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Die Angst vor dem „Todesmarsch“

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Die Reflexe eines vielfach amputierten Organismus sind — das wird jeder Mediziner, jeder Psychologe unter Ihnen bestätigen — anomal. Die Anomalien werden akzentuiert durch die Angst der Minderheit vor dem Untergang, vor dem „Todesmarsch“ — eine Angst, die angesichts der enormen Substanzverluste und des enormen Einwanderungszuwachses der Italiener psychologisch — wenn auch vielleicht nicht mathematisch — begründet war. Es ist allerdings eine Tatsache, daß Anomalien und Angst, daß vor allem die Propaganda mit dem „Todesmarsch“ ihren Höhepunkt erreichten, als die Gefahr schon überwunden war, als schon der Umkehrungsprozeß — dessen Beginn wir mit 1953 datieren können — eingesetzt hatte. Bei den 14jährigen standen 1959 27,3 Prozent Italienern 72,7 Prozent deutsche und ladinische Südtiroler gegenüber (bei einem allgemeinen Bevölkerungsverhältnis von 34 : 66 Prozent). Das Verhältnis beim Nachwuchs hat sich seither weiter so gehalten. Dazu aber wiederum ein Mißverhältnis, das die gesellschaftlichen Anomalien unterstreicht: von den Maturanten in Südtirol waren 1965 290 Südtiroler und 524 Italiener.

Noch einmal die krasse Gegenüberstellung der Zahlen:

Bevölkerung: 67 Prozent Südtiroler, 33 Prozent Italiener;

14jährige: 72 Prozent Südtiroler, 28 Prozent Italiener;

Maturanten: 64 Prozent Italiener, 36 Prozent Südtiroler.

Man muß beinahe froh darüber sein, daß es für die Arbeiterschaft keine derartige Aufschlüsselung gibt…

Bedenkt man all das, dann wird man auch die inneren Vorgänge in Südtirol anders werten, anders beurteilen. Dann werden die „Fälle“ Jenny, Raffeiner, Aufbau, Tiroler Heimatpartei und wie sie alle heißen, zur schlichten Normalität eines manchmal krisenhaften, aber im Grunde genommen gesunden Ajour- nierungsprozesses. Wenn man die „Dolomiten“ (oder den „Alto Adige“) von heute mit den Ausgaben vor fünf oder drei Jahren vergleicht, so wird auffallen, wie sehr der Umfang sozialpolitischer Nachrichten zugenommen hat — wieviel nun über Gewerkschaftsleben und dergleichen berichtet wird.

Ich sehe weder im Vorhandensein Jennys noch im Vorhandensein des Aufbau, Raffeiners oder der Tiroler Heimatpartei eine Gefahr für den Bestand der Minderheit; die Auseinandersetzungen, zu denen diese Polarisierung in der Minderheit führt, können nur positiv sein, sofern es nicht bei den bloßen Auseinandersetzungen bleibt. Das Aufbau- und Raffeiner-Experiment waren Ausbrüche in Richtung auf den wirtschaftlichen Liberalismus; das Jenny-Experiment bewegt sich in die entgegengesetzte Richtung. Das alles ist eine Folge der sozialen Artikulierung der Minderheit.

Die Gefahr scheint mir vielmehr in der noch immer mangelnden Toleranz zu liegen. Man bekämpft die Erscheinung, das gesellschaftliche Phänomen, man will sein Aufkommen verhindern — anstatt daß man sein Aufkommen zumindest toleriert und sich dann mit ihm auseinandersetzt. Der Fall Jenny hat das klar gezeigt.

Ausblick

Südtirol liegt heute in Italien. Verschiebungen europäischer Grenzen werden nur in einer heute viel weniger als 1945 absehbaren Zukunft möglich sein — und auch da wohl nicht als „Verschiebungien“, sondern als „Eliminierungen“ der Grenzen. Der Südtiroler Minderheit bleibt also nichts anderes übrig als das Gespräch, das Arrangement in Italien, mit Italien. Dies kann aber nur ein Dialog mit dem ganzen Italien sein. Das schon zitierte Rechtsdenken, das so weit geht, daß man jede Polizeiverordnung für Staatsrecht zu halten bereit ist, hat dazu geführt, daß die Südtiroler mit ganz wenigen Ausnahmen stets nur den Dialog mit der konstituierten Macht, das Arrangement mit den jeweiligen Regierungen gesucht haben. Das mag für eine christlich-bürgerlich ausgerichtete

Partei wie die SVP subjektiv richtig, das mag politisch anständig gewesen sein. Aber ist diese Anständigkeit honoriert worden? Und war sie klug? War sie „politisch“?

Jede politische Kraft sucht Partner, mit deren Hilfe sie ihre Ziele realisieren kann; Politik ist viel weniger eine Frage von Grundsätzen als man meint. Politik ist die Summe kleiner Etappen, die man heute mit diesem, morgen mit jenem zurücklegt — je nachdem, welcher Partner bereit ist, mit einem ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Die innere Artikulierung in Südtirol mag in Zukunft auch die Wahl der Partnerschaften erleichtern. Es ist zum Beispiel eine Ironie der Geschichte,

daß die Sozialisten Seit 1918 im italienischen Parlament die einzigen wahren Anwälte Südtirols gewesen sind und daß die SVP erst 1965 direkte Kontakte zur PSI-Zentrale in Rom gesucht hat. Es ist eine noch größere Ironie, daß zwischen Südtirolern und Slowenen, zwischen Südtirolern und Aostanem nur sehr oberflächliche, förmliche Beziehungen bestehen. Warum all dies? Warum schließen einander Gruppen mit gleichen Interessen nicht zum gemeinsamen Vorgehen zusammen? Weil da Tito die Hände im Spiel haben könnte, weil man dort mit der KP und dem PSI die Autonomie realisieren will? Es geht hier nicht um Weltanschauungen — es geht um den

Menschen, um das Schicksal des einzelnen Südtirolers. Die Minderheit als Gesamtheit kann überleben, sie kann sich in einer Wagenburg verbarrikadieren und jeden Angriff auf ihre Existenz abwehren — die Bewältigung der Zukunft aber wird vom einzelnen wie von der Gesamtheit verlangt; nur der einzelne Tüchtige wird — ob in der Wirtschaft oder in der Politik, bei der Firma Durst in Brixen oder bei den Lancia-Werken in Bozen, im Gewerkschaftsbund oder im KVW, im Bauernbund oder in einem Akademikerkreis tätig — die Mehrheit in den Fortschritt, zur Bewältigung der Zukunft mit fortreißen.

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