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Der Sinn des 9. Schuljahres

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Das Problem des 9. Schuljahres ist nicht vom Standpunkt der ökonomischen Belastung, die den Eltern und — wie behauptet wird — der Wirtschaft durch das 9. Schuljahr erwächst, zu lösen. Solche Problemstellung dient den Affekten mehr als den Argumenten, die nur von der Sache her, um die es geht, gültig gewonnen werden können: von dem in Zeit und Zukunft geforderten Bildungsstand, hinter dem nach Art eines Entwicklungslandes zurückzubleiben in Österreich weder die Eltern noch die Wirtschaft wünschen könnten. Die fortschreitende Entwicklung der Wissenschaft mit ihren Auswirkungen, die heute eine „Verwissenschaftlichung“ des Daseins auf breiter Basis bewirken, stellt schwierige und in ihrer Komplexität kaum erfaßte Bildungs- und Ausbildungsprobleme. Diese Probleme können ganz gewiß nicht allein aus dem angereicherten Bildungsstoff, also rein quantitativ verstanden werden. Die Straffung des Stoffes gemäß der Devise „Sichtung und Lichtung“ wird dieser Problemlage keineswegs gerecht, zumal die Durchführung dieser Devise weder willkürlich noch mechanisch möglich ist, vielmehr ein Auswahlprinzip und Verfahren notwendig macht, über das man sich heute keineswegs im klaren ist. “Vir kommen einfach nicht darum herum, daß die Menschen heute und morgen auf jeden Fall und in zunehmendem Maße mehr zu lernen haben als in der Vergangenheit, wobei der Anspruch zunehmender Mehrleistung nicht durch Stoffreduktion — zumindest nicht dadurch allein —, sondern vielmehr durch eine richtige zeitliche Phasenverteilung in der Stoffvermittlung im Verhältnis zur psychischen Entwicklung zu erfüllen ist.

Die Vermittlung des Bildungsstoffes muß nicht nur quantitativ dosiert werden, sondern auch qualitativ der entsprechenden Entwicklungsstufe der Lernenden angepaßt werden. Mit anderen Worten: Es geht um einen evoiutiven Aufbauplan im Bildungsprozeß, für den der Zeitfaktor eine maßgebliche Rolle spielt. Ein wesentliches entwicklungspsychologisches Moment besteht nach Ansicht moderner Biologen und Psychologen in dem Phänomen, das als Rezession bezeichnet wird. Rezession bedeutet dem Wort nach ein „Zurückweichen“ der Entwicklung, also eine Phasenverzögerung im psychischen Entwicklungs- und Reifungsprozeß. Die Reifeverzögerung ist durch die ständige massive Reizüberflutung bedingt, die der junge Mensch nicht mehr zu verarbeiten vermag. Ohne Zweifel muß sich der Erziehungs- und Bildungsprozeß auf diese Entwicklungsverzögerung entsprechend einstellen und somit folgerichtig diese Phasenverzögerung zu Gunsten der Vorbereitung für den Übertritt entweder in das Berufsleben oder in die Hochschule in Anschlag bringen. Es dürfte zudem einleuchten, daß bei den progressiven Anforderungen in beiden Bereichen eine sorgfältige Vorbereitung auf jeden Fall unumgänglich ist, und dies nicht nur nach der heutigen Lage, sondern vor allem für die Zukunft, die im Richtblick auf die Jahrtausendwende immer deutlicher die Konturen der zukünftigen Bildungsgesellschaft sichtbar werden läßt. Verantwortungsbewußte Eltern werden daher den größeren Zeitaufwand für die bessere Vorbereitung für Schule und Leben in Kauf nehmen, wie denn auch die Wirtschaft im Hinblick auf die zu erwartende unerbittliche Leistungskonkurrenz die erhöhte Qualität der Ausbildung ihrer Nachwuchskräfte wird bejahen müssen.

Mit dem Abschaffen des 9. Schuljahres (das übrigens in anderen Ländern längst kein Novum ist, vielmehr schon durch ein 10. Schuljahr abgelöst wird) wird man den progressiven Anforderungen nicht gerecht werden. Der Krebsgang der Abschaffung führt keinesfalls zum Ziel, das heißt in die -Zukunft, die mit der „Bildungsexplosion“ schon begonnen hat. (Man denkt heute in anderen Ländern daran, die Schulpflicht auf zehn Jahre zu erhöhen und die Hochschulreife frühestens mit dem 20. Lebensjahr anzusetzen.) Somit hat der Unterrichtsminister recht — und es ist in Wahrheit sein gutes Recht —, den Krebsgang nicht mitzumachen, sondern das vom Parlament mit qualifizierter Mehrheit beschlossene Gesetz in die Tat umzusetzen und für den Vollzug des Gesetzes die notwendigen Voraussetzungen sicherzustellen. Denn für diesen Vollzug ist er verantwortlich. Wenn man aber dem Gesetzgeber vorwirft, er habe voreilig gehandelt, weil er nicht zuerst die Voraussetzungen für sein Gesetz geschaffen hat, so ist dazu zu sagen, daß Gesetze keineswegs retrospektiv, sondern prospektiv zu verstehen sind, das heißt, daß sie einen Prozeß ansetzen, der durch den Impuls des Gesetzes und nur unter seinem Druck zur Verwirklichung führt. Das Gesetz ist nicht eine Nachnahme, sondern eine Vorwegnähme im Ansatz einer Zukunft, die mit ihm schon begonnen hat.

Darum erscheint es konsequent und richtig, die Voraussetzungen für die Erfüllung des 9. Schuljahres in Verfolg und Befolgung des Gesetzes zu schaffen, nicht aber wegen der nicht gegebenen Voraussetzungen das Gesetz abzuschaffen.

Was das 9. Schuljahr betrifft, so ist freilich zuzugeben, daß man sich bisher wenig glücklich um die Sinngebung dieses Jahres bemüht hat. Und hier ist in der Tat durch das geplante Volksbegehren eine Diskussion entfacht worden, die durchaus notwendig ist. Es kann in diesem Rahmen nur angedeutet werden, daß der Sinn dieses Jahres zumin-destens auch und wesentlich wissen-schaftspropädeutisch zu bestimmen ist. Das heißt: Es muß der von der höheren Schule abgehenden Jugend in diesem Jahr von den Wesensgehalten der einzelnen Fächer her ein wahres Bild der Wissenschaft vermittelt werden, ein Bild ihrer Leistung für Kultur und Gesellschaft, so daß die Entscheidung des jungen Menschen für das Studium einer bestimmten Wissenschaft aus dem Horizont des Ganzen wissenschaftlicher Leistung und Bedeutung vorbereitet und fundiert ist, damit dieses Jahr, das als Jahr der Berufsentscheidung dient, dafür entsprechend genützt wird.

Ebenso wichtig ist aber, aus diesem Horizont des Kulturganzen das Weltbild für den Menschen unserer Zeit zu formen, das auf dem Wege der Synthese in philosophischer Vertiefung durch Besinnung auf die Grundlagen wahrhaft menschlicher Existenz als Leitbild für die Formung der Persönlichkeit in Frage kommt. Das 9. Schuljahr hätte also eine große und zeitgemäße wissen-schaftspropädeutische und persönlichkeitsbildende Bedeutung und Aufgabe. Es ist nötig, sich um diese Sinnerfüllung des 9. Schuljahres grundlegend zu bemühen und nicht in der Travnicek-Haltung („Was brauch i des“) zu üben. Abschaffen ist keine schöpferische Lösung.

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