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Die alten Sprachen

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Die Lehrpläne für die Oberstufenformen der allgemeinbildenden höheren Schulen müssen bis zum Frühjahr 1967 vorliegen, denn im Herbst nächsten Jahres treten die ersten Schüler in die 5. Klassen der neuen Gymnasien und Realgymnasien ein. Wie mah hört, sind die Planungen tatsächlich schon weit gediehen. Eines der schwierigsten und am heftigsten diskutierten Probleme stellen in diesem Zusammenhang die alten Sprachen dar, deren Position auch in Österreich immer umstrittener wird. Von der einst gegebenen Zusicherung, die Stundentafeln des Lateinischen und Griechischen am neuen Gymnasium an denen des westösterreichischen Gymnasiums der Lehrpläne von 1935 zu orientieren, ist längst nicht mehr die Rede. Immerhin sind die beiden Fächer am humanistischen und Latein am neusprachlichen Gymnasium noch mit einer sehr großen Anzahl von Stunden bedacht. Also müßte es darum gehen, diese Ohance aufs beste zu nützen, um den starken Angriffen gegen die, bisher wenigstens, in jeder Hochkultur bestehenden Bildungssprachen möglichst viel von ihrer Spitze zu nehmen.

Der veraltete Lektürekanon

Der Bildungswert der antiken Sprachen hängt in stärkstem Maß vom Lektürekanon ab. Dieser beruht gegenwärtig noch immer auf dem Ideal des Neuhumanismus vom beginnenden 19. Jahrhundert (Wilhelm von Humboldt), das seinerseits kräftige Wurzeln im 18. Jahrhundert (Johann Gottfried Herder) hat. Beispielsweise ist die starke Stellung der Schriften Ciceros im Lateinunterricht ebenso wie die Bewertung der homerischen Epen im Griechischen darauf zurückzuführen. Es ist nun angesichts der Entwicklung der Natur- und Kulturwissenschaften zumal in unserem Jahrhundert zu überlegen, ob ausschließlich von der Ideologie des Neuhumanismus her jene Kriterien geliefert werden können, welche die Aufnahme der beiden alten Sprachen oder des Lateinischen allein in die Lehrpläne für die nächsten Jahrzehnte rechtfertigen.

Das Unterrichts- und Erziehungsgeschehen in diesen Fächern muß in engstem Zusammenhang mit anderen Gegenständen gesehen werden. Tatsächlich wuchs im Verlaufe der letzten 150 Jahre die Kluft zwischen dem Block der Bildungssprachen und den übrigen Fächern in dem Maß, wie jene ihre Dominanz im Bildungsgesamten verloren. Folge dieser Spannung ist die weitgehende Ablehnung der alten Sprachen. Es müßte aber unbedingt gelingen, einen „Sitz dm Leben“ wiederherzustellen, der nach Meinung so vieler verloren zu sein scheint. Gerade diese Fächer können und sollen ihren Beitrag zu einer der wichtigen Aufgaben der Schule leisten, nämlich die Orientierung im ideologischen Überbau unserer Gesellschaft zu erleichtern.

Die Modelle der Antike

Um dieses Ziel zu erreichen, muß zunächst einmal von der Vorstellung des Neuhumanismus wirklich abgegangen werden, daß die Antike jenes Menschenbild hervorgebracht hat, das für immer verbindlich sein könnte. Wir würden meinen, daß heute der Wert der Beschäftigung mit antiker Literatur darin liegt, zu zeigen, wie die unsere Zeit kennzeichnende Pluralität der Menschenbilder in einfacher, überschaubarer Form an Modellen der Antike studiert und erfahren werden kann. Eine wirksame Resubjektivierung ist aber nur über das Medium der Sprache erreichbar. Für viele junge Menschen mag es selbstverständlich genügen, mit Hilfe von Referaten in die angedeutete Thematik eingeführt zu werden, jedoch kann das nicht für alle gelten. Wer nur ein wenig die Diskussion überschaut, welche sich bezüglich des ideologischen Überbaues unserer Gesellschaft abspielt, weiß, welche Rolle hierbei Argumente aus der Antike spielen. Die Vorsokratiker und die Sophisten, Sokrates, Platon, Demokrit, Aristoteles, die Stoa und ihre

Schüler und Enkelschüler liefern für alle Parteien Argumente. Man blättere etwa das Buch von Walter Kaufmann, Religion und Philosophie, Eine Kritik des Denkens unserer Zeit, durch — es ist kennzeichnend für die geistige Situation in weiten Teilen der angelsächsischen Welt — und man wird die Richtigkeit unserer Behauptung zugeben. Übrigens bedauern darum Menschen, welche der Ansicht sind, Latein und Griechisch gehörten zum Rüstzeug des Konservativismus, häufig im Gespräch ihre geringe Vertrautheit mit antikem Denken.

