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Der Kopf, nicht das Geld

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Die Zeiten, in denen man in den USA vom Schuhputzer zum Generaldirektor aufsteigen konnte, sind vorbei. Es kommt wohl noch vor, daß ein „Executive” seine Laufbahn vor Jahrzehnten als Laufbursch begonnen hatte — schließlich gibt es auch Haupttreffer! —, aber solche Beispiele werden immer seltener und man rühmt sich ihrer immer weniger. Viel eher rühmt sich ein Direktor seiner Studienzeit bei Columbia oder Yale. Die Gesellschaftsschichten sind auch in den USA dichter geworden und erschweren den Aufstieg. Das Vehikel.

das die Grenzen durchbricht, ist nicht Reichtum, sondern Bildung.

1900 stammten 46 Prozent der Wirtschaftsführer aus reichen, 42 Prozent aus wohlhabenden, 12 Prozent aus armen Familien. 50 Jahre später war das Verhältnis schon 36 zu 52 zu 12 Prozent. Heute ist es 11 zu 66 zu 23 Prozent. Der Anteil der armen Schichten hat sich verdoppelt, der der reichen ist auf ein Viertel gesunken. Und worauf beruht der Aufstieg?

1900 hatten 23 Prozent der Wirtschaftsführer nur die Volksschule beendet, 37 Prozent eine Mittelschule, 40 Prozent ein College, von denen aber nur die Hälfte einen Grad und nicht einmal ein Viertel einen höheren Grad (etwa dem Doktorat vergleichbar) erreichte. Nach fünfzig Jahren waren die Volksschulabsolventen auf 4 Prozent, die Mittelschüler auf 14 Prozent zusammengeschrumpft, während die College- Studenten auf 72 Prozent emporgeschnellt waren, von denen 7/ln einen Grad und s/io einen höheren Grad erreicht hatten. Heute gibt es keine Volksschüler mehr, die Mittelschüler umfassen nur noch 9 Prozent, die College-Studenten 91 Prozent, davon mehr als die Hälfte mit Grad, fast die Hälfte mit höherem Grad.

Interessant ist die Berufsverteilung. 1960 hatten von den Wirtschaftsführern 7 Prozent eine technische, 9 Prozent eine juristische, der Rest eine andere Vorbildung. 1950 umfaßten die Techniker 20 Prozent, die Juristen 12 Prozent. Heute haben von den obenerwähnten 81 Prozent College-Studenten 33 Prozent technische, 11 Prozent juristische, 32 Prozent andere (Geschichte, Politik,Journalismus, Buchhaltung usw.) gewählt. Die Techniker sind also auf das Fünffache gestiegen, die Juristen haben nur um 20 Prozent zugenommen, die anderen Berufe sind auf das Zweieinhalbfaohe gestiegen.

Die Grafen der Demokratie

Zum besseren Verständnis dienen einige weitere Bemerkungen. Der Grad einer besonders berühmten Universität (,,Epheu”-Hochschule) wie Columbia oder Harvard öffnet alle Türen, so etwa wie der Grafentitel in der Monarchie. Selbst ein schlechterer Absolvent von Harvard hat einen leichteren Aufstieg als ein besserer einer minder bekannten Provinzuniversität, an der man vielleicht besser studieren konnte. An den großen Hochschulen hemmt die Masse das Studium. Aber kein Absolvent hat es schwer, eine gutbezahlte Stelle mit einem Anfangsgehalt von 500 Dollar aufwärts zu finden. Die großen Gesellschaften schicken an alle Hochschulen Werber, welche die Studenten durch finanzielle Anbote, Annehmlichkeiten der Stellung, Aufstiegsmöglichkeiten zu locken suchen, aber auch deren Fähigkeiten einer genauen Untersuchung unterziehen. Es entwickelt sich ein wechselseitig sehr genau geführter Anstellungshandel. Ein ausgezeichneter Student verläßt die Hochschule mit drei oder vier lockenden Anboten, aus denen er und seine gegenwärtige oder zukünftige Gattin eine sehr sorgfältige Auswahl treffen. Seit einiger Zeit erstreckt sich diese Werbung auch auf die Negerhochschulen. Auch an den anderen Hochschulen haben heute Neger bei gleicher Qualifikation infolge der Agitation einen Vorsprung — früher war es umgekehrt —, was nicht ohne Reaktion bleibt.

