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Die Brücke zur Wirklichkeit

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Die Realisierung des 9. Schuljahres im Rahmen der Pflichtschule als eines eigenständigen einjährigen Schultyps war zweifelsohne nur eine der Möglichkelten, in Österreich allerdings die einzige. Kritik an dieser Form der Lösung zu üben, ist unrealistisch. Man muß vielmehr untersuchen, welches die spezifischen Charakteristika des Gebildes sind und welche optimalen Möglichkeiten »ich darbieten.

Die Anzahl der kommenden Besucher liegt, wie sich bis jetzt abzeichnet, unter 50 Prozent der Schulabgänger. Vorbildungsmäßig spannt sich ein weiter Bogen vom Hauptschulabgänger der 4. Klasse, erster Klassenzug, über den Schulentlassenen der 8. Stufe der Volksschule bis zum Austretenden aus einer niedrigeren Schulstufe. Letzterem wird man empfehlen, den bereits eingeschlagenen Ausbildungsgang dort auch zu vollenden.

Aus meiner Erfahrung heraus würde ich trotzdem sagen, daß ich es als einen Verlust betrachte, wenn Schüler ohne das Polytechnische Jahr ausscheiden. Das Warum weiter unten.

Aufgabe des Polytechnischen Lehrganges

Das Schulorganisationsgesetz nennt uns drei Faktoren, die das Polytechnische Jahr kennzeichnen sollen:

• Zur Persönlichkeitsbildung: Religion, Lebenskunde (mit Hinweisen zu einer sinnvoll gestalteten Freizeit), Leibeserziehung.

• Zur Festigung der allgemeinen Grundbildung: Deutsch, Mathematik, Sozialkunde und Wirtschaftskunde (einschließlich der Zeitgeschichte), naturkundliche Grundlagen der modernen Wirtschaft, technisches Zeichnen, Gesundheitslehre, für Mädchen auch Hauswirtschaft und Kinderpflege.

• Im Falle des Paragraph 28, letzter Satz zur Berufsorientierung: Berufskunde, praktische Berufsorientierung, Knabenhandarbeit, Mädchenhandarbeit.

Dieses Jahr soll also ohne Zweifel die Brücke bilden zum Übergang in das Leben, in die „rauhe Wirklichkeit“. Daß solch eine Einrichtung notwendig ist, leuchtet nach kurzer Überlegung ein. Der Übergang vom Dasein eines Schülers zu dem eines Lehrlings geschah bisher sicher zu unvermittelt. Die Schulwirklichkeit und die Realitäten des Lebens dek-ken einander keineswegs. Und dieser entscheidende Schritt aus der abgeschiedenen Schulwelt in unsere vielschichtige Lebenswelt der Gegenwart gehört vorbereitet. Und diese Vorbereitung kann man der Pflichtschule nicht auferlegen. Sie würde damit überfordert. Dies ist vielmehr das zentrale Anliegen des Polytechnischen Jahres: Praktische Lebenshilfe, Gesinnungsbildung, Lebensorientierung, Einblick in die Vielfalt der Lebensprobleme und anderes mehr sind nicht nur Leitsätze für das Fach „Lebenskunde“, sondern diese Dinge stehen als Forderungen über jeder Arbeit in diesem 9. Schuljahr.

Das Fach Lebenskunde

Diesen Gegenstand möchte ich als das Zentrum bezeichnen. Dort soll sich überlegt und durchdacht und unter tätiger Mitarbeit aller Schüler dieser Übergang bewußt anbahnen. Mit anderen Worten: In Lebenskunde hat alles Platz. Es bietet sich eine solche Fülle von Stoff, daß die Gefahr droht, daß die Menge über den Inhalt siegt und vieles zerredet wird. Daher muß gesiebt werden. Es muß also ein Leitmotiv gefunden werden, das für den Jugendlichen erfaßbar ist, und das anderseits ermöglicht, die vielschichtige Wirklichkeit in angemessener Form unterzubringen.

Ehe ich aber einen Entwurf einer Stoffgliederung niederschreibe, scheinen mir zwei Hinweise wichtig: auf das Polytechnische Jahr in Stadt und Land und, damit zusammenhängend, ob die Klassen koedukativ oder getrennt geführt werden.

Für die Stadt ist eine nach Geschlechtern getrennte Führung wahrscheinlich, auf dem Land jedoch kaum. Für beide Regionen, Stadt und Land, wird die Lebenskunde, beginnend bei der eigenen Person, sich anders entfalten. Allgemein kann man mit Recht annehmen, daß der ländliche Bezirk für den Jugendlichen überschaubar ist. In der Stadt, vor allem in der Großstadt, trifft dies nicht zu. Hier steht der Jugendliche einer Anonymität gegenüber. Worauf ich hinaus will, ist folgendes: Als Marschroute für Lebenskunde schlage ich den Weg vom Ich zum Du und von dort zum Wir vor. Und diese Entfaltung des Ich, des Du und des Wir muß sich in beiden angedeuteten Regionen in verschiedener Weise vollziehen.

Nach diesen einleitenden Worten mein Entwurf einer Lehrstoffverteilung für Lebenskunde:

Entwurf einer Lehrstoffverteilung

Einleitung: Wir lernen uns kennen: Begrüßen, Vorstellen. Schriftlich: Mein Lebenslauf.

„Ich“: Was ist der Mensch? Verantwortung für den Körper: Gesundheit. Einheit von Körper und Seele. Selbsterziehung (Selbstbeobachtung, Selbstbeherrschung). Besondere Berücksichtigung der Lebensprobleme des Mannes beziehungsweise der Frau. Die Entwicklung vom Kind zum Jugendlichen. Entwicklung der Persönlichkeit: Charakter, Religion und Weltanschauung, Lernen, Beruf, Bildung.

