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Der schlechte Schulerfolg

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Mit der Einführung des neunten Schuljahres mehren sich wieder die Hinweise auf die „schlechten Schulerfolge“ der Volks-, Haupt- und Sonderschulen.

Der Schulerfolg, wie wir ihn hier verstehen, ist gegeben, wenn der Schüler das Abschlußzeugnis der Volks- oder Hauptschule erworben hat. Darüber gibt es hinreichendes statistisches Material für die Volks-, Haupt- und Sonderschulen, das unter anderem erkennen läßt, daß dieses Abschlußzeugnis (Austritt aus der achten Schulstufe der Volks- oder Sonderschule bzw. vierten Haupt- schulklasse) zum Schulschluß 1964 rund 70 Prozent, 1955 bei 64 Prozent und vor 1938 nicht einmal 50 Prozent erreichten. Der Prozentsatz der Schulentlassungen mit einem Entlassungszeugnis, das die Erwerbung der notwendigsten Mindestkenntnisse im Sinne des Reichsvolksschulgesetzes bescheinigte, war immer wesentlich höher, aber es wurde ja auch ein Ausgang aus niedrigeren Schulstufen zuerkannt.

Ein Maß für den Schulerfolg ist auch die Höhe des Repetentenprozentsatzes. Er liegt im Durchschnitt unter sechs Prozent, betrug um 1950 noch sieben Prozent und 1937 gar neun Prozent. Am Ende des 19. Jahrhunderts wies Wien rund 20 Prozent aus gegen zur Zeit vier Prozent. Es steht also eindeutig fest, daß der Schulerfolg im allgemeinbildenden Pflichtschulwesen wesentlich besser geworden ist.

Bei den bisherigen Überlegungen wurde noch gar nicht berücksichtigt, daß in den letzten Jahrzehnten eine starke Veränderung der Typenproportion eingetreten ist. Unter Typenproportion wird die Verteilung der Schüler auf die fünfte bis achte Schuilstufe (erste bis vierte Klasse der Hauptschulen 'bzw. allgemeinbildenden höheren Schulen) verstanden. Von den Zehn- bis Vierzehnjährigen besuchen zur Zeit etwa 33 Prozent die Volks- oder Sonderschuloberstufen, 52 Prozent die Hauptschulen und 15 Prozent die Unterstufe der allgemeinbildenden höheren Schulen. Vor etwa dreißig Jahren lautete die Verteilung etwa 51 — 40 — 9 und vor zirka sechzig Jahren etwa 75 — 21 — 4. Immer mehr Schüler streben also Schulen zu, die eine größere Bildungshöhe 'bzw. erweiterte Lehraufgaben haben. Der Schulerfolg ist somit nicht nur quantitativ, sondern nicht minder qualitativ beachtlich verbessert worden.

Und trotzdem ...

Man fragt sich, warum trotz dieser ganz eindeutigen Ergebnisse die Klagen über den Schulerfolg nicht verstummen. Zunächst wird man — was die unmittelbaren Eintritte in die Wirtschaft anlangt — beachten müssen, daß rund ein Drittel jedes Schülerjahrgangs in mittlere oder höhere Schulen Übertritt bzw. weitergeht, und man darf noch annehmen, daß sich unter ihnen die große Mehrheit der guten Rechtschreibund Rechenleistungen befindet. Dagegen rücken in die Lehrlingsberufe immer mehr jene Schülergruppen ein. ebenfalls etwa ein Drittel eines Schülerjahrganges, die ein Abschlußzeugnis der bisher besuchten Schule nicht erlangten, also mehr oder .minder große Ausbildungsmängel haben. Diese Tendenz wird in Zeiten der Konjunktur verstärkt, wie sich aus dem starken Absinken der Schülergruppe zeigt, die in einem freiwilligen neunten Schuljahr noch das Abschlußzeugnis der Volks-, Haupt- oder Sonderschule zu erwerben sucht.

