Original Play zugeschnitten - © Jacqueline Schneider / originalplay.at

Die Causa „Original Play“

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Körperkontakt mit Fremden als Kurseinheit in Kindergärten und Schulen. Was befremdlich klingt, wurde jahrelang auch in Österreich praktiziert. Eine Spurensuche.

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Körperkontakt mit Fremden als Kurseinheit in Kindergärten und Schulen. Was befremdlich klingt, wurde jahrelang auch in Österreich praktiziert. Eine Spurensuche.

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„Wenn ich Original Play in Kindergärten und Schulen vorstelle […], spüre ich, wie die Kinder (fast alle) sofort instinktiv wieder wissen, wie Spielen geht und sich vertrauensvoll auf mich legen oder auf meinen Rücken springen. Jedes Spiel ist anders, aber das Ergebnis ist immer gleich: Wir haben uns alle beglückt.“

Mit diesen Worten stellt sich ein sogenannter „Apprentice“, was auf deutsch wo viel wie „Spielleiter“ heißt, auf der Homepage von www.originalplay.at – dem österreichischen Ableger der Bewegung – vor. Unter dem Button „Spielerfahrung“ hat er alle 44 Kindergärten, Volksschulen und Institutionen aufgelistet, in denen er die Methode bereits angewendet hat. Laut eigenen Angaben arbeitet er seit 2011 mit dieser Art des Körperkontakt-Trainings, bei dem sich (Klein-)Kinder in der Interaktion mit Erwachsenen „wie junge Tiere verhalten können“. Auch Fotos sind zu sehen, auf denen der Spieltrainer auf einer blauen Turnmatte liegt und mit Mädchen und Buben ringt.

Vorwurf der sexuellen Gewalt

Unter dem Link „Medien“ können auf der Webseite ausgewählte Berichte abgerufen werden, in denen das vermeintliche pädagogische Konzept des US-Amerikaners Fred Donaldson (der Initiator der Strömung) Erwähnung findet. Mittlerweile findet man auch ein relativierendes Statement zum aktuellen Diskurs, der für erhebliche Furore sorgt.

Es sind massive Vorwürfe, die in der ORF-Sendung „ZiB 2“ und dem ARD-Politikmagazin „Kontraste“ laut geworden sind. Demnach hätten Eltern aus Hamburg und Berlin berichtet, dass ihre Kinder im Zusammenhang mit „Original Play“ sexuelle Gewalt erlebt hätten. Um sechs Verdachtsfälle handelt es sich dabei. Während die Ermittlungen der Staatsanwaltschaften in beiden Städten wieder eingestellt worden sind – laut Sprecher konnten sich die Angaben der Zeugen nicht bestätigen lassen – gehen die Wogen in Österreich und Deutschland hoch: Nach Aufkommen der Missbrauchsverdachtsfälle hatten das Land Niederösterreich und die „Kinderfreunde“ sofort die Zusammenarbeit mit „Original Play“ gestoppt. Die Wiener Bildungsdirektion empfahl allen privaten Kindergärten und Schulen, die Kooperation einzustellen (eine Partnerschaft innerhalb öffentlicher Einrichtungen hatte es nie gegeben). Das Salzburger Kinderschutzzentrum gab eine Warnung vor dem Verein an alle Kinderbetreuungseinrichtungen heraus. Auch die anderen Bundesländer wollen nachziehen. Und die Volksanwaltschaft hat ein Prüfverfahren eingeleitet.

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Ähnliche Reaktionen gibt es auch in Deutschland. Der Berliner Bildungssenat vermeldete, dass die Methode „insbesondere aus Gründen des Kinderschutzes“ abzulehnen sei. Das bayerische Familienministerium ging noch weiter und erklärte, „Original Play“ würde „dem Missbrauch Tür und Tor“ öffnen.

Die Debatte ruft Erinnerungen zum Fall „Teenstar“ wach, bei dem die Praxis von externen Kursen in die Kritik geraten war (wie die FURCHE berichtete, hatte der Sexualkundeverein an Schulen erzkonservative Inhalte vermittelt). Seither wird im Bildungsministerium an einem bundesweit bindenden Kriterienkatalog für außerschulische Angebote gearbeitet.

Wie ist es möglich, dass Donaldsons Programmatik jahrelang in zahlreichen Erziehungsstätten unterhinterfragt eingesetzt wurde?

Nichtsdestotrotz. Aus der Praxis, bestimmte Kursanbieter extern in Kinderbetreuungseinrichtungen hereinzuholen, konnte sich ein regelrechter Wirtschaftszweig entwickeln. Von Ballett über Fußball bis zu Theater oder Fremdsprachen – das Angebot in Kindergärten und Volksschulen ist mannigfaltig. Dass ein Kind ein, zwei Zusatzkurse pro Woche besucht, ist eher die Regel als die Ausnahme. Nebenbei: Billig ist das nicht. Pro Semester kostet ein Themenkurs zwischen 50 und 200 Euro.

Ohne groß aufzufallen, konnte sich „Original Play“ scheinbar sang- und klanglos in diese Kurs-Maschinerie einbringen. Auch wenn nicht geklärt ist, ob im Rahmen von „Original Play“ sexuelle Übergriffe stattgefunden haben oder nicht – mittlerweile sind sich so gut wie alle Experten einig (zumindest jene, die sich bisher öffentlich geäußert haben), dass ein Kurs, in dem wildfremde Erwachsene mit Kindern auf Tuchfühlung gehen, in Kindergärten und Volksschulen nichts verloren hat. Aber warum schnellen die erhobenen Zeigefinger erst jetzt in die Höhe?

