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Die „alte Schule“ war nicht alt

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In der zeitgenössischen pädagogischen Diskussion wird häufig über die „alte Schule“ gesprochen. Um diesen Ausdruck - richtig zu verstehen, muß man dreierlei .wissen: erstens, daß dabei das Wörtchen '.alt* als Werturteil im Sinne von „veraltet* zu verstehen ist* zweitens, daß nfcan damit den Zeitraum von etwa 1850 bIVs 1920 bezeichnet; drittens, daß mit „iSdrale“ vorwiegend .Mittelschule“ gemeint ist, weil diese am dringendsten eirjfeir pädagogischen Reformierung be-düittte.

litt der Beurteilung dieser alten Schule tritt'. nun aber ein sehr seltsamer Zwiespalt! zutage. Der theoretischen Kritik, die tnch aus den stolzen Höhen der zünftigen' Pädagogik in breitem Strome in Fachatrtikel und populäre Presseartikel ergial.l, stehen zwei handfeste Tatsachen widerspruchsvoll entgegen: erstens einmal, daß die „veraltete“ Mittelschule doch u-ttfeugbar eine unübersehbare Schar hervorragender Persönlichkeiten des öffentlichen und kulturellen Lebens, der WirtsdHift und des technischen Fortschritts 'ltervorgebracht hat. Zum anderen, daß das. \JJrteil der Absolventen dieser alten Schule, wie es etwa in den Jubi-läumsschiüften zum mehrhundertjährigen Bestand einzelner Gymnasien, oder auch in den Lebenserinnerungen bedeutender Männer (vaun Beispiel „An der Wende zweier Zeätien* von Karl Renner) in den letzten Jahnen zum Ausdruck kam, voll des Lobes '-und der Anerkennung für Lehrer undlAnstalt ist.

Nun hat schon der auf dem Gebiet der theoretischen! Pädagogik hochverdiente Wiener UnivrSitätsprofessor Hofrat W. K a m m e 1 vkM einigen Jahren darauf verwiesen, daß; sich eine gewisse zeitgenössische Päidfagogik verdächtig mache, indem sie ein \ÜJ ermaß an Schlagworten entwickle, hinter*, denen sich bei gewissenhafter Prüfung oft nur fadenscheinige Gedanktenge webe oder überhaupt fachfremdef Absichten versteckt hielten. Es ist alsp wohl geboten, auch

die Kritik an der alten Schule etwas schärfer unter die Lupe zu nehmen. Wir werden uns dabei nicht auf einzelne Personen stützen dürfen — denn wann hätte es nicht ebensogut tüchtige wie schlechte Lehrer gegeben? —, sondern wir werden nach den Prinzipien fragen müssen, auf denen diese Schule aufgebaut war. Wir finden sie abgedruckt in zwei amtlichen Verlautbarungen, nämlich erstens im „Entwurf der Organisation der Gymnasien und Realschulen in Österreich“ des Jahres 1849 und in den „Instruktionen für den Unterricht an den Gymnasien in Österreich“, Wien 1884.

Was also wirft man der alten Schule vor?

Erstens, sie sei bloß auf den Wissenserwerb, den Unterricht, bedacht gewesen und habe darüber ihre Erziehungsaufgabe vergessen oder überhaupt noch nicht erkannt.

Hiezu lesen wir im „Organisationsentwurf“ (Vorbemerkung S. 8): Der vorliegende Entwurf legt ein besonderes Gewicht auf die erziehende Tätigkeit der Schule... (66), so ist es von besonderer' Wichtigkeit, daß es (das Gymnasium) sich nicht nur als eine Anstalt zur Erteilung mannigfachen Unterrichts ansehe, sondern zur religiösen und sittlichen Erziehung seiner Schüler mitzuwirken als einen wesentlichen Teil seiner Aufgabe betrachte.