Die passive Sprachbeherrschung

Eine Änderung beziehungsweise Erweiterung des üblichen Lektürekanons erscheint uns also dringend erforderlich. Wer die gewaltige Anstrengung des Eriemens der alten Sprachen auf sich nimmt, sollte mit der Fähigkeit ausgerüstet werden, an den verhältnismäßig leicht faßlichen Modellen des Altertums, von denen der bekannte deutsche Altphilologe Wolfgang Schadewaldt immer wieder spricht, wichtige, brennende Fragen der Gegenwart begreifen zu lernen. Wie die Informationstheorie zeigt, sind die Überraschung, die eine Nachricht hervorruft, und deren Informationswert direkt proportional. Auf unser Problem übertragen, würde das bedeuten, daß die passive Beherrschung des Lateinischen und Griechischen zu mehr dienen muß, als wenige, geringe Information liefernde Abschnitte aus wenigen Autoren zu lesen. Folglich sollte die Methodik der Spracherlernung darauf ausgerichtet sein, in möglichst kurzer Zeit einen möglichst großen Wortschatz zum Zweck einer bestmöglichen passiven Sprachbeherrschung zu erwerben. Vielleicht könnte man dafür den programmierten Unterricht einsetzen, der unseres Erachtens in der Zukunft seinen Platz im Elementarunterricht durchaus haben wird.

Wenn man sich einmal darüber klar geworden ist, welches Maß an Sprachbeherrschung die, sagen wir, 800 Seiten Text erfordern, die man in beiden Sprachen insgesamt im Rahmen des Klassenunterrichts bewältigen kann, dürfte es für den

Anfangsunterricht nicht zu schwierig sein, sich hinsichtlich Grammatik und Wortschatz darauf einzustellen. Im Mittelpunkt der Lektüre sollten Themenkreise, nicht die Autoren stehen. Bei gewissen Themen wird natürlich ein einzelner Autor eine tragende Funktion haben. So wäre es zum Beispiel möglich, die Schriften Senecas bei der Darstellung der Stoa, einer philosophischen Richtung, deren Bedeutsamkeit für das Denken des Abendlandes kaum zu überschätzen ist, am humanistischen Gymnasium stark heranzuziehen, während am neusprachlichen Gymnasium aus Cicero die griechischen und lateinischen Entwicklungslinien zu gewinnen wären. Man müßte deshalb dem Unterricht in den alten Sprachen Lesebücher zugrunde legen, was in Österreich zum Teil schon vor dem ersten Weltkrieg der Fall war, wovon man aber wieder abgekommen ist. Auf diese Weise sind Themenkreise leicht zusammenzustellen.

Ein Wort sei auch noch gesagt zur Frage der aktiven Beherrschung des Lateinischen. Dieses gewiß wünschenswerte Verlangen würde eine weitaus stärkere Dotierung der Stundentafeln zumindest in den ersten Jahrgängen verlangen, wenn am Unterrichtsziel der Lektüre der antiken Autoren festgehalten werden soll, was, wie wir glauben, unabdingbar ist. Entweder wird, wollte man wirklich auf die Fähigkeit hinarbeiten, sich lateinisch aus- drücken zu können, die zur Verfügung stehende Zeit überfordert oder das als sinnvoll erkannte Unterrichtsziel läßt sich nicht erreichen.

Fäden zum Heute

Durchführbar hingegen scheint das Auf zeigen des Weiterwirkens der antiken Formen und Inhalte, worauf größtes Gewicht zu legen wäre. Mit dem Nachziehen der Ent- wicklungslinien bis in die unmittelbare Gegenwart wird das Interesse der Schüler gewonnen und gleichzeitig ihr historisches Verständnis geweckt, dem in den neuen Lehrplänen mit vollem Recht ein so zentraler Platz eingeräumt wird.

Folgende Entwicklungslinien sind dem Schüler faßbar: literarische Formen und Motive, Sprachentwicklung, Semasiologisches; Grundformen des naturwissenschaftlichmathematischen Denkens, die in der Neuzeit den direkten Anstoß zum gewaltigen Aufschwung der Natur- und Formalwissenschaften gegeben haben, wobei an die Atomtheorie und an Euklids Axiomatik ebenso gedacht ist wie an die Stellung der Mathematik in der Akademie; Grundformen sittlichen Verhaltens des einzelnen und der Gemeinschaft sowie die Spannung zwischen beiden, wozu die Darstellung der verschiedenen Lebensideale, der Kreislauf der Verfassungen, die Diskussion um das Naturrecht und alle Fragen im Zusammenhang mit der Demokratie gehören; historische Abläufe, Revolution und Restauration; Begründung und Möglichkeit der Metaphysik, verbunden mit der Darstellung von Aspekten des Relativismus, Skeptizismus, Agnostizismus und Positivismus; Veränderliches und Unveränderliches in einer Religion sowie deren Stufen; Verhältnis und Bedeutung von Mythos und Logos im Hinblick auf imaginierende und rationale Weitsicht (hierher gehört unter anderem die Frage, weshalb die Antike keine technische Zivilisation entwickelt hat); Möglichkeit und Vertretbarkeit eines (sc. neopositivistischen) Kritizismus und eines Dogmatismus; Begriff und Wandlung der Dialektik usw.

Die Schüler dafür zu interessieren, dürfte auch im Hinblick auf die Verlängerung der Schulpflicht und der damit gegebenen größeren Reife zu erwarten sein. Allerdings nur unter der wesentlichen Voraussetzung, daß die Lehrer der alten Sprachen diese Verbindung mit der heutigen Welt hersteilen. An den Lehrern liegt sehr viel, wenn nicht das meiste. Deshalb sollte auch alles getan werden, um ihre und die Stellung aller Gymnasiallehrer nicht weiter zu erschweren. Ihr Ansehen in der öffentlichen Meinung, das so schwer angeschlagen ist, müßte gehoben werden.

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