Kein Bildungsprivileg

Daß der Anteil der Wirtschaftsführer sich seit Beginn des Jahrhunderts aus den imbemittelten Schichten verdoppelt und die Zahl der College-Studenten ebenfalls verdoppelt hat, ist ein Beweis dafür, daß auch Armen das College-Studium erreichbar ist, obwohl es recht teuer geworden ist. Da (außer in den Großstädten) die meisten Studenten fern von ihrer Familie am oder beim Campus wohnen, kostet das Studiertjahr mindestens 2009 Dollar, an manchen Hochschulen bis zu 5000 Dollar. Vorsorgliche Väter versichern Söhne und Töchter gleich bei deren Geburt für deren College-Studium oder gründen einen Fonds dafür, ohne zu ahnen, was es kosten wird, bis es dazu kommt. Sie setzen sie auch schon vom Kindergarten an auf die Warteliste „ihres” College, denn die Überfüllung wird immer größer und die Wartelisten werden immer länger, weil es ohne College eben kein rechtes Fortkommen gibt. Aber kein Fähiger und Ehrgeiziger wird durch die Kosten am Studium gehindert, falls er oder seine Familie nur seinen Verdienst während der Studienzeit entbehren kann. Auf jedem College gibt es so viel Nebenverdienste, deren Zugänglichkeit ist so gut organisiert, außerdem gibt es eine Unzahl von Stipendien, die erfolgreichen Studenten geradezu an den Hals geworfen werden, daß Armut bei gutem Willen und guten Fähigkeiten nur in Ausnahmefällen — z. B. wenn Familienmitglieder wegen Krankheit Hilfe benötigen — das Studium verhindert. Überdies ist die Opferbereitschaft der Eltern für das Studium ihrer Kinder, oft vieler Kinder, grenzenlos.

Das ist vielleicht ein besseres System als Gratisstudium gemäß einer Auswahl von oben, selbst mit bezahltem Gehalt, wie es in manchen Ländern besteht, aber ausnahmslos an politische Voraussetzungen gebunden ist, wodurch vielen Fähigen ohne diese Voraussetzungen die akademische Karriere versperrt und die Wirtschaft um deren Mitwirkung ärmer gemacht wird.

Studium: die beste Kapitalsanlage

In den USA ist Studium die beste Kapitalsanlage. Vor zehn Jahren haben Versicherungsgesellschaften ausgerechnet, daß ein Arbeiter nach der Volksschule Aussicht hat, in seinem künftigen Arbeitsleben 100.000 Dollar zu verdienen; ein Mittelschüler 200.000 Dollar und ein Hochschulbesucher trotz der kürzeren Arbeitsjahre 300.000 Dollar. Die Ziffern sind schon weit überholt, der Druck zum Studium ist aber sehr gewachsen, denn für Ungeschulte gibt es kaum noch eine Verwendung. Mechanisches wird durch Maschinen verrichtet, da Arbeitskräfte dafür zu teuer geworden sind. Das erzeugt natürlich Arbeitslosigkeit, die aber in der Statistik durch Fehlbuchungen aufgebläht wird.

Lehrreich ist die Gegenüberstellung von Unternehmungen und Gewerkschaften. Gewerkschaftsführer verfügen selten über mehr als Mittelschulbildung. Sie genügt für jene Faktoren, die für den Aufstieg in Gewerkschaften bestimmend sind. Die Führer müssen sich daher mit einer Schar gut ausgesuchter, sehr fähiger, gut bezahlter Berater und Vollstrecker mit Hochschulbildung umgeben, deren Informationen ihnen einen starken Rückhalt am Verhandlungstisch geben. „Wenn ich zwölf Pferde zahlen kann, sind ihre Kräfte nicht die meinen?”

Die Karriere der Gewerkschaftsführer ist vielleicht die einzige in den USA, für die College- Studium unwesentlich ist. Dieses ist aber sehr wesentlich, um in den Kreis der Berater einbezogen zu werden. Einzelne Gewerkschaften haben sogar Einrichtungen, die befähigten Kindern von Mitgliedern das College-Studium ermöglichen, um so eine gebildete Elite von Beratern — vielleicht einmal von Führern — heranzuziehen.

