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Der Mensch und sein Nachbar

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In unserem Zeitalter der Massen, in dem die Individualität, wenn auch unfreiwillig und unbewußt, in den großen Kollektiven versinkt und der Mensch unter Preisgabe des Ichs das Gefühl einer oft nur scheinbaren Geborgenheit im „sozialen Wintermantel“ erwirbt, ist es notwendig, alles zu unternehmen, um den Menschen, namentlich den am meisten bedrohten Menschen in der Stadt, vor dem Aufsaugen durch den Sog der sozialen Großformation zu schützen. Der Pflege und Festigung der Familie gilt die Arbeit verschiedener Organisationen, die in den letzten Jahren erfreulicherweise zunehmend an Gewicht gewinnen. Eine Kleinformation, der aber nicht die erforderliche Pflege zuteil wird, ist die Nachbarschaftsgemeinschaft.

Da die einzelnen Glieder einer künftigen Nachbarschaftsgemeinschaft in der Regel keinen Einfluß auf die Zusammensetzung dieser Gemeinschaft haben, bleibt diese Zusammensetzung vielfach dem Zufall überlassen. Der Zufall ist manchmal gnädig — oft aber auch nicht I In der überwiegenden Mehrzahl wird gerade durch eine solche „Zwangsnachbarschaft“ der physischen Nähe der Hang zur Isolierung entstehen, die nur bei akuter Gefahr, und dann nur auf kurze Zeit, unterbrochen wird. All die positiven Nachbarschaftsbeziehungen: die freiwillig und unentgeltlich gewährte Arbeitshilfe irrt Krankheitsfalle, das Ausleihen von Gebrauchsgegenständen, die Teil- oder Anteilnahme an Familienereignissen (ohne Verletzung der Intimsphäre), kommen hier nicht zum Tragen.

Zur Ueberwindung der teils echten, teils künstlichen Wohnungsnot in Oesterreich werden jährlich zehntausende Wohnungen errichtet. Daß bei Stadtplanungen, ja selbst bei der Planung größerer und kleinerer Bauvorhaben neben Juristen, Technikern, Architekten und Verkehrsfachleuten auch Soziologen mitwirken sollten, erscheint als dringendstes Gebot unserer Zeit.

Im gro$en w'e irn kleinen sollte es Aufgabe “sein, “grundlegende Voraussetzungen zu schaf-fen, damit sich in den wieder- oder neu autgebauten Stadtteilen sowie auch in den Einzelprojekten nachbarschaftliche Konstellationen bilden können, die weitgehend an die soziale Wirklichkeit unserer Gesellschaft heranreichen. Kinderreiche und Kinderlose, Alte und Junge, Gesunde und Kranke, Witwen, Flüchtlinge, Invalide, Rentner u. a. m. — sie alle sind Teile unserer sozialen Wirklichkeit. In einem größeren Siedlungs- bzw. Wohnungsverband sollten Angehörige womöglich vieler sozialer und beruflicher Gruppen sowie aller Altersstufen vertreten sein. Nur so kann der Mensch, vor allem das heranwachsende Kind, an die Wirklichkeit herangeführt werden, nur so können ihm Einblicke und Eindrücke vermittelt werden, die zum Verständnis für Lebensprobleme von Menschen anderer Gruppen führen. Es wird hierbei sicher nie gelingen, vollkommen befriedigende Lösungen zu finden, doch sollte es zur Aufgabe werden, Lösungen zu erreichen, die an die Vollkommenheit möglichst nahe herankommen.

Die Entwicklung verläuft derzeit in entgegengesetzter Richtung. Aus Gründen bequemerer Organisation und Finanzierung, nicht zuletzt auch aus dem Streben heraus, für Angehörige der eigenen Organisation „etwas zu tun“ (wobei die Produktion von Wohnungen als Mangelware auch politisch interessant ist), werden heute in Oesterreich für alle nur denkbaren „g e-schlossenen“ Gruppen Wohnungen gebaut: für Beamte, Kriegsopfer und Postbedienstete; für Kinderreiche, Pensionisten und Südtiroler; für Bahnbedienstete, Flüchtlinge und Junggesellen; für Lehrer, Krankenschwestern und Freischaffende u. a. m. So löblich und uneigennützig die Absicht sein mag: die Beziehung zur sozialen Wirklichkeit wird verlorengehen oder gar nicht entstehen, darüber hinaus besteht die Gefahr bei Angehörigen gleicher Berufe oder Betriebe, daß sich persönliche Differenzen (der Frauen und Kinder) nur allzu leicht auf die berufliche Sphäre übertragen und umgekehrt.

