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Den Sinn des Alterns erkennen

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Was heißt alt sein? Es ist mehr als die Sorge um die Pension. Alter heißt Ringen um eine angemessene Lebenseinstellung.

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Was heißt alt sein? Es ist mehr als die Sorge um die Pension. Alter heißt Ringen um eine angemessene Lebenseinstellung.

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Soziologisch gesehen wird der Lebenslauf der Zukunft insgesamt weniger vorhersehbar, stärker gestückelt und durch Brüche und Umstellungen charakterisiert sein. Diese erwartbaren Voraussetzungen erweiterter Individualisierung rufen nach stärkerer Mühe um Gestaltung, der Vorbereitung und dem rechtzeitigen Ergreifen und Ausformen von „später Freiheit” im Alter.

Aber was ist Alter? Statt das höhere Alter als nur eine Lebensphase herauszuheben und so zu studieren, sollten wir das späte Leben innerhalb des ganzen „life-span” oder Lebenszyklus sehen. Die Brüche und Diskontinuitäten im Leben sind ihrerseits nur selten an Lebensphasen gebunden. Sie richten sich nach keinen Ordnungen biologischer oder politischer Art.

Die kalendarische Variable

Altern und Lebenslauf sind zwei verschiedene Prozesse. Man muß auch sehen, daß der Mensch gleichzeitig in mehreren Lebensphasen lebt. Die kalendarische Variable Alter, die aus dem Geburtsdatum abgeleitet wird, wäre in der Sozialgerontologie besonders trügerisch und irreführend.

Einer Alters- oder Alternsforschung, die bloß von einer solchen kalendarisch bestimmten Perspektive ausginge, ohne die ökonomischen, gesundheitlichen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten zentral mit in den Ansatz der gerontologischen Fragestellung und Methodik hineinzunehmen, bliebe auch der Weg hin zum Verständnis des Konkreten und damit zur Prä-zisierang von Diagnose oder Hilfe für den einzelnen oder für die verschiedenen Gruppen älterer und alter Menschen verschlossen.

Gruppen des Alters

Alter ist ferner unter der Perspektive zu sehen, daß sich in der Gesellschaft Gruppen verschiedenen Alters bilden. Sie treten zueinander in Beziehung, in Konflikt oder in Kooperation und sie tun das in sehr verschiedener Weise. Das Zueinander von Altersgruppen prägt sich in der Familie anders aus als in der Schule, anders im Beruf und wieder anders im politischen Verteilungskampf. Wenn wir also von der gesellschaftlichen Gegenüberstellung von Altersgruppen sprechen, so muß diese Frage immer wieder anders, je nach dem Kontext und je nach Dimensionierung und Größenordnung gestellt werden, worin welche Altersgruppen einander gegenübertreten. Die Konfrontation der Generationen geschieht sowohl in kleinen und kleinsten Gruppen als auch in gesellschaftlichen Großgruppen.

Vorurteile überwinden

Viele Forschungen zeigen, daß dort, wo zum Beispiel die Alten die Jungen und die Jungen die Alten persönlich in überschaubaren Gruppen wie zum Beispiel Seminaren oder beim Sport kennen lernen, die Vorurteile der einen Gruppe gegen die andere relativ gut abgebaut werden können. Dort, wo die Gruppen einander weniger kennen, sind die Vorurteile fast immer größer.

Das große Problem, das zur Lösung ansteht, und das die Politik vor sich herschiebt, weil es viele heiße Eisen beinhaltet und Wählerstimmen kosten kann, ist die dringende Neubestimmung des sogenannten Generationenvertrags. Eine Neuregelung von gesellschaftlichen und staatlichen Verpflichtungen und der Konsequenzen für Pensionsgrenzen für die Bestimmung der Altersmarken für das Ausscheiden aus dem Beruf, wird zur dringenden Aufgabe.

Zurück zum einzelnen: Das Alter und die in der späten Freiheit verbleibende Zukunft zu gestalten, vermag eher, wer ein bewußtes, kritisches und ausgewogenes Verhältnis zur eigenen, zur politischen und kulturellen Vergangenheit gewinnt. Es gibt die beiden Extreme: Eines liegt in der völligen Abtrennung vom Vergangenen als Leugnung, Vergessen, Zerstörung, und damit auch als Verlust des Vergangenen. Das andere Extrem zielt auf die irreführende und selbstbetrügerische, „nahtlose” Einbeziehung des Vergangenen in das Jetzt, als wäre das Vergangene noch Gegenwart oder gleichwertig in ihr enthalten.

Die Gefahr von Extremen

Ältere Menschen sind in Gefahr, in das eine oder andere Extrem zu verfallen. Diejenigen, die bei Familienfesten oder Kameradschaftstreffen von dem, was sie vor 50 Jahren erlitten und erlebten, so sprechen, als sei das Nicht-mehr-Jetzt auch Gegenwart, stoßen unweigerlich die Jungen ab. Indem sie nicht imstande sind, das Vergangene als Vergangenes zu bewerten, konfrontieren sie die Jungen mit einer Fiktion.

