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Warum Bildungspolitiker und Pädagogen heute wieder Kant lesen sollten.

Die Erinnerung an Kant wird in diesem Jahr besonders gepflegt - vor 200 Jahren verstarb er 80-jährig in Königsberg. Auch die Pädagogik hat vielfach Anlass, sich seiner Gedanken zu erinnern, wenn er sich auch mit ihr nicht unmittelbar beschäftigt zu haben scheint. Es gibt nur eine kleine Schrift über Pädagogik, der nicht einmal besonderer Rang zugesprochen wird. Wer Kants Beziehung auf Menschenbildung wirklich erfassen will, der muss versuchen, sich mit den grundsätzlichen Aussagen seines Philosophierens auseinander zu setzen. Sie kreisen, wie er verschiedentlich formuliert hat, um die Fragen "Was kann ich wissen?", "Was soll ich tun?", "Was darf ich hoffen?" - und münden schließlich in die grundlegende Frage: "Was ist der Mensch?"

Wer sich nicht mit den banalen Fragen der Zeitgeistpädagogik zufrieden gibt, wird unschwer erkennen, dass es hier um die Grundprobleme der Pädagogik überhaupt geht, um das Lehren und Lernen, um die Erziehung zu moralischem Handeln und schließlich um Menschenbildung, wenn man diese als je individuelle Ausformung des Bildes sieht, das der Schöpfer in den Menschen hineingelegt hat. Kant will diese Fragen weder mit einem unkritischen Dogmatismus, noch im Skeptizismus unverbindlicher Relativität beantworten. Kant übersieht aber auch nicht das Dilemma, in das dieses Denken gerät. In der Vorrede zur ersten Auflage seiner "Kritik der reinen Vernunft" formuliert er die Schwierigkeit gleich am Anfang. "Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse, dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie überstiegen alles Vermögen der menschlichen Vernunft."

Grenzen der Vernunft

Mit diesem Eingangsbekenntnis definiert Kant sein Vorhaben in zweifacher Weise. Einmal will er Platz schaffen für die Religion, die aufgrund der Offenbarung Aussagen treffen kann, deren Gewissheit der Prüfung durch unsere Vernunft entzogen ist, zum anderen deutet er die kopernikanische Wende seines Philosophierens an. Um dem Dogmatismus zu entgehen, muss vor allem die Vernunft sich über ihre Grenzen und Möglichkeiten Klarheit zu schaffen versuchen. Kant nennt dies Transzendentalphilosophie. Sein Denken ist nicht auf ein metaphysisches Sein gerichtet, sondern auf das Denken selbst. Er fragt in seiner Philosophie nicht nach einer transzendenten Welt hinter und über den realen Dingen, sondern nach der Art unseres Denkens, der Gesetzmäßigkeit unserer Vernunft. Das führt notwendig zur pädagogisch maßgeblichen Frage, ob und wie menschliches Lernen möglich ist. Die je eigene Vernunft muss herausgefordert werden, was immer auch Gegenstand des Lernens sein mag. Deshalb fordert Kant, nicht Gedanken sollen gelernt werden, sondern das Denken selbst.

Lernen ist nicht das Sammeln von Daten oder Informationen, sondern eine Sonderform des Erkennens. Ihm kann eigenes Argumentieren nicht erspart werden. Gefordert ist der Verzicht auf leichtfertiges Urteil, die Bereitschaft, selbstkritisch das eigene Wissen zu prüfen, die Grenze des eigenen Wissens zu sehen, und zu neuem Fragen bereit zu sein. Die Kunst des Lehrens besteht ganz entscheidend in der Anregung des Denkens beim Schüler. Dass dabei auch Etwas gelernt werden muss, ist selbstverständlich. Aber auch hier gilt, dass man Wissen in die Köpfe der Lernenden mit noch so viel didaktischer Finesse nicht hineintransportieren kann. Wissen ist dem Menschen nur möglich, wenn er seine eigene Vernunft anstrengt. Deshalb ist es so töricht, wenn ein halbes Jahrhundert nach der Zeit der Diskriminierung des Geistes durch die Diktaturen wieder von der "Verkopfung" der Schüler gesprochen wird, wenn man empfiehlt, Entscheidungen "aus dem Bauch" zu fällen, wenn Argumente durch Emotionen ersetzt werden sollen, wenn Theorie als Bedenken des Handelns als überflüssig gesehen wird.

Kant hat in seinem viel zitierten Aufsatz über Aufklärung die Menschen aufgefordert, sich aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien und von ihrer Vernunft freien und öffentlichen Gebrauch zu machen; nur so könnte auch mehr Gerechtigkeit in die Welt kommen und der Friede den Krieg vertreiben. Damit kommt das zweite große Thema der Pädagogik zur Sprache, nämlich das Problem der Erziehung.

