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Der Neuaufbau der österreichischen Rechtspflege

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„Alles Recht hat der Verwirklichung der ewigen Idee der Gerechtigkeit zu dienen.“ Dieser Satz, den schon Aristoteles ausgesprochen hat, sollte in die Verfassung jedes Rechtsstaates aufgenommen werden. An ihm könnte die Richtigkeit jeder gesetzlichen Maßnahme leicht überprüft werden durch die bloße Stellung der Frage: Führt uns auch diese neue Norm einen Schritt weiter zur Gerechtigkeit?

Dabei ist diese Fragestellung keineswegs etwa bloß auf das Gebiet des materiellen Rechts zu beschränken. Auch die Institutionen des formellen Rechts, das Prozeßrecht wie auch die Gerichtsorganisation dienen letzten Endes keinem anderen Zwecke als der Verwirklichung des Gerechtigkeitsgedankens, soweit ein solches Ziel bei der Unzulänglichkeit menschlicher Einrichtungen überhaupt erreichbar ist.

Wenn darum im heutigen Österreich der Gedanke einer Gerichtsorganisationsreform zur Diskussion gestellt wird, so kann diese Frage richtigerweise auch nur unter dem Gesichtspunkt geprüft werden, 9b die vorgeschlagenen Reformen in höherem Maße als die bisherigen Einrichtungen geeignet sind, die Rechtspflege zu fördern und den Gerechtigkeitsgedanken zu verwirklichen. ,

Es ist unbedingt daran festzuhalten, daß dieser Gesichtspunkt die weitaus entscheidende Rolle in der Reformfrage spielt und daß hinter ihm alle anderen Nützlichkeitserwägungen und insbesondere das Moment einer Ver-billigung der Rechtspflege zurücktreten müssen. Denn es würde auch einem armen Lande teuer zu stehen kommen, wenn es auf die Verwirklichung der Gerechtigkeit eines billigeren Gerichtsapparates wegen verzichtete! , Nun aber zur geplanten Reform selbst!

Soweit bisher Reformpläne bekannt geworden sind, steht im Mittelpunkt der Reform der Gedanke der Schaffung des so- 1 genannten „Großen Bezirksgerichts“. Die heutigen kleinen Bezirksgerichte sollen zu einem großen Gericht am Sitz der Bezirkshauptmannschaft zusammengelegt werden, dem neben den bisherigen Aufgaben des Bezirksgerichts auch noch die Einzelrichterpro-zesse des Gerichtshofes erster Instanz zuzuweisen wären. Dagegen würde es in Hinkunft in jedem Bundesland nur einen einzigen Gerichtshof erster Instanz in der Landeshauptstadt geben, welcher die großen Handelsprozesse und Schwurgerichtsprozesse durchzuführen hätte und zugleich Rechtsmittelinstanz für die großen Bezirksgerichte wäre; schließlich hätte dieser sogenannte Landesgerichtshof auch die Justizverwaltung für das betreffende Bundesland zu führen, wodurch die bisherigen Ober 1 andesgerichte überflüssig würden und nur noch der Oberste Gerichtshof als Hüter der Rechtseinheit für das ganze Bundesgebiet übrig bliebe.

Als Vorteile dieser Reform werden in erster Linie eine bessere Ausnützung der Arbeitskräfte der Richter und Justizbeamten, die Möglichkeit der Schaffung angemessener und zeitgemäßer Gefangenenhäuser und eine außerordentliche Verminderung des Aktenlaufs und Beschleunigung der ganzen Justizmaschine ins Treffen geführt.

Wenn man von diesen angeblichen Vorteilen einer gesteigerten Rationalisierung des Gerichtsapparates hört, kann man sich kaum der Furcht erwehren, daß hier wieder einmal der Mechanismus den Sieg über das Leben davontragen soll. Haben wir Österreicher nicht schon genug von preußischer Organisationswut erdulden müssen? Soll der im 19. Jahrhundert begonnene Irrweg der allgemeinen Mechanisierung und Technisierung noch weitergegangen und auch noch die letzten Spuren echten Lebens vernichtet werden?

Mit Recht hat bereits eine berufene Stimme auf die ernste Gefahr hingewiesen, daß durdi die Schaffung der ortsfernen „Großen Bezirksgerichte“ jenes Vertrauensverhältnis zerstört würde, das heute noch am Lande zwischen den Richtern und den Bewohnern ihres Sprengeis besteht. Es haben ja die Richter dieser Gerichte einen hervorragenden Einblick in die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ihres Bezirkes, so daß sie weitaus leichter als ein ortsfremder Richter in der Lage sind, durch ihr persönliches Ansehen manche Streitigkeiten zu schlichten und mit ihrem Rate manche wichtige Hilfe zu leisten. Hier handelt es sich um eine alte eingelebte Tradition. Die Richter wirken hier vielfach nodi als die Erben der einstigen patrimonialen Gewalten. Hier gilt noch der Grundsatz „Schlichten ist besser als richten“ und die sogenannte „V e r-trauenskrise der Justi z“, welche in Deutschland so schwere Beunruhigung er-2ugte, konnte bei uns in Österreich vielleicht gerade deshalb keinen Boden gewinnen, weil sich unsere Richterschaft durch die Gerichtsbarkeit in den ländlichen Bezirken unseres Staates noch ein ungeschmälertes Ansehen erhalten hatte.

