Die E-Mail-Revolution

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Das E-Mail, die elektronische Post, wurde vor kurzem 30 Jahre alt.

Der Vater des E-Mails heißt Ray Tomlinson, und sein Kind wurde vor kurzem 30 Jahre alt. Aus bescheidenen Verhältnissen stammend hat sich es zu einem kräftigen, kraftvollen Medium entwickelt. Wer schon kann sich das moderne Leben noch ohne E-Mail vorstellen?

Mr. Tomlinson war seinerzeit ein kleiner Computerspezialist, wie es sie in Firmen und Behörden bereits zu Zehntausenden gab. Er arbeitete damals für das Ingenieursunternehmen Bolt, Beranek & Newman in Cambridge/Massachusetts. In seinem Büro standen zwei Computer, jeder so groß wie ein mannshoher Kühlschrank. Tomlinson schwebte vor, die beiden Riesen miteinander zu verbinden, so dass man Daten von einem zum anderen transferieren konnte. Für diesen Zweck schrieb er, unbemerkt von der Firmenleitung, ein Softwareprogramm. Es gelang ihm tatsächlich, drei oder vier Sätze von A nach B zu befördern - das E-Mail war geboren.

Wie stolz kann Mister Tomlinson heute auf sein längst erwachsen gewordenes, immer intelligenter werdendes Kind blicken: Weltweit werden täglich knapp zehn Milliarden E-Mails verschickt. ermittelte die International Data Corporation. Das E-Mail ist, so schwärmte kürzlich die New York Times, "die Hauptstütze jeden Geschäfts, der Leim, der Familien und Freunde zusammenhält, und Romanzen beginnen und enden damit".

Nico MacDonald von der Londoner Forschungsgruppe Spy sieht das nüchterner: "Das E-Mail ist das vollendete Medium, das der Mensch im Zusammenhang mit dem Computer nutzt. Per E-Mail werden Diskussionsgruppen organisiert, Nachrichten und Mitteilungen verbreitet, Käufe und Verkäufe getätigt. Das E-Mail ist das Sprachrohr Internet-Zeitalters."

Als das E-Mail noch ein Zögling war und dementsprechend klein, dachte wohl niemand daran - auch nicht Vater Tomlinson -, dass damit Zeitzonen regelrecht ausgetrickst werden, ja entfallen, dass man damit Dokumente, Videos und Fotos befördern kann - und dass es eines Tages Hunderte von Millionen Nutzern geben wird. Weltweit, so Eric Arnum von Messaging Online, existieren derzeit knapp 900 Millionen E-Mailbriefkästen, etwa die Hälfte davon in den USA.

Das E-Mail birgt auch Gefahren in sich. Gibt man seine Adresse etwa einem Online-Business preis, muss man damit rechnen, noch Jahrzehnte später in Internet-Archiven aufzutauchen. Hat man ein E-Mail geschrieben und verwechselt beim Abschicken auch nur eine Taste auf dem Keyboard, kann der elektronische Brief sonstwo in Cyberspace landen - auch an einer völlig falschen Adresse. Ein E-Mail im eigenen Briefkasten kann zudem eine Mine sein: Während man die Message öffnet, schleicht sich ein Virus ein und lähmt den Computer.

Das E-Mail ist noch weit mehr: Etwas etwa, hinter dem man sich verstecken kann. Per E-Mail werden, so die Erfahrung, Dinge gesagt, die man weder persönlich so äußern noch in einem "richtigen" Brief - "Snail Mail - Schneckenpost" genannt - schreiben würde. Denn das E-Mail ist letztlich auch das Spiegelbild der täglichen, vielleicht stündlichen Stimmung eines Menschen. Der setzt sich hin, schreibt drauflos, drückt den Knopf - und unterwegs ist der emotionsgeladene Brief. Das E-Mail ist spontaner als ein Schriftstück - und so kann man sich mit ihr ungewollt auch Feinde machen. Vincent Cerf, einer der Gründer des Internet und Vizepräsident des Kommunikationsriesen WorldCom, bestätigt das: "Man würde einem Stück Papier kaum anvertrauen, was man oft per Elektronik weiter schickt."

Siegeszug des @

E-Mail-Vater Tomlinson war es auch, der das Zeichen @ nahm, um den Schreiber von seinem Beförderungsmittel zu unterscheiden. Als er seinerzeit dieses Zeichen benutzte, war er sich - so sagt er heute - "überhaupt nicht im Klaren, dass das @ zu einer Ikone für die gesamte vernetzte Welt werden würde". Dass die ersten Sätze, die jemals von einem Computer zu einem anderen geschickt wurden, jemals historische Bedeutung erlangen könnten, dass die Sätze, die Tomlinson vor 30 Jahren von A nach B übertrug Geschichte machen würden - das hätte sich der Mann, der heute bei BBN Technologies arbeitet, nicht träumen lassen. "Und ich weiß nicht einmal mehr", lächelt er vor sich hin, "was ich damals geschrieben habe".

Anfangs war das E-Mail "ungehobelt": Da strömten etwa Nachrichten ohne Punkt und Komma auf den Bildschirm, ohne jeglichen Zwischenraum. Da gab es auch keine Antwort-Funktion. Das änderte 1972 der Technologie-Guru Lawrence Robert. Er schuf den ersten E-Mail-Manager, damals RD genannt, der die einzelnen Nachrichten voneinander trennte. Der Amerikaner Robertson entwickelte zudem ein Archivierungssystem und die "Delete"-Funktion. Die Möglichkeit, auf ein E-Mail "instant", also sofort zu antworten, entwickelte in den siebziger Jahren John Vittal, der als junger Mann als Programmierer an der University of Southern California arbeitete. Er auch erfand die "cc"- und "bcc"-Funktionen, die im Grunde genommen dem heutzutage aus der Mode gekommenen "Kohlepapier" entsprechen: Ein E-Mail wird an einen Haupt- und gleichzeitig als Kopie an beliebig viele Nebenadressaten geschickt.

Wie Computer und Internet, so entwickelte sich das E-Mail rasant - und wurde überschätzt. So sagte das Budgetbüro des US-Senats 1981 voraus, E-Mails würden herkömmliche Briefe so weit reduzieren, dass die US-Post im Jahr 2000 die Zahl ihrer Beschäftigten um zwei Drittel reduziert haben würde. Weit gefehlt: Trotz des gigantischen Wachstums der E-Mail hat sich die Zahl der in den USA verschickten konventionellen Briefe in den letzten 20 Jahren verdoppelt, und die US-Post beschäftigt heute 20 Prozent mehr Menschen als 1981.

Und wieder gibt es Prognosen: In fünf Jahren dürfte die Hälfte aller Rechnungen per E-Mail kommen, jedes E-Mail kann dann auf ein Telefon übertragen und dort von einer Computer-Stimme vorgelesen werden ...

Aber wer weiß wirklich, wie die Wirklichkeit in 20, 30 Jahren aussehen wird?

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