6765876-1968_34_08.jpg
Digital In Arbeit

Der Leistungsgrundsatz entscheidet

Werbung
Werbung
Werbung

Im Sommer 1967 hatten strengere Auslesebestimmungen veranlaßt, daß von 32.500 Mittelschulmatuirainten 20.300 ihr Studium nicht fortsetzten, sondern in das Berufsleben eintraten. 64,2 Prozent der Mittelschulabsolven- ten wollten in einem Büro arbeiten. Dazu die Wochenschrift „Figyelö“ am 6. März 1968: „Die Unternehmungen sind mit Verwaltungspersonal zum Großteil versorgt, die angebotenen Arbeitsmöglichikeiten sind daher zum überwiegenden Teil manueller Art.“

Das Gesamtbild für die Bildung und Ausbildung der Schuljugend ergibt folgende Feststellung: „Nach dem Verlassen der Grundschulen strebten im Vorjahr 39.400 Absolventen keine weitere Fachausbildung mehr an (davon 77 Prozent Mädchen). Dazu kommen weitere 20.000, die vorzeitig von der Grundschule wegbleiben, rund 25.000, die in den Mittelschulen und rund 2500, die in den Hochschulen vorzeitig abbrök- keln. Alles in allem sind es rund

100.0 Jugendliche im Jahr, von denen allerdings rund 18.000 nach ein bis zwei Jahren dann doch wei- terlemen und 5000, die einen Heilgehilfen- oder Schreibmaschinen- kurs besuchen. Es verbleiben so rund

80.0 Jugendliche, die innerhalb ab sehbarer Zeit keine fachliche Ausbildung erwerben (davon rund 70 Prozent Mädchen).“ Besonders knapp sind die Lehrstellen für 14- bis 16jährige Mädchen auf dem Lande, weshalb sich die Zahl der jungen Hilfsarbeiterinnen ohne fachliche Ausbildung noch ständig erhöht.

Es gelingt also schrittweise, die Forderungen für die Aufnahme an Hochschulen und Fakultäten höher zu schrauben, die Studienpläne westeuropäischen Lehrplänen und Erfordernissen anzupassen. Ebenso gilt heute im allgemeinen der Leistungsgrundsatz, sobald entsprechende Posten für junge Hochschulimgenieure, Techniker, Ärzte, Lebrer usw. ausgeschrieben sind. Nach wie vor aber wirkt es (ausgerechnet in einem sowjet-sozialistischen Lande) fast be- stürzend, wie wenig die Handarbeit, die Fachberufe der industriellen Erzeugung, oder gar die Landwirtschaft von Eltern und Kindern geschätzt werden, die sich zu einer Berufsausbildung entschließen.

Ein wichtiges Problem der gesamten schulischen und politischen Erziehung bildet die Wiederentdek- kung der eigenen nationalen Geschichte, die Rückeroberung der nationalen Vergangenheit — nachdem fast zwei Jahrzehnte lang linientreue Ideologen den Begriff des „Uriember“ im Magyarentum abgewertet und geschmälert haben. Tatsächlich aber gewinnt dieser Idealtyp des „Herrn“, des adelig und national gesinnten Magyaren, der auf Außenstehende immer ein wenig überschwenglich wirkt, gegenüber dem „sozialistischen Helden“ proletarisch-internationalistischen Zuschnitts tagtäglich an Boden. Noch quellen die ungarischen Geschichtsbücher für die Schuljugend über vor „Klassenkampf“, noch gilt zum Beispiel die Verketzerung Österreichs und besonders der Habsburger. Heute merkt man an der erwachsenden Jugend, daß die Eltern in den Jahren der Räkosi-Ära es einfach nicht wagen durften, ihren Kindern entwürdigende Geschichtslügen gegen, die eigene Nation richtiigzustel-. len.’ Das Streben nach Wahrheit und nüchternen-Tatsfuhen-ist gerade deshalb innerhalb der Jugend, besonders der Mittel- und Hochschulen, überaus rege. Uns ist der Fall bekannt, daß eine Gruppe Abiturienten gerade die verbotensten Schallplatten der NS-Ära und Stalin-Ära in Budapest, ausgerechnet in der Wohnung ihres Scbulkollegen abspielen ließen, weil sich dieser solche „Seitensprünge“ (als Sohn eines hohen KP-Funktionärs) am ehesten leisten konnte.

Schulische und politische Erziehung sind heute z. T. nicht mehr deckungsgleich. Daneben bildet das Drängen des Nachwuchses nach Budapest und zwei, drei Industriegroßstädten ein zusätzliches Problem für die Behörden und deren Berufslenkung. Niemand möchte in die Provinz. Alles in allem jedoch mutet man dieser nachgewachsenen und nachwachsenden Generation nicht entfernt jene Verzichtieistungen, Opfer und selbstkritischen Autodafés zu, wie sié bis zum ungarischen Oktober 1956 noch gang und gäbe waren. Weshalb? Die neue Jugend in Ungarn ist sehr sachlich und nüchtern geworden, besteht auf einem Mindestmaß an kleinbürgerlichem Lebensstandard, an rechtlicher und sozialer Sicherheit und alle großsprecherischen Verheißungen für ein fernes, vollkommenes Paradies auf Erden gleiten an dieser Jugend ab, wie Wasser in der Rohrleitung. Man hat der Jugend systematisch das Unterrichtsfach Religion entzogen oder verekelt. In Budapest und in den Industriezentren liegt die Zahl der zum Religionsunterricht angemeldeten Schüler seit Jahren unter zehn Prozent. Was ist denn an die Stelle der religiösen Unterweisung getreten? Jungarbeiter und Studenten Ungarns sind heute keineswegs ideologisiert, sondern weisen einfach ein Vakuum auf.

