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Der paradoxe „2. Zug

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Allgemein wird der Widerspruch erkannt, der in der Zielsetzung und in der Praktizierung der Hauptschulbildung liegt. Das Hauptschulgesetz erteilt der Hauptschule den Auftrag, eine über das Maß der Volksschule hinausreichende Bildung zu vermitteln. Zugleich aber wird ihr in der Praxis die Aufgabe der Volksschuloberstufe übertragen. In größeren Orten und Städten wurde die Volksschuloberstufe in der Tat von der Hauptschule absorbiert, so, daß dort alle Schüler nach der 4. Volksschulstufe in die nächstgelegene Hauptschule kommen. Nur in verkehrstechnisch entlegenen Orten existiert die Volksschuloberstufe noch und man versucht dort, durch Zusammenziehungen den Abteilungsunterricht zu vermindern und dem Hauptschulziel nahezukommen. Über die Notwendigkeit der Hauptschule besteht heute kein Zweifel mehr. Daher ist man bemüht, das Hauptschulnetz so dicht wie nur möglich zu gestalten. Das Bedürfnis nach umfangreicher, den wachsenden Problemen auf allen Lebensgebieten unserer Zeit entsprechender höheren Ausbildung einer möglichst breiten Volksschichte ist gegenwärtig größer als vor etwa 30 Jahren. Außerdem wurde auch die berufliche Fortbildungsschule besser ausgebaut, und sie braucht eine tragfähige Basis, um zum Ziele zu gelangen. Wirtschaft und Industrie brauchen dringend gut geschultes Personal.

Bildung, Belehrung und Schulung sind aber an ganz bestimmte psychologische Voraussetzungen gebunden. Ohne formale Fähigkeiten, zum Beispiel in Mathematik, in Sprache, besonders in Fremdsprachen, im graphischen Ausdruck usw., und bei zerebral bedingten Störungen der Schüler, kann kein Gesetz und kein Lehrer im normalen Unterrichtsbetrieb einen Unterrichtserfolg erzwingen. Die pädagogische Situation hat sich seit den letzten 30 Jahren leider verschlechtert. An dieser betrüblichen Wirklichkeit redet man gerne vorbei. Skizzieren wir die Ursachen kurz, die diese Wendung zum Schlechteren verschuldeten: die großen De-maskierungen in den Massenansärnmluhgen des Militärs, in Hüchtlingslagern und in der Gefangenschaft. Sie führten zürn • allmählichen Schwund der seelischen Schranken, zum Verlust der Moral und somit zur Verwahrlosung eines erheblichen Teiles der Schuljugend. Bestimmt hat auch der Einsatz der Mütter in der Wirtschaft statt in der Familie diesen erschreckenden Prozeß vorangetrieben. Dazu kommt noch ein sich ausbreitender technischer Wunderglaube, der zunehmend die Ansicht verbreitet, alles ist oder wird erklärbar, alles muß kritisch betrachtet werden. Dadurch wird der religiöse Raum immer mehr eingeengt, und die Folge ist ein ungeahnter Autoritätssturz, Distanzlosigkeit und Pietätlosigkeit bei der Jugend. Im Unterrichtsgeschehen wirkt sich diese Tatsache in Form von Disziplinschwierigkeiten sehr nachteilig aus. Unsere Lehrpersonen werden in der Schule zusätzlich mit erziehlichen Problemen belastet. Unsere Schulen sind nicht mehr wie einst nur Stätten des Unterrichts und nur im sauberen und vorbildlichen Arbeiten nebenbei auch erziehliche Institutionen. Wenn von 165 untersuchten Schulpflichtigen in der pädagogisch-psychologischen Beratungsstelle 8.3 kriminelle sind, dann kennzeichnet das diese Situation ausreichend! Teder Lehrer hat neben seiner Vermittlung des'Lehrgutes zugleich auch den schmerzlichen Ausfall auf dem Gebiete der sozialisierenden Erziehung, den unsere defekten Familien und andere Umstände verursachen, einigermaßen auszugleichen.