„Vom Ich zum Du“: Das Zusammenleben in der Klassengemeinschaft, in der Familie als Grundlagen des sozialen Verhaltens. Die Einstellung zum Mitmenschen. Menschenkenntnis, Menschenrechte. Mein Benehmen den Mitmenschen gegenüber: Anstand, Takt, Achtung, Ehrfurcht, Freundschaft, Liebe. Haltung gegenüber dem anderen Geschlecht.

Der Lebenskreis der Familie:

a) Die Familie als Keimzelle: Vater, Mutter, Kind, die Familie in unserer Zeit. Familienpolitik, Bevölkerungspolitik.

b) Die Familie als Kulturc lefn-schaft:

Vom familiären Leben, vom Gestalten und Feiern von Festen in der Familie einschließlich der Alten, Freude am Schönen, Liebe zu Natur und Kunst, Gastfreundschaft.

„Vom Du zum Wir“:

a) Der Freundes- und Gesellschaftskreis: Vom Benehmen in der Gesellschaft, richtiges Verhalten bei öffentlichen Veranstaltungen, sinnvolle Freizeitgestaltung und anderes, das Reisen. Wir finden zur Musik und zum Theater.

b) Die Schule: Schulpflicht, Schulwesen, Schularten. Der Übergang von der Schule zum Beruf.

c) Der Beruf: Die richtige Einstellung zum Beruf, der Chef und die Mitarbeiter, berufliche Fort- und Weiterbildung. Mein Lohn, vom richtigen Umgang mit dem Geld.

d) Das Gemeinwesen:

1. Die Gemeinde: Aufbau, Aufgaben und Einrichtungen der Gemeinde. Besonderheiten unserer Gemeinde. Die Feuerwehr, das Rote Kreuz.

2. Das Bundesland: Aufbau und Aufgaben, Besonderheiten unseres Bundeslandes. Der Fremdenverkehr.

3. Der Staat: Aufbau, Wesenselemente der Demokratie, Exekutive, Bundesheer, Parteien.

4. öffentliche Institutionen: Volkshochschule, Bildungswerke, Gewerkschaften, Kammern.

5. Die Massenmedien: Film- und Fernseherziehung, Presse.

Wir und die anderen: Der Hunger in der Welt. Glanz und Elend der Entwicklungshilfe. EFTA, EWG, Co-mecon, Vereinigtes Europa.

Lehrer für Lebenskunde

Es braucht nicht besonders betont zu werden, daß Lehrer für dieses Fach nur jemand sein kann, der selber über ein gewisses Maß an Lebenserfahrung verfügt. Sonst wirkt er unglaubwürdig. Die Jugend ist in ihrer Entwicklungsphase in einem Zustand des seelischen Aufruhrs: Skepsis, Hang zur Selbstherrlichkeit, zur Opposition, zur Negierung einer nicht eindeutig fundierten Autorität und ähnliches kennzeichnen ihren Entwicklungsstand. Daher muß der unterweisende Lehrer In jeder Weise glaubwürdig sein. Aus diesem Grunde ist zu empfehlen, daß der Lebenskundelehrer gleichzeitig auch Klassenvorstand sein soll. Dies deckt sich auch mit der Weisung des Bundesministeriums für Unterricht, „aktuelle Probleme der praktischen Lebensorientierung und Lebensführung In Anknüpfung an konkrete Situationen der Lebenswirklichkeit,., zu klären“. Dies schließt aber nicht aus, daß nicht auch schulfremde Referenten gebeten werden sollen, über bestimmte Themenkreise zu referieren.

Lebenskunde für Mädchen In koedukativ geführten Klassen:

Im Jahr werden es etwa 150 Stunden sein, die zu halten sind. Kann nun eine männliche Lehrkraft alle Stunden oder zumindest die meisten von ihnen gemeinsam halten? Ich möchte sagen, daß sie die meisten Stunden selber halten kann.

Selbstverständlich gibt es Themenkreise, wie etwa die Begegnung mit dem anderen Geschlecht, die Pflege meines Körpers, das spätere Leben als Frau und Mutter in unserer industriellen Gesellschaft und anderes, die nur von einer Frau an die weibliche Jugend herangetragen werden können.

Diesem Grundphänomen unserer menschlichen Existenzform sollen und müssen wir Rechnung tragen. Aber dieser Erkenntnis steht auf der anderen Seite die Tatsache gegenüber, daß wir ein Mädchen um wesentliche Möglichkeiten seiner menschlichen Existenz betrügen, wenn wir seine Gaben auf einem angemessenen Bildungsweg zum Leistungsmaximum nicht entfalten lassen. Wir brauchen die Frau in unseren Tagen, die aufgeschlossen möglichst vielen Bereichen des Lebens gegenübersteht. Dann ist es ihr möglich, als „Ferment der Humanität sozusagen“ von Menschlichkeit, von Warmherzigkeit und auch von Charme eine zu nüchterne Welt zu durchpulsen.

So erleben beide Geschlechter gemeinsam, daß Sachverhalte männlich und weiblich gesehen, durchdacht und gelöst werden können.

Und so betrachte ich es als durchaus tragbar, wenn die Lebenskundestunden, bis auf die oben erwähnten Ausnahmegebiete, gemeinsam und von einer männlichen Lehrkraft gehalten werden. Allerdings setzt ein solcher Unterricht eine reife Lehrerpersönlichkeit voraus.

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