Der oben genannte Spielleiter schreibt, dass sich in seinen Kursen „alle beglücken“ – und das seit Jahren. Angemerkt sei, dass der Genannte über jeden Verdacht erhaben ist und nur zur Veranschaulichung herangezogen wurde. Dennoch: Seine Wortwahl mutet sonderbar und unpassend im Kontext der Kinderbetreuung an. Und das nicht erst seit den im Raum stehenden Missbrauchsvorwürfen gegen seine Kollegen.

Esoterik-Bewegung aus den USA

Auch FURCHE-Autorin Anja Melzer hatte im Rahmen eines Wien-Besuches von Fred Donaldson bereits 2016 auf die Unwissenschaftlichkeit seiner Methode hingewiesen (nachzulesen hier). Nach ihrem Lokalaugenschein bei einer „Spieleinheit“ mit dem Wortführer der Bewegung, der sich offiziell als Psychologe bezeichnete, obwohl er Geologe ist, beschrieb sie einen seiner Leitgedanken folgendermaßen: „Keine Regeln, kein Spielzeug, nicht einmal Worte, nur Körperkontakt und Berührungen.“

Wie ist es möglich, dass Donaldsons Programmatik mit einem zweifelhaften, womöglich sogar strafbaren Hintergrund (Verdacht des Titelmissbrauchs) jahrelang in zahlreichen Erziehungsstätten unhinterfragt eingesetzt wurde? Wie ist es möglich, dass das Geschäftsmodell einer US-amerikanischen Esoterik-Bewegung europäische Kindergärten und Schulen unterwandert? Psychoanalytikerin Rotraud A. Perner (siehe Seite 10) geht davon aus, dass „Original Play“ im Strom des 68er-Gedankenguts mitgeschwommen ist.

„Damals hat man sich gegen die Prüderie der Elterngeneration aufgelehnt und darauf gepocht, den Kindern mehr Körperlichkeit zuzugestehen. Doch in dieser Hinsicht haben sich die Zeiten deutlich gewandelt. Kinder brauchen keine Anleitung für körperliche Nähe.“

Die Art und Weise der Diskussion rund um „Original Play“ bezeichnet Sexualtherapeut Josef Christian Aigner (Universität Innsbruck) indes als kontraproduktiv. „Anstatt danach zu fragen, warum niemand diesen Fake-Pädagogen auf die Finger geschaut hat und ein Kontrollsystem für die Zukunft zu fordern, wird die Körperlichkeit in der Kinderbetreuung im Allgemeinen und die Rolle des Mannes darin im Speziellen unter Generalverdacht gestellt“, kritisiert Aigner. Mit fatalen Folgen, wie er betont. „Berührungen sind notwendig im Kindergartenalltag. Etwa, um ein Kind zu trösten. Aber auch das Herumbalgen gehört dazu. Und aus Forschungen wissen wir, dass gerade männliche Betreuer für die Kinder ein Animationsobjekt fürs Spielen und Attackieren darstellen. Heißt: Die Mädchen und Buben wollen auch einmal einen Mann anfassen können.“

Kontraproduktive Vorurteile

Im Sinne der Heranwachsenden wäre es deshalb, den Fall „Original Play“ strikt zu trennen vom Vorgehen der Fachkräfte vor Ort. „Wir leben ohnehin bereits in einer körperfeindlichen Kultur. Elementarpädagogen, die kuscheln, ein Kind angreifen oder umarmen, werden misstrauisch beäugt. Erst recht, wenn es sich um einen Mann handelt. Dann schrillen alle Alarmglocken“, so Aigner.

Dies hätte dazu geführt, dass die wenigen männlichen Kindergartenpädagogen (rund 1,5 Prozent), die es gibt, innerhalb der Einrichtung eine Sonderrolle einnehmen würden. Viele der Betreuer dürften dort weder wickeln noch mit den Kindern auf die Toilette gehen. Auch gäbe es ihrerseits eine gewisse Scheu, die Schützlinge auf den Schoß zu nehmen. Dahinter steckten laut Aigner meist die Vorurteile der Eltern. „Wir vermitteln unseren Kleinen mit diesem Vorgehen, dass Männer gefährlich sind.“

Zwar kann der Wissenschaftler die Angst vor Übergriffen nachvollziehen, aber der Umgang damit gehe seiner Meinung nach an der Realität vorbei. „Nicht jede körperliche Berührung ist Missbrauch.“ Darüber hinaus merkt er an, dass man anstatt der Heranziehung externer Pädagogen in den Ausbildungsstätten für Elementarpädagogik mehr körperbezogene Pädagogik vermitteln sollte, einschließlich der nötigen Selbsterfahrung.

Stutzig machen Aigner Programme wie „Original Play“: „Während der Anteil an männlichen Elementarpädagogen verschwindet gering ist, engagieren sich dort auffällig viele Männer für dieses körperliche Herumbalgen.“ Zieht dieses Rauf-Programm letztlich doch jene an, die Lust verspüren, wenn sie Kinder angreifen können? „Auszuschließen ist das definitiv nicht.“

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