Kurzum: Höhere Bildung setzt auch höhere psychische Fähigkeiten voraus! Wie steht es um diese Fähigkeiten unserer Hauptschüler? Aus einer fünfjährigen Erfahrung im pädagogischpsychologischen Dienst läßt sich folgendes aussagen: Der Übertritt in die Hauptschule geschieht in größeren Orten und Städten en bloc. Allenfalls ohne psychologische Reifeuntersuchung. Wozu auch? Die Volksschule endet mit der 4. Stufe. Sie gibt ihre Abgänger weiter in das Gymnasium und den Rest in die „Oberstufe“, in die nächste Hauptschule. Auf diese Weise bekommt die Hauptschule alle Grade an Lern- und Verhaltensschwierigen. Da ist zunächst die beachtliche Zahl der „Legastheni-ker“. Sie sind nicht unintelligent, aber sie haben eine deutliche, zerebral bedingte Lese-und oft auch Rechtschreibstörung. Nur eine spezielle Methode und viel Zeit zum Nachreifen verbürgen bei der Legasthenie Lernerfolge! In einigen hochgradigen Fällen ist bei diesen Schülern die Berufsbahn beeinträchtigt. Nicht wenige gehören der Gruppe der Entwicklungsrückständigen an. Sie haben keinen echten Intelligenzdefekt, jedoch es fehlt ihnen ein Jahr und mehr an Reifemöglichkeit. Weniger, aber in der zentral gelegenen Hauptschule ungemein störend sind die Schüler mit wirklichen Defekten. Sie werden als solche weder von den Eltern noch von den Lehrern immer erkannt. Hierher gehören alle traumatischen Gehirndefekte (Geburtstraumen, Unfälle, Stürze u. a.), die Postenzephalitiker nach Kinderkrankheiten, die embryonalen Schädigungen, die Epileptiker, die endogenen und psychogenen Störungen (Neurotiker, hysterische Eretiker • u. a.). Vergessen wir nicht die wachsende Zahl der Verwahrlosungen mit ihren Charakterstörungen: Lernverwahrlosung, Luxusverwahrlosung und so weiter. Sie zeigen oft die gleichen Symptome wie Gehirndefekte. Alle diese Störungen haben oft das gemeinsame Symptom der motorischen Unruhe, der Aggression u. a., und sind die „Sargnägel“ des Lehrers. Wenn nur drei, vier solcher gestörter Schüler in einer Klasse sind, ist der Lernbetrieb aufreibend und schier unerträglich. Dabei kann nicht gesagt werden, daß sie einen schlechten Intelligenzquotienten haben müssen. Fügen wir dem noch die allgemein beklagten Konzentrationsstörungen bei einem sehr erheblichen Teil unserer Schüler hinzu, dann haben wir die Schüler der Hauptschule — konzentriert: die Schüler des 2. Klassenzuges.

Halten wir fest: Formale Fähigkeiten und körperliche Gesundheit des Schülers verbürgen noch keinen Lernerfolg! Zu den notwendigen psychologischen Fähigkeiten müssen noch charakterliche Qualitäten treten. Ohne die Arbeitstugenden Ausdauer, zielgerechter Fleiß, ohne Sinn für Ordnung, ohne Interesse und ohne einen Schuß Ehrgeiz sind keine größeren Leistungen zu erwarten. In der Schule ist außerdem auch ein ausreichend entwickelter Sinn für Autorität und Disziplin (siehe Betragennote!) notwendig. Alles Charakterzüge, die nicht e'fst in der Schule, sondern von der wertgerichteten Familie am Tage der Geburt des Schülers grundgelegt und bis zum Schulaustritt gehegt und gepflegt werden müssen, wenn sie in der Schule wirksam sein sollen. Was unsere zerrütteten und geschäftigen Familien auf diesem Gebiete versäumen — leichtfertig oder wider besseres Wissen —, das kann die schulische Nacherziehung nicht mehr in jedem Falle nachholen. Die fruchtbarste Zeit liegt nämlich im vorschulpflichtigen Alter! An der Hauptschule wirken bis zu 50 Prozent Volksschullehrer, die nicht alle freiwillig dort wirken. Das ist auch nicht gerade ein Anreiz zur Entfachung der im Schulbetrieb notwendigen Ambition.

Das ist die wahre Situation der heutigen Hauptschule. Und nun los, Herr „Fachlehrer“! Vermitteln Sie eine über das Maß der Volksschule hinausreichende Bildung, wie das Gesetz es befiehlt und wie sie unsere Wirtschaft braucht und daher fordert. Sie werden inspiziert und von Industrie und Wirtschafttreibenden wider bessere Einsicht auch kritisiert!

Eine Lösung dieses Problems kann nur in der Differenzierung der Schüler liegen. Der erste Schritt zur Lösung ist aber die Einführung der 5. Volksschulstufe. Dadurch wäre die Gruppe der Entwicklungsrückständigen sofort erträglich reduziert. Beklagte Schwierigkeiten mit dem Fachlehrersystem wären ebenfalls beseitigt, weil die ganze Klasse um ein Jahr reifer wäre. Auch den in das Gymnasium eintretenden Schülern käme die 5. Stufe zugute. Ein zweiter Schritt läge in der Erstellung eines eigenen Lehrplanes für die Schüler des heutigen 2. Klassenzuges bzw. für alle Schüler, die eine eigene Ausbildung brauchen. Die Starre des einen Lehrplanes der Hauptschule ist ungerecht und verhindert geradezu eine bessere Ausbildung der Schüler mit ihren immerhin behebbaren Schwierigkeiten. In der Psychologie gilt der Begriff „praktischer Intelligenz“ als gesicherte Tatsache. Wenn wir also von „praktischer Intelligenz“ sprechen, dann räsoniert keinerlei politische oder gar weltanschauliche Tendenz mit. Es soll damit lediglich eine feststellbare Eigenheit eines Schülers (auch Erwachsenen) ausgedrückt werden. Die Einteilung der Schüler in eine „Praktische Abteilung“ und „Theoretische Abteilung“ entspräche darum der Absicht der Abteilung und drückte zugleich aus, in welcher Richtung der Schüler gefördert werden soll und

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