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Der französische Bildungsurlaub

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Schon seit den späteren fünfziger Jahren hat das französische Parlament einen gesetzlichen Bildungsurlaub beschlossen, der jüngeren Menschen die Möglichkeit gibt, neben ihrem Jahresurlaub sich für Bildungszwecke im Betrieb freistellen zu lassen. Dies war zuerst überwiegend für gewerkschaftliche Zwecke, seit 1961 aber auch für allgemeine Bildungskurse beschlossen worden. Die französische Republik hat durch ihr „Ministerium für Jugend und Freizeit“ viele solche Kurse selbst veranstaltet und anderen Organisationen die Möglichkeit gegeben, wertvolle intensive Bildungsarbeit zu leisten.

1968: néue Vorschläge

In den letzten Monaten wurde von vier Seiten her eine Initiative für eine Freistellung zu Bildungszwek- ken ergriffen. Schon seit 1962 beschäftigt sich die Katholische Arbeiterbewegung mit einer jährlichen Bildungsfreistellung von Arbeit- nehmern. zwischen 15 und 55 Jahren.

In der Zeitung „Neuer Arbeiter“ vom August 1968 und in anderen Publikationen der Katholischen Arbeiterbewegung wird nun ein konkretes Forderungsprogramm für eine Bildungsfreistellung von einer Woche je Kalenderjahr aufgestellt. Die Bildungsträger sollen vom Bundesministerium für Unterricht gemeinsam mit dem Bundesministerium für soziale Verwaltung anerkannt werden. Gewisse Maßnahmen sollen Schutz gegen jeden Mißbrauch ermöglichen. Das Dr.-Karl-Kummer- Institut hat im Rahmen eines Arbeitskreises einen Gesetzentwurf für das Parlament ausgearbeitet.

Ebenso hat der 6. Gewerkschaftstag der Gewerkschaft der Privatangestellten die Forderung nach einer bezahlten Freizeit für Weiterbildung einstimmig mit fogenden Worten beschlossen:

„Die Aneignung arbeitsrechtticher, volkswirtschaftlicher und soziologischer Kenntnisse ist für die Angestellten bei der Wahrnehmung ihrer Interessen von entscheidender Be-

deutung. Es wird daher die Forderung erhoben, den Angestellten b e- z ahlt e Freizeit für den nachgewiesenen Besuch von Kursen zu gewähren, die der Weiterbildung in den angeführten Bereichen dienen.“

Ein Modell für Österreich

Die österreichischen Volkshochschulen haben nun seit vier Jahren regelmäßig in ihrem Volkshochschulheim „Haus Rief“ bei Salzburg zwei Wochen im September unter dem Titel „Bildungsurlaub“ veranstaltet. Sie standen bisher immer unter dem Arbeitstitel „Die Menschheit auf dem Weg zum Jahr 2000“ und wurden mit interessanten Aussprachen und Vorträgen über die neuesten und zukunftsträchtigen Entwicklungen ausgefüllt. Unter den Vortragenden befanden sich Persönlichkeiten wie Univ.-Prof. Dr. Hans Tuppy, Prof. Dr. Rupert Feuchtmüller, Hofrat Dr. Lothar Machura, Prof. Dr. Ernst Winter, Architekt Fred Freyler, Dr. Ernst Glaser, Pri- maria Dr. Franziska Stengel, Karl Bednařík und Dr. Peter Vychytil.

Das Beispielhafte dieser Bildungswochen war die schöne menschliche Gemeinschaft von Erwachsenen aller Altersstufen, welche in echter Gemeinschaft ihre Bildung auffrischten. Da keine Dienstfreistellung vorlag, waren zuwenig junge Menschen zu den Veranstaltungen gekommen, so daß ein falscher Querschnitt durch die Bevölkerung entstand. Von den Teilnehmern dieser Experimentkurse wurden im Durchschnitt vier wissenschaftliche Bücher in den vierzehn Tagen gelesen und die oft anspruchsvollen Vorträge etwa über „Automation“. ..Astronautik“ oder „Atomphysik“ eingehend diskutiert.

Möglichkeiten der Bildungsfreistellung

In Österreich gibt es in der „Arbeitsgemeinschaft der Bildungsheime Österreichs“ zwei Dutzend in schönster Lage gebaute Häuser, die zum großen Teil für Bildungsfreizeiten zur Verfügung stehen würden, schon weil sie gegenwärtig nicht voll ausgelastet sind. Dazu kommen zweifellos ein Teil der Bildungsheime der Gewerkschaften, der Arbeiterkammer, der Landwirtschafts-, und Han delskammer sowie Schulungsheime der verschiedenen politischen Parteien und Kirchen.

Wenn auf diesem Gebiet eine breitgestreute Zusammenarbeit möglich wäre, könnten auch in Österreich jährlich mehrere tausend jüngere Erwachsene ihre allgemeinen und beruflichen Kenntnisse auffrischen und so in der intensivsten Form der Erwachsenenbildung einen neuen Anschluß an die sich entwik- kelnde Bildungsgesellschaft finden. Die österreichische Industrie ist durch die Schaffung hervorragender Ausbildungszentren für ihre Führungsstäbe und die Unterstützung der Wirtschaftsförderungsinstitute dieser Entwicklung bereits im positiven Sinn vorausgegangen, wie in einem kürzlich erschienenen Aufsatz der „Industrie“ ersichtlich ist. Nicht nur für die einzelne Persönlichkeit und den Staat wäre eine solche Bildungsfreizeit eine Notwendigkeit, sondern auch besonders im Interesse der österreichischen Wirtschaft, denn der gebildetere Arbeitnehmer ist immer auch der bessere Arbeitnehmer.

Nicht Nachholbedarf: Notwendigkeit!

Die rapide Vermehrung von Wissenstatsachen auf zum Teil ganz neuen Gebieten, aber auch in den konventionellen Fächern, hat die gesamte Bildungswelt verändert. In kaum einem Jahrzehnt verdoppelt sich heute der Wissensstoff, von dem aber alle Erwachsenen wenigstens in großen Zügen Kenntnis haben sollten.

Diese Wissensexplosion unserer Zeit, die das Lernen für den heutigen Menschen zu einer ständigen Notwendigkeit für ihn und die Gesellschaft macht, hat die ganze Grundlage unserer Erwachsenenbildung geändert. Es handelt sich nicht mehr um einen Nachholbedarf wenig gebildeter Schichten, sondern um eine Notwendigkeit für jedermann. Die Bildungsfreizeit und die intensive Arbeit im Bildungsheim sind aber die größte Chance, Menschen dazu zu gewinnen, sich bewußt zu machen, daß sie ständige Weiterbildung benötigen.

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