Niemals würde die Landbevölkerung einen mechanisierten Justizbetrieb verstehen wie er sich an unseren stark überlasteten städtischen Gerichten leider nur zu sehr ausgebildet hat; die „Rechtsmaschine am laufenden Band“ mag vielleicht als Notlösung in der technisierten Umwelt der Großstadt schlecht und recht ihre Aufgabe erfüllen; sie würde jedoch bei der Landbevölkerung., mit Recht auf volles Unverständnis stoßen, da diese niemals dem hastenden Tempo eines solchen bürokratisierten „Großen Bezirksgerichtes“ gewachsen wäre und in ihrem Vertrauen auf die Güte der Rechtsprechung schwer erschüttert würde.

Die richterliche Tätigkeit erfordert ihrem ganzen Wesen nach ein gewisses Mindestmaß an Zeitaufwand und Ruhe. Denn „richten“ heißt soviel wie „zurechtmachen, ordnen“; zu solcher Ordnung ist aber unbedingt eine innere Sammlung nötig, welche bei dem Schablonenbetrieb großer Gerichte niemals gewonnen werden kann. Man darf nicht vergessen, daß in der Rechtsprechung weitaus mehr als im Verwaltungsverfahren ein besonderes Eingehen auf den Einzelfall erforderlich ist und daß bloß langjährig erfahrene Richter über die erforderliche Routine verfügen, um in rascher Arbeit auch eine Fülle von Fällen richtig zu entscheiden. Diese Gewandtheit erwarben sjch jedoch diese Richter meist erst nach einer längeren Praxis an ländlichen Gerichten, welche als beste Vorschule für die richterliche Tätigkeit in der Großstadt allgemein anerkannt wurde. Wenn nun die Richter schon von allem Anfang an in den nerven verbrauchenden Betrieb eines großen Gerichtes eingesetzt werden, würden sie nie die nötige Ruhe und Sammlung erwerben, welche zur Fassung eines richtigen Urteils unumgänglich erforderlich ist. Denn nur der erfahrene Meister kann auch eine Fülle von Arbeit meisterlich schaffen, in der Hand 'des Jüngers müßte solche Massenarbeit zwangsläufig zur Schablone werden.

Die geplante Neuordnung der Gerichtsorganisation würde daher weder für die Richter noch auch für die durch die Reform betroffene Bevölkerung einen Segen bedeuten. Was wohl nicht besonders verwunderlich ist, wenn man bedenkt, daß hier wieder einmal der Versuch gemacht wird, eine wichtige Frage unseres Lebens bloß von der Organisation her, also vom rein Mechanischen aus zu lösen.

Nun unterliegt es keinem Zweifel, daß bei dem heutigen Richtermangel die österreichische Richterschaft stark überlastet ist, worunter die Güte der Rechtsprechung selbstverständlich leidet. Eine Abhilfe dieses Übels kann jedoch wirksam nicht durch eine in ihrer Auswirkung höchst zweifelhafte Umorganisation der Gerichte, sondern lediglich dadurch geschaffen werden, daß jene Arbeiten den Richtern abgenommen werden, die auch in anderen Staaten mit Erfolg von Nicht-richtern besorgt werden. So kann zum Beispiel ohne jeden Schaden für die Allgemeinheit eine Reihe geringfügiger Übertretungen (Ehrenbeleidigungen, Gefährdüngen der körperlichen Sicherheit, Entwendungen usw.) aus dem Strafgesetzbuch ausgeschieden und den Polizeibehörden zur Aburteilung zugewiesen werden. Auch könnten Bagatellstreitigkeiten — wie dies zum Beispiel in Württemberg und Baden der Fall ist — durch Gemeindebeamte geschlichtet werden, die in kleineren Verhältnissen meist einen weitaus wirksameren Einfluß auf die ihnen persönlich bekannten Streitteile ausüben können als ein ortsfremder Richter. Schließlich wird es sicherlich auch möglich sein, daß eine Reihe mehr formaler Erledigungen den Richtern entzogen und den Justizfachbeamten zugewiesen werden.

Durch eine derartige sachliche Reform würden die Richter wesentlich entlastet und für die eigentliche richterliche Tätigkeit frei werden. Dabei handelte es sich nicht nur um eine rein mechanische Regelung, eine bloße Rationalisierung, welche uns die Antwort auf die Kernfrage des Rechts, das ist die Verwirklichung der Gerechtigkeit, schuldig bliebe. Hier würde vielmehr das Übel der Überlastung der Gerichte an den Wurzeln selbst bekämpft und eine Lösung gefunden werden, die nicht zuletzt dazu führen soll, daß der österreichische Richter wieder frei werde für seine Hauptaufgabe: Diener der Gerechtigkeit zu sein!

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