Die Organisationsformen der ungarischen Jugend und Jugendbewegung waren , nach 1944 einem sehr wechselvollen Geschick unterworfen. Bis zum Jahre der endgültigen Gleichschaltung, 1949, spielte die Kommunistische Jugend im engeren und ausgesprochenen Sinn keine wirklich bedeutende Rolle. Mehr noch als die Kommunistische Partei

Ungarns, mußten die Jungkommunisten mit nichtkommunistischen Jugendverbänden eine „antifaschistische“ Einiheitsorganisation zu bilden versuchen. Sozialdemokraten und Kleinlandwirte entwickelten zu nächst selbständige Jugendverbände. Die Kirchen Ungarns, besonders die katholische Kirche, hatten die Jahre der Levente-Erziehung und militärischen Ausbildung am besten überdauert. So verfügt die katholische Kirche über eine Organisation für die Bauernjugend (Katolikus Agrär- ifjusägi Legenyegyletek Orszägos Tanacsä, KALOT), die 1942 500.000 Mitglieder, 3500 Ortsgruppen und 18 Volkshochschulen aufwies. Die rund 12.000 Mitglieder des Kolping- Vereines rekrutierten sich hauptsächlich aus kleinbürgerlichen Kreisen, Der „Landesverein Katholischer Jünglinge“ (Katolikus Ifjak Orszägos Egyesülete, KIOE) zählte etwa 7000 Jungarbeiter und Gewerbeschüler zu seinen Mitgliedern. Die katholische Hochschuljugend wurde im Sankt- Emmerich-Kreis (Emericana) zusammengefaßt, dessen 47 Ortsgruppen insgesamt 10.000 Mitglieder zählten.

Die Jugendorganisationen der protestantischen Kirchen hatten nur bescheidenere Möglichkeiten; immerhin stellten die Jugendorganisationen der kalvinischen Kirche, der Christliche Jugendverein (Keresztyen Ifjusägi Egyesület, KIE), der Ungarische Evangelisch-Christliche Schülerverband (Magyar Evangeliumi Keresztyen Diäiszövetseg) und die Soli-Deo-Gloria-Bewegung einen gewissen Faktor im gesellschaftlichen und noch mehr im geistigen Leben des Landes dar. Die Konferenzen der protestantischen Jugend in Balatonszärszö zeigten deutliche Ansätze einer geistigen Erneuerung.

Gebremste Attacken

Nach 1945 wurden aber gerade im „harten Kern“ dieser Jugendorganisationen Züge der Erneuerung, der Opferbereitschaft, eines neuen geistig-religiösen Aufbruchs der Jugend sichtbar — in dem Maße, als die Jungkommunisten an den Hochschulen und in den studentischen Organisationen die „Salami“-Taktik Räkosis erfolgreich durchführten und mehr und mehr richtung- und ton- . angebend1 Wurden. bnu - 9 rt.tr!

Die Entwicklung der Jugendorganisationen in Ungarn seit 1945 weist mehrfache „Wegkehren“, Auflösungen kommunistischer Einheits-, Massen- oder Ausleseorganisationen auf, und zwar in weit höherem Maße, als in den benachbarten Volksdemokratien. Die Begründung für diese mehrfachen umbruchartigen Änderungen liegt wieder in den Ereignissen des Oktobers 1956, in der „Revolution der Zwölf- bis Vierzehnjährigen“. Man wird deshalb auch in den Gesprächen mit jungen Arbeitern, Studenten, Akademikern kaum irgendwo auf eine Emphase, eine wirkliche Begeisterung oder Erwartung im Blick auf die offizielle Jugendführung von heute, auf die erzieherischen und ethischen Qualitäten der Parteiorganisationen stoßen. Man wird in Budapest unter Umständen weniger scharfe Formulierungen gegen die „Bürokratie“ oder die „Stalinisten“ hören, wie vergleichsweise in Belgrad, Agram oder Prag. Seit fast zwei Jahren haben sich die russischen Freunde Ungarns wieder in das „Liberalisie- rungs“-Programm nach 1958 eingeschaltet. Die jungen Menschen wissen heute, wann und wohin ihre Kritik offen geäußert werden kann und wo und wieweit es einen Zweck hat, mit Attacken gegen „Deformationen“ aufzutreten.

Gewiß, diese Jugend ist gerade in Ungarn zum Teil recht illusionslos geworden. Doch Jugend bleibt Jugend. Es werden auch nicht die Berechnungen westlicher Experten entscheiden, ob, wann, wie und mit welch sofortigem Erfolg die neue Auslese, die neuen Kader dieser Jugend ihre verstärkte Mitsprache anmelden werden, denn innerhalb weniger Jahre wird es eine Alleinsprache sein, die für die machgewaeh- senen Führungsgenerationen gilt. Wer aber im besonderen die Jugend Ungarns kennt, weiß, daß die Selbstbestimmung, die Selbstbesinnung und das Wort dieser Jugend auch in Zukunft zuerst und zuletzt die eigene Nation, den eigenen Stamm, den eigenen Betrieb und das eigene Haus meinen wird. All das aber unter dem beherrschenden Vorzeichen, unter der Forderung der Freiheit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung