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Der „Wiener-Neustädter-Plan“

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Im Schuljahr 1948 49 arbeitete an der Lehrerbildungsanstalt Wiener Neustadt ein kleiner Arbeitskreis von Mittelschullehrern einen Lehrplan aus, der dem Wesen der allgemein bildenden Schule besser gerecht werden und gerade dadurch das Problem der stofflichen Ueberbürdung einer Lösung zuführen sollte. Der fertige Plan konnte bald darauf dem ersten Jahrgang Mädchen versuchsweise zugrunde gelegt werden. In diesem Jahre wird der Versuchsjahrgang der Lehrerbildungsanstalt Wiener Neustadt maturieren.

Ein Lehrplan für allgemein bildende Schulen wird seine Aufgabe um so eher erfüllen, je mehr er dem Bildungsziel dieser Schulen gerecht wird. Die Pädagogik erkennt dieses Ziel in der Gewinnung eines Weltbildes, das die Schüler „Natur- und Menschenleben in ihrem Geschehen und Zusammenhang kennen und begreifen lehrt“ (Lehrplan von 1927) und in der Erfüllung des Schülers mit den Werten der Kultur, je größer aber die Zahl der Gegenstände an einer Schule ist, um so größer ist die Gefahr, daß der Schüler sich zwar das verlangte Fachwissen aneignet, aber zu keiner Verbindung zwischen den Fächern fortschreitet und daher bei einem mehr oder weniger umfangreichen enzyklopädischen Wissen stehenbleibt, das mit allgemeiner Bildung u-enig zu tun hat. Darin liegt der eigentliche und innere Grund für die Ueberbürdung unserer Mittelschüler, daß sich in der Praxis kein Gesichtspunkt, durchsetzen konnte, von dem aus der Stoff aller Fächer zusammengefaßt und damit auch vereinfacht werden konnte.

Das ist gerade das eigentümliche des Wiener-Neustädter-Planes- eine enge Zusammenfassung der Fächer von einem höheren, außerhalb des einzelnen Faches liegenden Gesichtspunkt zu Blöcken, die einen bestimmten Studienabschnitt ausfüllen. Die Gesichtspunkte decken sich im großen und ganzen mit den Definitionen des Bildungszieles.

Der erste Studienabschnitt umfaßt das erste und zweite Schuljahr. Das Ziel, das in diesem Zeitraum erreicht werden soll, ist die Erwerbung eines möglichst vielseitigen und tiefgründigen Bildes von der Natur. Dementsprechend dominieren die realen Fächer. Erdkunde und Naturgeschichte’ müssen in diesen zwei Jahren vollständig abgeschlossen werden, nur Naturlehre läuft aus methodischen Gründen weiter. Schon allein diese Zusammenballung des realen Stoffes auf eine verhältnismäßig kurze Zeit verleiht dem Unterricht eine gewisse Geschlossenheit. Sie genügt aber noch nicht für die Erwerbung eines zusammenhängenden Bildes. Zu diesem Zwecke müssen auch die kleineren Lehrein- heiten, die Abschnitte, die den Stoff einiger weniger Stunden bilden, miteinander verbunden werden. Dies wird durch einen detaillierten Plan über den gesamten Stoff der realen Fächer erreicht. Die übrigen Fächer behalten natürlich ihre besonderen Aufgaben; so w’eit es jedoch möglich ist, helfen sie mit, dem Schüler ein möglichst umfassendes Bild von der Natur zu geben; durch die entsprechende Lektüre die Sprachen, Zeichnen durch die Auswahl des Arbeitsstoffes, durch die Auswahl der Lieder Musik, Gesang. Religion fällt die Aufgabe zu, den Schöpfer der Natur sichtbar zu machen.

Das 3. und 4. Studienjahr ist vom humanistischen Block beherrscht. Das Ziel ist das Erkennen und Begreifen des Menschenlebens in seinem „Geschehen und Zusammenhang“. Zu diesem Zwecke sollen die einzelnen geschichtlichen Epochen möglichst vielseitig dargestellt werden. Von den Erscheinungen in Politik und Wirtschaft, in Literatur und darstellender Kunst, in Musik, im pädagogischen Sektor und im kirchlichen Leben, die möglichst gleichzeitig in Geschichte, deutscher Unterrichtssprache, Englisch, eventuell Latein, Zeichnen, Musik, Gesang, Pädagogik und Religion behandelt werden, schreitet der Lehrer mit den Schülern zu den formenden Ideen der einzelnen Epochen weiter und erklärt aus ihnen wieder die Einzelerscheinungen. Immer aber ist es das Phänomen Mensch, dem Lehrer und Schüler durch die Erfassung seiner Taten und Werke näherzukommen trachten. Besonders aber dient diesem Zwecke die Psychologie, die gerade in diesem Studienabschnitt eingesetzt w-ird Durch die starke Heranziehung der Werke des menschlichen Geistes im Unterricht geht mit der Erfassung der Natur und des Menschen auch die Erfüllung des Schülers mit den Werten der Kultur Hand in Hand.

Noch aber fehlt dem Schüler nach diesen zwei Studienabschnirten die letzte Sinndeutung des menschlichen Lebens, damit aber auch die Möglichkeit, zu sich selbst zu kommen, seinem Wesen zu entsprechen. Die Formung des jungen Menschen erfolgte bisher durch das Findringen in die Zusammenhänge der Natur und des menschlichen Lebens und die Erfüllung mit den Werten der Kultur. Aufgabe des letzten Abschnittes ist es, dem Schüler eine „Ueberzeugung von der B e- Stimmung des Menschen und die darauf begründete Wahl des dominierenden Wertes“ (Meister: Beiträge zur Theorie der Er ziehung) zu ermöglichen. Der Weg dazu wurde schon in den unteren Jahrgängen durch die künstlerische und theologische

Deutung des Geschehens angebahnt. Durch die systematische philosophische und theologische Durchdringung des bisher gewonnenen Natur- und Menschenbildes wird dieser Bildungsgang vom Einzelnen zum Ganzen nun im 5. Jahrgang durch das Fortschreiten in Religion und Philosophie zum Urgrund des Ganzen, damit aber auch zum eigenen Wesen des Menschen zu Ende geführt.

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