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Demoskopie als Gunstgewerbe

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Mr. George H. Gallup, 67, „Gott” im Reich der Demoskopie, wunderte sich jüngst als Gast in Österreich, daß die Parteien der neutralen Alpenrepublik erst nach vierundzwanzigjähriger, bieder-demokratischer Tradition auf die Meinungsforschung als Waffe in der politischen Auseinandersetzung um die Gunst der Stimmbürger gekommen sind. In den Vereinigten Staaten, versicherte er, gehöre es zum guten Ton in allen politischen Lebenslagen, gelegentlich den Publikumswunsch nach Informationen über die Wetterlage im politischen Meinungsklima zu decken. Wenige Tage nach den blamablen Meinungsforschungsergebnissen in der Bundesrepublik Deutschland aber stellt sich die Frage noch brennender: Denn auch in der BRD war die Demoskopie eine Waffe, die erst die Unentschiedenen ausgerichtet und die Wechselwähler mobilisiert hat.

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Mr. George H. Gallup, 67, „Gott” im Reich der Demoskopie, wunderte sich jüngst als Gast in Österreich, daß die Parteien der neutralen Alpenrepublik erst nach vierundzwanzigjähriger, bieder-demokratischer Tradition auf die Meinungsforschung als Waffe in der politischen Auseinandersetzung um die Gunst der Stimmbürger gekommen sind. In den Vereinigten Staaten, versicherte er, gehöre es zum guten Ton in allen politischen Lebenslagen, gelegentlich den Publikumswunsch nach Informationen über die Wetterlage im politischen Meinungsklima zu decken. Wenige Tage nach den blamablen Meinungsforschungsergebnissen in der Bundesrepublik Deutschland aber stellt sich die Frage noch brennender: Denn auch in der BRD war die Demoskopie eine Waffe, die erst die Unentschiedenen ausgerichtet und die Wechselwähler mobilisiert hat.

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Rund 200 Tage vor dem Wahlkampf „um alles” verfiel der ÖVP-Wahl- kampfstratege Karl Pisa auf die Idee, durch die Ergebnisse einer im Auftrag der Volkspartei erstelltem politischen Meinungsstudie die österreichische Wäihlerbevölke- rung „mit der Wirklichkeit der politischen Landschaft zu konfrontieren”. Er sprach von einem „Vexierbild, aus dem sich zwei einander scheinbar widersprechende Machtverteilungsverhältnisse heraussuchen lassen: die 85 Nationalratsmandate vom 6. März 1966, aber auch die 85 Nationalratsmandate, welche die SPÖ besäße, wenn heute bei Nationalratswahlen die Wähler genauso entscheiden würden … wie bei einer der jüngsten Meinungsumfragen”. Fürs erste waren die Wahlkampf- taktiker in der sozialistischen Parteizentrale schockiert. Schließlich einigte man sich darauf, die Kunst der Selbstverleugnung zu üben, ein parteinahes Meinungsforschungsinstitut zu beauftragen und den Prozentsatz der ÖVP-Sympathisanten ein wenig, von 34 auf 42 Prozent, „aufzufrisieren”. Zuletzt verlautete das Gallup-Institut ihr Ergebnis einer durchgeführten Meinungsumfrage: Vor 40 Tagen, so erklärte man, hätte die Volkspartei 40,5 Prozent, die SPÖ 46 und die FPÖ 10,5 Prozent der Stimmen erhalten. Dieses Umfrageergebnis, extrapoliert auf die nächste Zukunft, unterstreicht eher die Richtigkeit der These Karl Pisas, daß die Sozialisten gute Aussichten haben, nach dem 1. März 1970 eine auf vier Jahre befristete Zukunft Österreichs alleinverantwortlich zu lenken.

Mit der Bekanntgabe von Umfrageergebnissen, die für die Volkspartei alles andere als günstig sind, hat der stellvertretende VP-Generalsekretär seine Partei in die Lage versetzt, den kommenden Wahlkamp ‘ trotz einer ÖVP-Bundesregierung aus der Position des Angreifers gegen die absolute Macht der Sozialisten über Österreich zu führen. Denn nun hat auch Kreisky Aug in Auge mit einer Wirklichkeit zu leben, die ihm den Bundeskanzler verspricht Respektiert er das nicht, dann beabsichtigt er, so Karl Pisa, „in den Filzpatschen einer aufgewärmten Koalitionsgesinnung unbemerkt an die Macht herauszuschleichen”.