Man will es offenbar noch immer nicht zur Kenntnis nehmen, daß eine umfassende Änderung im Zugang zu Beruf und weiterführenden Schulen eingetreten ist, die eine Revision der landläufigen Vorstellungen von der Spannweite der Einsatzfähigkeit der Berufswerber erforderlich macht. In früheren Jahrzehnten — und je früher desto mehr — konnte man annehmen, daß der Mitarbeiter über sein mitgebrachtes Zeugnis hinaus verwendungsfähig ist, da es häufig genug so war, daß ihm eine Schule mit größerer Bildungshöhe nicht erreichbar war. Heute aber ist zum Beispiel ein Handelsschüler nur mehr im Ausnahmsfall ein verhinderter Handelsakademiker und ein Handelsakademiker ein verhinderter Diplomkaufmann. Das gilt auch für die sonstigen Ausbildungswege. Die Zahl der Abgänger, die auch eine höhere Schule bewältigt hätten, eine solche aber nicht besuchen, wird immer kleiner und gleiches gilt auch für die Volksschulen in bezug auf die Hauptschulen. Wäre es bei der seinerzeitigen Gepflogenheit der rigorosen Schülerauslese auf die für die Schulart besonders Geeigneten geblieben, hätte es schon längst größere Nachwuchsschwierigkeiten geben müssen.

Ein Teufelskreis

Nun zeigen die Ermittlungen des OEODiProjektes Schulplanung und Wirtschaftswachstum einen gewaltigen Bedarf an Maturanten und Akademikern — schon in nächster Zukunft. Wollte man in den bisherigen Gewohnheiten der Begabungsausschöpfung forfcfahren, müßte es, vergröbert dargestellt, bald zu dem folgenden Zustand kommen: Aus dem Begabungsreservoir der Zehn- beziehungsweise Vierzehnjährigen müssen so viele Schüler einströmen, daß unter Beibehaltung des derzeitigen Ausleseprozentsatzes (zirka 50 Prozent der Schüler der ersten Klasse bzw. 70 Prozent der fünften Klasse der allgemeinlbildenden höheren Schulen kommen zur Reifeprüfung, nur höchstens 50 Prozent der Studierenden des ersten Semesters der Hochschulen kommen zum Studienabschluß) genügend Akademiker und Maturanten hervorgehen. Aus dem „Abfall“ der Hochschulen wären dann die Maturantenberufe (einschließlich der Pflichtschullehrer), aus dem „Abfall“ der höheren Schulen die Schüler der mittleren Schulen zu decken usw. Es läßt sich denken, wie groß da der Eintritt in die höheren Schulen sein müßte (nicht 15 Prozent wie jetzt, sondern etwa 50 Prozent) und zu welchen Auswirkungen dies für die Lehrlings- und Anlernberufe führen müßte. Schon jetzt erhalten verschiedene Berufssparten zu 50 und mehr Prozent Lehrlinge nur noch aus den allgemeinen Sonderschulen — und werden doch besser, zum Teil weitaus besser bezahlt als die Abgänger aus mittleren und höheren Schulen, ja sie weiden immer mehr zu Mangelberufen und müssen auch dementsprechend entlohnt werden. Wenn nicht eine völlig unhaltbare Lage entstehen soll, muß eine geordnete Begabungslenkung und eine intensive und nicht nur extensive Begalbungsnützung einsetzen.

Eine weitere Verbesserung der Schulleistungen ist die dringendste Aufgabe aller Schulen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Und zwar hat sich jede Schulart in ihrem eigenen Bereich um eine solche Leistungssteigerung mit dem Ziel zu 'bemühen, möglichst viele Schüler zum Abschluß ihrer höchsten Aus- biidungsstuife zu bringen. Niemand sollte erwarten, daß (über einen gewissen Prozentsatz hinaus) Aus- weichformen für solche Kunststücke geschaffen wären. Vor allem müßte man sich von der Ansicht frei machen, daß die allgemeinbildenden Schulen darin Wunder wirken könnten.