Eine Organisation, die sich die Familienförderung zum Ziele setzte, hat jahrelang um die Finanzierung eines Reihenhausbauvorhabens gekämpft. 1960 werden zehn Häuser beziehbar sein — für Familien mit mindestens vier Kindern. Nimmt man einen Durchschnitt von fünf Kindern pro Familie an, so wird das Objekt demnächst 50 (1) Kinder beherbergen; dabei mißt jede Grundparzelle keine 200 Quadratmeter, nördlich und südlich vom Hause sind weitere Reihenhäuser, östlich eine Wiese („Betreten verboten!“), westlich eine Verkehrsstraße. Kinderspielplatz gibt es in der Nähe keinen. — Eine Landesorganisation des Kriegsopferverbandes hat kürzlich das dritte Wohnhaus für ihre Mitglieder errichtet. Die Haushaltsvorstände sind durchweg Schwerkriegsversehrte und Witwen.

In all diesen und ähnlichen Fällen wird eine physische und geistige Ghettobildung erreicht, die um so intensiver wird, je größer die Zahl der Wohnungen mit in jeder Hinsicht wenig differenzierter Bewohnerschaft ist.

Die Einrichtung der Altersheime ist noch nicht alt; sie fällt mit dem inneren Zerfall der Großfamilie, der Sippe, zusammen. Während früher der kinderlose alte Mensch, wenn er vermögenslos war, bei seinem Dienstherrn Brot und Obdach bis zu seinem Lebensende fand, wird er heute — selbst wenn er Kinder hat — häufig ins Altersheim geschickt.

Das Altersheim hat seinen „Siegeszug“ aus der Stadt aufs Land unternommen; heute gibt es Altersheime zumindest in jeder Marktgemeinde. Sie sind dort eine nützliche Einrichtung, wo sie für die Aufnahme hilfloser und daher pflegebedürftiger Menschen gedacht sind. Weniger begrüßenswert sind sie, wo es sich um permanente Wohnheime mit Anstaltscharakter für gesunde alte Menschen, ja für ältere Ehepaare handelt. Wenn auch die Altersheime von heute häufig mit arbeitstherapeutischen Einrichtungen, Unterhaltungsmöglichkeiten, Einbettzimmern ausgestattet sind und zum Beispiel mit jenen von der Jahrhundertwende in der Regel nicht verglichen werden können, weisen sie jedoch jene notwendige Einschränkung der Freiheit auf, die gerade in-den höheren Lebensjahrzehnten schmerzlich empfunden wird.

An Stelle dieser „Vorzimmer zum Tode“ scheint eine Lösung für alleinstehende oder stehengelassene alte Menschen etwa im Bau von kleinen, ebenerdigen Reihenhäusern zu liegen, die, in kleinen Gruppen bis etwa sechs Einheiten zusammengefaßt, i n unmittelbarer Nähe von Familienwohnungen liegen müßten, damit das von der Natur zerstörte Großeltern-Enkel-Verhältnis wieder entstehen kann. Das Mindestalter für die Aufnahme in einer solchen „Alterssiedlung“ müßte auf etwa 55 Jahre herabgesetzt werden, damit dem älteren Menschen Zeit zum „Einleben“ bleibt. Wichtig erscheint, daß hierbei kein Eigentum begründet wird, da die Häuser sonst binnen kurzer Zeit zweckentfremdet wären.

Abzulehnen sind auch „Heime“ mit permanentem Wohncharakter, die da und dort für Angehörige mancher Berufsgruppen entstehen: für (weltliche) Krankenschwestern, für ledige Angehörige eines Betriebes usw.

Die zum guten Teil künstliche Wohnungsnot in Oesterreich, durch längst überholte gesetzliche Bestimmungen aufrechterhalten, ist die Ursache, daß — wie in allen Fällen einer im Vergleich zum Angebot übersteigerten Nachfrage — im sozialen Wohnungsbau nicht mehr auf die Bedürfnisse der Wohnungssuchenden Bedacht genommen wird. Eine Bau- und Wohnberatung halböffentlichen Charakters, die in Vorträgen, Filmen, Ausstellungen und Schriften nicht nur technische und finanzielle Hinweise bietet, sondern dem „kleinen Mann“ auch den in jeder Hinsicht differenzierten Wohnungsmarkt überschaubar macht, scheint ein dringendes Erfordernis zu sein. Eine solche Beratung müßte ohne kommerzielles Interesse betrieben werden, damit der Wohnungsinteressent seine Entscheidungen ohne Druck treffen kann. Die Bauberatung könnte sich auch zu einem Ort der „Gruppenbildung“ entwickeln, an dem sich Wohnungssuchende mit gleichen Interessen treffen, ihre Wünsche koordinieren, um über einen sozialen Wohnbauträger ein Haus oder eine Wohnung „nach Maß“ zu bestellen.

Das in Oesterreich bestehende „Bauzentrum“ sowie die „Forschungsgesellschaft für den Wohnungsbau“, beide in Wien, letztere mit Zweigvereinen in den Bundesländern, stellen hier vielversprechende Versuche dar.

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