Problem Einkommensteuer

Aufnahme in die Schar der Wirtschaftsführer sichert aber noch keineswegs Reichtum. Gehalt und Arbeitsbedingungen sind glänzend, aber die Steuer verhindert die Vermögensbildung. Von einer gewissen Stufe an dient eine Gehaltserhöhung nur dem Ehrgeiz als Spiegelbild von Leistung und Prestige, denn der Großteil, weit über drei Viertel, fließt an Bund und Staat. Ein Ausweg wird durch Optionen gesucht, die hier nicht näher besprochen werden kön nen, aber von den Aktionären statt . von der Gesellschaft bezahlt werden ; müssen. Die Wirtschaftsführer sind nicht die. Besitzer der ganz großen Vermögen, sondern nur deren Verwalter.

Die Millionen vermögen werden von Einzelgängern gebildet. Vance Pak- kard, der amerikanische Spezialist für Wirtschaftsführer, hat kürzlich in seinem lehrreichen Vortrag für die Schweizerische Handelszeitung in Zürich ausgeführt, daß von Männern oder Frauen, „die in den letzten 20 Jahren trotz Einkommensteuer von 10 Millionen Dollar aufwärts errangen”, nur 40 Prozent einem College nahegekommen waren. Einige fingen gar gleich nach der Volksschule an, „indem sie sich mit einer kleinen Firma Bahn brachen und diese dann ausbauten oder indem sie sich jungen Industrien mit Zukunft zuwandten”. Auch das sind aber Haupttreffer. Der selbständige Betrieb wird auch in den USA durch die Teuerung immer schwieriger. Ein Siebentel geht alljährlich zugrunde.

Aber auch die Eigentümer solcher großer Privatvermögen müssen sich 1 wie die Gewerkschaftsführer mit i einem Kranz von College-Absolventen 1 umgeben, ohne die kein Unternehmen i mehr verwaltet werden kann. Der Weg der Selbständigkeit ist schwer i und riskant; der Weg zum gutbezahlten Angestellten ist relativ leicht und sicher.

So zeigt sich in der freien Wirtschaft, die man irreführend Kapitalismus nennt, für welche die USA beileibe kein vollendetes, aber doch ein besseres Beispiel als in den meisten anderen Ländern bietet, eine Entwicklung, durch die die Vermögensgeschichte, aus der ein Wirtschaftsführer stammt, gegenüber seiner Bildung an Bedeutung schrumpft. Der Kopf schafft mehr Aufstiegsmöglichkeit als Geld. Dagegen spielt in allen statistisch geleiteten Ländern der Ursprung aus einer privilegierten — politisch, sozial, ethisch privilegierten — Gruppe eine im Verhältnis zur Bildung viel wichtigere Rolle.

Gesundes Rückgrat

Die Ursache ist leicht festzustellen. In der freien Wirtschaft muß ein Fehler von dem bezahlt werden, der ihn macht. Wer aus Protektion einen unfähigen Neffen oder Sohn eines Freundes anstellt, muß dafür aus eigener Tasche bezahlen. Das hindert Beziehungen den Vorrang vor Fähigkeit zu geben. In der statistischen Wirtschaft hingegen, die Wirtschaftsführer nach der Zugehörigkeit zu den leitenden Gruppen aussucht, sind deren Mißgriffe leicht durch populäre Phrasen zu verdecken oder auf Sündenböcke abzuschieben. Der Unternehmer Staat muß schon für ihre Fehler zahlen, aber er verdeckt sie. Je ausgebildeter der Etatismus einer Gesellschaft ist, desto mehr wird die Anstellung von Treue zum jeweiligen System statt von Eignung bestimmt. In extremen Systemen, wie Kommunismus oder Faschismus, ist diese Treue unabdingbare Voraussetzung für Verwendung. Das ist einer ihrer Nachteile gegenüber der freien Wirtschaft. Diesen Vorsprung kann kein anderes System einholen.

Das soziologische Rückgrat der amerikanischen Wirtschaft ist also gesünder als das mancher anderer Länder. Es beruht nicht auf Geld oder Beziehungen, sondern auf Kenntnissen.

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