Das neunte Schuljahr

Im Bereich der allgemeinbildenden Pflichtschulen kann nur noch über das neunte Schuljahr eine größere Verbesserung der Schulleistungen erzielt werden. Es dient zunächst weder der Vorbereitung auf die mittleren und höheren berufsbildenden Schulen noch der Erleichterung des Zweiten Bildungsweges. Wenn hierfür im neunten Schuljahr Versäumtes nachzuholen ist, wird der Weiterbesuch der bisher besuchten Schule beziehungsweise an deren Ende eine Extemistenprüfung zu empfehlen sein. Der Polytechnische Lehrgang hat vor allem jene Schüler zu fördern (weitgehend mit dem Abschlußzeugnis einer Volks-, Haupt- oder Sonderschule), die nicht in weiterführende Schulen eintreten, die also Lehrlings- 'beziehungsweise Anlernberufe anstreben. Das Schulorganisationsgesetz — und in dessen Ausführung der Lehrplan — sieht daher für die Polytechnischen Lehrgänge eine Festigung und nicht eine Erweiterung der Grundbildung vor. Diese Festigung wird in möglichster Annäherung und Anhehung der Bildungähöhe der Schüler der einzelnen bisher besuchten Schularten erfolgen. Ein solches Bestreben findet seine Grenze an der individuellen Leistungsfähigkeit beziehungsweise Schultüchtigkeit.

Jede weitere Leistungssteigerung jenseits der Schulzeitverlängerung setzt eine weitere Verbesserung der äußeren und inneren Arbeitsbedingungen der Schulen beziehungsweise Schulklassen voraus. Eine Analyse der bewußt gesteuerten Veränderungen der Schul- und Klassensituationen in den fünfziger Jahren läßt die folgenden Maßnahmen als besonders wirkungsvoll erscheinen:

• die Verbesserung der Schulorganisation, wozu insbesondere zählen: die Verminderung der Schulstufen in den Klassen in der Richtung auf ein- oder zweistufige Klassen; die Ausdehnung des Hauptschulnetzes mit dem Ziel eines Aneinander- grenzens der Pflichtsprenged und der Führung beider Klassenzüge; die Ausdehnung des Sonderschulwesens in der Form von Internatsschulen für die selteneren Formen und von Kleinsprengelschulen der Allgemeinen Sonderschulen beziehungsweise Klassen, und zwar in Verbindung mit einer wünschenswerten Früherfassung der sonderschulbedürf- tigen Kinder; und die Errichtung der Anbauvolksischülen im erforderlichen Umfang;

• die Herabsetzung der Klassen- schülerzahlen auf die im Schulorganisationsgesetz vorgesehenen Größen; dabei sollte eine differenzierte Klassenschülerzahl für notwendige zwei- und mehrstufige Volksschuiklassen im Interesse der ländlichen Gebiete nochmals ernstlich erwogen werden;

• sind auch zeitgemäßer Schulbau, zweckmäßige Schuleinrichtung und hinreichende Schulausstattung zu berücksichtigen;

• eine Verbesserung der Schulbahnberatung in Zusammenarbeit mit dem Pädagogisch-psychologischen Dienst, insbesondere zur Sicherung eines guten Schulstarts (Schulreifeuntersuchungen, Zurückstellung vom Schulbesuch, Früherfassung von Sonderschülem), zur richtigen Abschätzung der adäquaten Schultüchtigkeit für den Eintritt und Übertritt in die verschiedenen Schularten in Verbindung mit den Erziehungsberechtigten beziehungsweise durch Intensivierung der Kontakte zwischen Elternhaus und Schule;

• Ausbau der unterrichtsorganisatorischen, didaktischen und methodischen Vorkehrungen zur Steigerung des Schuilerfolges;

• bedarf die Schülerbeurteilung und das Zeugniswesen einschließlich der Extemdstenprüfungen einer Neuregelung zur gleichmäßigen Handhabung im gesamten Bundesgebiet.

Es gibt zweifellos noch viele Möglichkeiten zur Verbesserung des Schulerfolges. Zu einem Pessimismus besteht kein Anlaß. Die Schulleistungen sind nicht schlechter geworden, sie sind auch keinesfalls schlecht — freilich können und sollen sie jetzt und in Zukunft noch besser werden.

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