgelehnte Wahlkreiseinteilung wurde in der Begründung zur Staatsratsvorlage der nachmaligen Wahlordnung für die konstituierende Nationalversammlung StGBl. Nr. 115 19 18 (Beilage 62 zum stenographischen Protokoll der provisorischen Nationalversammlung), die, nach Ludwig Boyer („Wahlrecht in Österreich, Wien 1961, Seite 129 f.), im wesentlichen von Staatskanzler Dr. Karl Renner stammt, wie folgt erklärt:

„In Hinkunft soll es nur abgerundete, geschlossene Wahlkreise, geben, die in sich je eine Gesamtheit aller Stände und Berufe vereinigen, die dann ein Abbild des ganzen Volkes sind und dem Abgeordneten endlich wieder erlauben, in Wahrheit Volksvertreter zu sein.

Die Wahlkreise des Entwurfes sind durchaus nicht willkürlich konstituiert, sondern die geschichtlich überlieferten und im Volksempfinden fortlebenden Gemeinschaften, unsere alten Kreise, Viertel, Gaue usw. Die zusammen Wählenden stellen hier eine tatsächliche, vom Volk von selbst empfundene Gemeinschaft dar, und die Willkür der Wahlgeometrie ist dadurch vorweg ausgeschlossen. Dadurch aber, daß im Paragraph 2 auf die alten historischen Landesteile zurückgegangen worden ist, überhebt sich das Haus selbst des sonst drohenden Gefeilsches um Wahlkreisabgrenzungen, die bei der Wahlreform der Jahre 1905 bis 1907 das Parlament so herabgewürdigt, die bisherige Wahlordnung mit lächerlichen Willkür- lichkeiten vollgefüllt und Wahlkreise für einzelne Personen konstruiert hat, die nur den einen Fehler hatten, gerade jene Männer nicht zur Wahl zu bringen, auf deren Leib sie zugeschnitten waren. Derlei wahlgeomtrische Spielereien haben sich nie gelohnt, sehr oft aber gerächt. Indem die Wahlordnung sich eng an die historischen Einheiten anschließt und jedem Kreis oder

Viertel so viele Mandate zuweist, als seiner Volkszahl entspricht, rückt sie diesen ganzen Gegenstand außerhalb des Streites: Ein allgemeiner, für alle geltender und alle bindender Rechtsgrundsatz führt hier, wie in allen Dingen, rascher und besser zum Ziel als das berechnende Gefeilsche. Proporz in den geschichtlichen und natürlichen Volks- und Gebietseinheiten, das ist in wenigen Worten der Kern des Wahlreformentwurfes.“

Es sei auch darauf hingewiesen, daß Art. 26, Abs. 2, Bundesverfassungsgesetz, bestimmt, daß das Bundesgebiet in „räumlich geschlossene Wahlkreise“ geteilt wird. Durch diese Verfassungsbestimmung wollte man eine willkürliche Konstruktion von Wahlkreisen nach wahltaktischen bzw. wahlarithmetischen Erwägung a priori auszuschalten. Ist doch eine Wahlkreiseinteilung nur dann sinnvoll, wenn das betreffende Gebiet jeweils eine Größe aufweist, die es dem Mandatar ermöglicht, mit den Personen, die ihn gewählt haben. und deren Interessen er zu vertreten hat. Kontakt zu pflegen. Allein aus diesem Grund erscheint es vom Standpunkt der Demokratie aus unverantwortlich, „Monsterwahlkreise“ zu schaffen. Das bei uns vorherrschende System der — wenn auch lose — gebundenen Liste legt die Nominierung der Kandidaten ohnehin praktisch allein in die Hände der Parteiführung und ist mit daran schuld, daß der Mandatar weitgehend anonym bleibt und daher sein Kontakt mit der Bevölkerung denkbar schwach ist. Er bedarf zu seiner Kandidatur nicht des Wählerwillens, sondern des Parteisekretariats. Wird nun die Zahl der Wahlkreise verkleinert, so wird der einzelne Wahlkreis zum Monsterwahlkreis und damit Wasser auf die Mühlen derer gelassen, welche die Persönlichkeit des Abgeordneten in Anonymität schieben und den Parteiapparat omnipotent machen wollen.

Umstrittene Fünf-Prozent-Klausel

Neben diesen Bedenken, welche von einem grundsätzlich demokratischen Standpunkt her angemeldet sind,, gibt es noch Gruppen, welche die Ersetzung des Grundmän’dat’es durch die Fünf-Prozent-Klausel für verfassungswidrig halten. Es wird aber schwer einer Wahlrechtsreform zugestimmt werden können, welche dem Vorwurf einer Verfassungswidrigkeit ausgesetzt ist.

Was die Erhöhung der Abgeordnetenzahl betrifft, so ist auch diese abzulehnen; sie wäre nur mit vermehrten Ausgaben verbunden, die nach Verwirklichung der SPÖ-Ab- änderungswünsche bei Zugrundelegung der Wahlergebnisse des November 1962 der ÖVP statt jetzt 81 86, der SPÖ statt 76 80 und der FPÖ statt 8 14 Mandate einbringen würden. Am Abstand von SPÖ und ÖVP würde sich nichts ändern; Nutznießer wäre die FPÖ.

Unter diesen Umständen und Folgen fragt man sich nach dem Sinn einer solchen Wahlrechtsreform. Der sozialistische Bundesminister Otto Probst gibt darauf selbst eine Antwort in der „Wochenpresse“ vom 20. Juli 1963: „Es ist richtig, wir haben eigentlich schon ein optimales Wahlsystem, aber bei jeder Wahlrechtsänderung spielen die Grundsätze weniger eine Rolle als der Bleistift. Und ich sage Ihnen, jeder lügt, der etwas anderes behauptet! So ist es eben; es rechnet sich ein jeder die Sache genau durch, und das Ergebnis, das ihm am meisten nützt, das ist dann das demokratische System.“

(Ein zweiter Artikel folgt)

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