Vabanque der ÖVP

Bruno Kreisky schwankt derzeit rhetorisch zwischen jenen beiden Möglichkeiten, die, wie man hört, beide nicht nach dem Geschmack der überwiegenden Mehrheit der österreichischen Bevölkerung sind: die Alleinverantwortung der SPÖ oder die große Koalition mit neuen Spielregeln. Der „Underdog-Effekt”, das generelle Mitleid mit dem politisch Schwächeren, der ihn und seine Partei in der Wählergunst hochkommen ließ, läßt sich neuerdings nicht mehr ausnützen. Der „Bandwaggoneffekt”, also die Wählertendenz, gleich der stärksten Partei die Stimme zu geben, um sie nicht zu vergeuden, hält es hingegen, trotz gelegentlich ungünstiger Umfrageergebnisse, stets mit regierenden und eher mit konservativen Parteien. Unter Berücksichtigung aller psychologischen Mentalitätssperren vor einer sozialistischen Alleinregierung dürfte Karl Pisa in einem Vabanquespiel möglicherweise auf die richtige Karte gesetzt haben. Wahrscheinlich baut die ÖVP auch auf das empirisch belegbare Gesetz einer interessanten Serie: daß der zweite eigentlich in keinem Augenblick je die echte Chance hat, erster zu werden.

Es ist anzunehmen, daß die parteipolitische Auseinandersetzung um die Wählerstimmen in den nächsten sechs Monaten von einer gewaltigen Flut demoskopischer Publikationen begleitet sein wird. Denn Meinungsumfragen erzeugen einen Mitläufereffekt. Neil Staebler, Vorsitzender der Demokratischen Partei Michigans, unterzog vor einiger Zeit die Wählerschaft seines Staates einem umfangreichen Test. Resultat: 43 Prozent der Befragten gaben zu, daß sie, von den kurz zuvor bekannt- gegebenen „Polls” beeinflußt, mit vorbedachter Ansicht zur Urne gingen. Denn die Berichte der Pollster, schreibt der New Yorker Journalist Erik G. EU, sind keine Dokumente über Volksbefragung, sondern dienen der Volksbeeinflussung.

Zwischen Wissenschaft und Geschäft

Kraß formulierte es Karl Korn („Schule im Getto”): „Die öffentliche Meinung ist weder die statistische noch die demo skopi sehe Meinung, sondern, primitiv gesagt, die Meinung derer, die eine Meinung haben.” Und sicher deutet auch nicht viel darauf hin, daß die Demoskopen den Inbegriff der öffentlichen Meinung erfassen. Aus 40 Prozent „Ja”, 35 Prozent „Nein” und einem Rest „Ich weiß nicht” besteht keine öffentliche Meinung. Denn sie ist, so der deutsche Altpolitologe Hermann Oncken, „einmal das natürliche Gefühl des Menschen, das andere Mal ein lärmender und unsinniger Ausdruck wilder Instinkte… ansteckend wie eine Epidemie, launisch, treulos und herrschsüchtig wie die Menschen selber, und dann doch wieder nichts als ein Wort, mit dem sich die Machthaber betrügen”.

Die Demoskopie als Pulsmesser der öffentlichen Meinung ist, so der Kölner Soziologe Erwin Scheuch, ein „Gewerbe, auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Geschäft”. Sowohl ein Übersoll an Spontaneität schließt es aus, die Antworten der Befragten in Meinungsstudien über das aktuelle Wählerverhalten einer Bevölkerung als öffentliche Meinung anzuerkennen, als auch der Umstand, daß Interviewer und Fragebogenabfas- ser wohl nicht die rechten Leute sind, um den Funken der öffentlichen Meinung zum Überspringen zu bringen. „Schon die einfachsten Gesetze der politischen Anthropologie”, meint der westdeutsche Politologe Wilhelm Hennis, „verbieten, den Akt des privaten Befragens von anonymen Privatleuten durch Privatleute mit einer irgendwie gearteten Äußerung der öffentlichen Meinung gleichzusetzen.” Theodor Eschenburg stellt in seinem Werk „Staat und Gesellschaft in Deutschland” fest, daß die Meinungsforscher den fundamentalen Unterschied von „Wählen” und „Meinen” verkennen: „Man kann zwar — und das ist das bewußte Risiko der Demokratie — wählen, ohne etwas zu meinen — es gilt der WahJauseählung gleich viel —, aber man kann nicht mit dem Anspruch, dadurch einen Beitrag zu öffentlichen Meinungen zu leisten, meinen, ohne etwas zu meinen. Den durchschnittlich zehn bis dreißig Prozent der Meinungslosen unter den Befragten wird dieses Kunststück zugemutet”