Das andere Extrem wäre, das Vergangene einfach fallen zu lassen. Wie also Einheit, nach der der Mensch sich sehnt, stiften? Die Fähigkeit zur begrifflichen Einheitsbildung verleitet den Menschen zur Annahme einer substantiellen Einheit und damit zur Fiktion einer Beständigkeit des eigenen Selbst. Identität als Einheit ist aber eine begriffliche Konstruktion. Das lebendige Ich sucht sich in seiner Schwäche, in seinen unvermeidbaren Widersprüchen, durch einen Begriff von Beständigkeit und Identität zu stützen.

Aber das Selbst gebiert sich immer neu. Es ist stets in Bewegung, wie Heraklit von Ephesos von „allem” es vermutete und durch den von ihm überlieferten Spruch „alles fließt” folgenreich für die Geschichte des Denkens auszudrücken suchte. Das lebende Selbst kann niemals die Einheit des Begriffs erreichen, es ist immer in Fluß, damit aber auch erneuerbar.

Nur wenn das Selbst - und darauf zielt unsere aiternstheoretische Reflexion hier ab - sich nicht als ein in Einheit geschlossenes Selbst, sich nicht als ein stehendes und bleibendes Ich versteht, dann kann es seine Endlichkeit bejahen. Ein „stehendes und bleibendes” Ich (Kant) vermöchte ja gar nicht in seine Endlichkeit einzuwilligen. Denn es beruht auf der Vorstellung einer „schlechten Unendlichkeit”.

Die Endlichkeit bejahen

Die Endlichkeit zu bejahen, so schrieb Sören Kierkegaard, sei der eigentliche Schritt hin zum Glauben. Religion und Glaube zielen nicht auf Unendlichkeit. Man müsse sich losreißen aus einer „Einheit des Lebens”, so wie Abrahaiji vom traditionellen Sippen-denken, als er dem göttlichen Auftrag zu folgen begann, dann aber „sich wiedergewinnen”. Dies gelinge aber nur durch die Bewegung zur Endlichkeit, sich zu sammeln im Angesicht seines Endes.

Eine solche Bewegung von Geist und Gefühl macht erst bereit, ein abschiedliches Dasein zu entwickeln. Das ist für den älteren und alten Menschen wichtig. Aus diesem Ja zur Endlichkeit kann Widerständigkeit gegenüber dem umfassenden Innovationsdruck unserer Wirtschaft und Gesellschaft entstehen. Daraus wird potentiell auch eine lebens- und sozialkritische Haltung ableitbar, welche die Alten der Gesellschaft als Korrektur anbieten können.

Von der Sucht immer Neuem abzulösen, vermag nur, wer die Endlichkeit bejaht. Die Sucht nach Innovation entsteht aus der Illusion von Unendlichkeit. Je mehr die Wahrscheinlichkeit des Todes zunimmt, desto tiefer könnte das Verständnis der Abschiedlichkeit werden. Abschiedlichkeit - in anderer Sprachformel: die Bezogenheit auf Endlichkeit, die Teilnahme an ihr und ihre Verinnerlichung - wäre eine im höheren und hohen Alter angemessene Haltung.

Aus all dem wird eher verständlich, daß zu einem alten Mann gesagt wurde: „Wenn jemand nicht neu geborenwird, kann er nicht eingehen in das Reich Gottes” (Jo 3,3). Der betagte Nikodemus, an den sich dieses Wort richtete, antwortet dem jungen Wunderrabbi Jesus, er, Nikodemus, sei doch ein alter Mann, wie solle er „in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und neu geboren werden?” Der alte Nikodemus hat, so könnte man auslegen, seinen Glauben noch nicht gefunden. Er vermag Neugeburt nicht zu verstehen, nicht zuzulassen, weil diese Neugeburt ein „Sterben”, einen Abschied und damit ein Selbstverständnis im Irdischen voraussetzt.

Die Bedingung

Die Einwilligung in die Endlichkeit ist eine Bedingung dafür, daß ein Glaube mit Hoffnung auf Neugeburt entsteht. Neugeburt bedeutet Erneuerung als je einmaligen Prozeß, nicht als „Wiedergeburt” im Sinne stammesgesellschaftlicher Vorstellungen der Wiederkehr der Ahnen. „Neugeburt” darf auch nicht mit hinduistisch-buddhisti-schen Vorstellungen der Reinigung und Läuterung durch wiederholte Rückkehr in ein Leben verwechselt werden, das der zunehmenden Ablösung und Befreiung vom Irdischen dienen soll.

Die Alten der Zukunft werden solche Orientierungen der

Einwilligung in ihre Endlichkeit und „Neugeburt” entwickeln müssen, wenn sie imstande sein wollen, gegen die bloße Anpassung an die jeweiligen gesellschaftlichen Moden eine eigene Lebensweisheit, damit auch Voraussetzungen für „Glauben”, Vertrauen, Widerständigkeit, Risikobereitschaft und Abschiedsfähigkeit zu entwickeln. So können sie einen eigenen Weg der Selbstabklärung, der Festigkeit aber auch des Mutes für die Zukunft hervorbringen.

Statt mehr und mehr Objekte des Marktes, des Konsums und bloßer „Betreuung” zu werden, können sie Subjekte gesellschaftlicher Entwicklung und Handelnde sein -mit einem lebendigen Selbst. Die Gesellschaft aber muß wirkliche Pluralität zum Beispiel im Hinblick auf die Pensionsgrenzen und viele Optionen des Neulernens neben und nach dem Beruf anbieten.

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