Auch hier sucht Kant das Gesetz für moralisches Handeln in der eigenen Vernunft aufzufinden. Nicht der handelt gut, der sich sein Verhalten von anderen vorschreiben lässt, der sein Handeln auf die für ihn positiven Folgen abstimmt, auch wenn diese den Lohn im Jenseits betreffen. Moralisch handelt erst der, der dem Gesetz in seinem Inneren folgt. Weder Angst vor Strafe, noch die Erwartung von Glück und Vorteil begründen Moralität, sondern allein der gute Wille. Erziehung lässt sich deshalb auch nicht mit Zwang und Gewöhnung zu gutem Verhalten erreichen. Zwar spricht auch Kant in seiner Schrift über Pädagogik von der Notwendigkeit der Disziplinierung und Kultivierung; entscheidend aber bleibt die Moralisierung, das heißt, sich dem Gebot der eigenen Vernunft zu unterstellen.

Wider die Verzweckung

Der junge Mensch muss lernen, die Gesetze zu achten, die Willkürfreiheit zu überwinden. Aber die Erziehung kann dabei nicht stehen bleiben. Ansonsten wird vom Menschen, - wie heute - Flexibilität gefordert, die unter der Hand den Menschen zu einem unselbständigen, zur Anpassung stets bereiten Zeitgenossen macht. Erziehung will den Menschen dahin führen, in sich selbst das Gesetz seines Handelns aufzusuchen und aus Achtung vor diesem Gesetz zu handeln.

Daraus entwickelt Kant dann auch das telos (Ziel) aller Erziehung, den Kategorischen Imperativ, dass der Mensch in seinem Handeln sowohl in sich selbst wie in jedem anderen die Menschheit zu achten, d.h. jeden anderen als Zweck seiner selbst anzuerkennen und ihn nicht bloß zum Mittel für vorgeschriebene Zwecke zu gebrauchen habe.

Das ist eine Forderung, deren Beachtung der gegenwärtigen Gesellschaft, ihrer Politik und auch ihrer Bildungspolitik dringendst abverlangt werden muss. Denn die Ökonomisierung scheint inzwischen alle Bereiche zu überwuchern. Marx sprach von der Ausbeutung des Menschen durch das Kapital. Heute muss man von der fortschreitenden Instrumentalisierung des Menschen sprechen - in der Wirtschaft und Politik, im Konsum und in der Sexualität. Diese Gefahr ist nicht zu unterschätzen, zumal sie nicht in unmittelbarer Brutalität anschaulich wird, sondern schleichend und nicht immer leicht zu entlarven ist. Niemand muss hungern und existentielle Not leiden, wohl aber muss der Mensch seine Eigenständigkeit, seine Selbständigkeit zu Markte tragen. Als Betäubungsmittel bietet man ihm Kurse zur Selbstfindung an, schickt ihn auf die Reise, sein Ich zu suchen, das er natürlich nicht finden kann, weil er es, wenn überhaupt, immer schon ist. Man kommt seinen Neigungen entgegen, um durch sie "den anderen Menschen in seine Gewalt zu bekommen, um ihn nach den eigenen Absichten lenken und bestimmen zu können".

Bildung ist nicht messbar

Bildungspolitik und modische Erziehungswissenschaft sind im Verzicht auf jenen kritischen Gedanken dieser Tendenz verfallen. Sie haben ganz und gar auf die Effektivität gesetzt, wollen pädagogischen Erfolg fortdauernd messen, entwickeln dafür immer raffiniertere Methoden und bedenken nicht, was Kant uns ins Stammbauch geschrieben hat: dass man das "Eigentliche" von Bildung nicht messen kann. Ob eine Handlung aus Achtung vor dem Gewissensanspruch oder aus anderen Motiven erfolgt, das zeigt sie nicht in ihrer empirischen Erscheinung. Man kann versuchen zu verstehen, die Gewissenhaftigkeit kann man nur vermuten.

Die Pädagogik als Wissenschaft täte gut daran, Kant zum Anlass zu nehmen, sich dem Denken in philosophischer Theorie nicht weiter zu entziehen. Die Besinnung auf Kant kann zwar eigenes Denken nicht ersetzen. Man kann sein Denken aber in der Auseinandersetzung mit Kant weit machen, um den Begriff der Bildung besser zu fassen. Kant selbst hat zu diesem Vorhaben aufgefordert, wenn er in der Vorrede zur "Kritik der reinen Vernunft" schreibt: "Ob ich nun das, wozu ich mich anheischig mache [...], geleistet habe, das bleibt gänzlich dem Urteile des Lesers anheim gestellt, weil es dem Verfasser nur geziemt, Gründe vorzulegen, nicht aber über die Wirkungen bei seinen Richtern zu entscheiden."

Der Autor ist emer. Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Wien.

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