Was die Meinungsforscher mit ihrem komplizierten Instrumentarium von Samples, Fragebögen, Interviewtechnik und Auswertung in den Griff bekommen, ist nichts anderes als die gemeine Meinung, das vage Meinen und Raunen, wie das schon Harun- al-Raschid gelegentlich seiner kostümierten Spaziergänge durch die Straßen Bagdads oder Fouchės „ob- servateurs” während und nach der Französischen Revolution erkundeten.

Hauchdünn

Was die Meinungsforscher für die Politik interessant macht, ist die Möglichkeit, durch ihre Resultate die öffentliche Meinung zu manipulieren. Ein Demoskop vom Schlag eines George H. Gallup bestreitet das selbstredend, aber das ändert nichts an der Tatsache. Denn sichtbar für europäische Zeitungsleser triumphierten die Demoskopen am Schlachtfeld der letzten amerikanischen Präsidentenwahl. Bis fünf Wochen vor dem Wahltag favorisierten die großen „Polls”, das Gallup- und das Harris-Institut, Richard Nixon mit zehn bis fünfzehn Prozent Stimmenüberhang vor seinem demokratischen Widersacher Humphrey. Zehn Tage vor der Wahl und noch vor Johnsons Bombenstopp über Nord Vietnam war Nixons Vorspruch auf vier Prozent geschmolzen. Zwei Tage vor der Wahl erklärten George H. Gallup und Louis Harris, gewöhnlich erbitterte Konkurrenten, im Chor, Richard Nixon führe nur noch mit zwei Prozent. Zur gleichen Stunde veröffentlichte Albert D. Sindlinger, ein Außenseiter-Pollster und Hum- phrey-Freund, Nixon sei bereits vom demokratischen Präsidentschaftskandidaten überholt worden.

Richard Nixon gewann schließlich mit hauchdünnem Vorsprung vor Humphrey. Noch in der Wahlnacht erklärte der US-Meinungsfoefrager Sindlinger, daß die aus den Umfragen erzielten Voraussagen „falsch sein können”. Als Gründe für seine Feststellung führte er an:

• Eine wachsende Zahl von Personen, besonders in den Großstädten, weigert sich, auf die Fragen der Meinungsforscher zu antworten. Niemand ist deswegen in der Lage, ihre Stimmen richtig einzuschätzen.

• Die Umfragetechnik der Meinungsforscher ist für die Präsidentschaftswahlen entwickelt worden, in denen sich nur zwei Kandidaten den Wählern empfehlen. Diese Technik mußte bei einem Rennen von drei Kandidaten versagen.

Hinter dieser lakonischen Erklärung für die Fehlprognose verbirgt sich nicht weniger als das Eingeständnis, daß ungeachtet der gelegentlich beschlagenen demoskopischen Linsen eben durch demoskopische Publikationen ein f iüäufereffekt erzielt werden könne: ein Effekt freilich, der den Einfluß der Demoskopie auf das Wählerverhalten beweist, hingegen die richtige Erfassung des Wählerverhaltens mit den Mitteln der Demoskopie in der Nähe des Wettglücks ansiedelt. „Hätte der Wahlkampf im Vorjahr noch eine Woche länger gedauert, wäre Humphrey heute Präsident”, erklärte jüngst George H. Gallup in einem „Presse”-Gespräch. Wollte er damit nicht gar sagen, daß die Demoskopie das Kopf-an-Kopf- Rennen der beiden Kandidaten um genau eine Woche zu spät gespielt haben? Gewissermaßen ein Appell an Politiker und Parteien: Vergeßt nicht, die Demoskopie zu spät einzusetzen; als Gunstgewerbe bewährt sie sich nicht weniger als Plakate und zündende Programme!

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