Zweitens wird behauptet, die alte Schule habe nur Einzelfächer unterrichtet und keinerlei Wert auf sinnvolles Beziehen als Zeichen wahrer Bildung gelegt. *

Dazu der „Organisationsentwurf“ (Anhang Nr. I): Das Gymnasium hat seinen Schülern einen Reichtum mannigfacher Kenntnisse aus allen Gebieten des Wissens zu geben, aber diese Kenntnisse an sich sind nicht das einzige, noch der letzte Zweck; das Gymnasium will vielmehr seine Schüler zu einer allgemeinen, möglichst gleichmäßigen Bildung er-

heben. Zur Bildung gehören allerdings notwendige Kenntnisse, aber ein Element der Bildung werden die Kenntnisse erst dadurch, daß sie nicht ein toter Schatz in der Seele des Besitzenden geblieben, sondern durch Klarheit und Vielseitigkeit der Verbindung... ein lebendiges Eigentum des Geistes geworden sind.

Drittens, meint man, habe die alte Schule nur „doziert“, sei „Lernschule“ gewesen und habe der Selbsttätigkeit und eigenen Arbeit der Schüler keinen Raum gelassen.

Der „Organisationsplan“ sagt hiezu (Anh. Nr. I): -Daher haben die Lehrer es sich zur Pflicht zu machen, nicht bloß eine mehr passive Rezeptivität der Schüler zum Einlernen der erforderlichen Kenntnisse in Anspruch zu nehmen, sondern zugleich die völlige Aneignung dieser Kenntnisse durch die eigene Tätigkeit der Schüler zu erstreben..? im allgemeinen folgt hieraus, daß ein Unterricht, welcher ausschließlich oder auch nur vorherrschend ein bloßes Vortragen der Lehrgegenstände wäre ... dem Standpunkt des Gymnasiums völlig unangemessen ist... In den Lehrstunden selbst muß der Schüler arbeiten gelernt haben... dies gilt in besonders hohem Grade für die untersten Lehrstufen. — Zur „modernen“ Selbsttätigkeit und Gemeinschaftsarbeit heißt es in den „Instruktionen* (XXVI, Kapitel Lateinunterricht): Es muß der Grundsatz durchgeführt werden, daß die Schüler unter Leitung des Lehrers aus den einzelnen Erscheinungen das Gesetz, aus einer reichen Zahl von konkreten Fällen die abstrakte Regel selbsttätig finden und entwickeln. Auf diese Weise wird der Schüler unter Leitung des Lehrers an selbständiges, geistbildendes Arbeiten gewöhnt und vor mechanischem Regellernen bewahrt, das bloßes Scheinwissen

erzeugt und den Geist ertötet... wird (beim übersetzen) der ganze Satz unter reger Mitwirkung der ganzen Klasse in gutes Deutsch (heute „Unterrichtssprache“ ...) übertragen, so hat der Lehrer... und so fort.

Ein vierter Vorwurf bezeichnet die alte Schule als „Lateinschule“, die zu wenig „realistisch“ gewesen sei.

Der „Organisationsplan“ stellt fest (Vorbem. S. 7): Mathematik und Naturwissenschaften lassen sich nicht ignorieren; sie gestatten auch nicht, daß man die Kraft ihres Lebens zum leeren Schatten irgendeiner anderen, von ihnen wesentlich verschiedenen Disziplin mache. Der vorliegende Lehrplan verschmäht in dieser Richtung jeden falschen Schein, sein Schwerpunkt liegt nicht in der klassischen Literatur... sondern in der wechselseitigen Beziehung aller Unterrichtsgegenstände aufeinander.

Schließlich wird noch als besondere Entdeckung der modernen Pädagogik die Herstellung enger Beziehungen zwischen Elternhaus und Schule gepriesen. Aber auch davon spricht schon der „Organisationsplan* (Vorbem. S. 10): Da die häuslichen Einwirkungen für die Charakterbildung der Schüler in der Regel von entscheidender Bedeutung sind, so soll die Schule mit den Eltern... in Verkehr treten. Sie hat hiebei das väterliche Ansehen nicht durch das ihre zu ersetzen, zu beherrschen oder auch nur zu leiten, wohl aber... zu stützen.

Es ist nützlich, diese amtlichen Richtlinien zu kennen. Denn man mag über alt und neu, über Tradition und Fortschritt, über konservativ und modern denken, wie man will, eines ist sicher: die alte Schule war nicht alt, und sehr vieles Neue ist nicht so neu als es oft gerne scheinen möchte.

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