6701440-1963_31_16.jpg
Digital In Arbeit

Die „Felbertaler“ übersiedeln

Werbung
Werbung
Werbung

PÄDAGOGISCHES NEULAND liegt im Pinzgau. Dort nahm es auch den Anfang: Mittersill, sieben Kilometer Straße hinein zum Felbertauern, dann eine enggezogene Waldkurve und schließlich ein hölzernes Jamboreetor mit der selbstgeschnitzten Aufschrift: Werkschulheim Felbertal.

Dahinter eine Anzahl von Gebäuden, grüner Rasen, ein kiesbedeckter Hofplatz und sehr viel Wald. Weiter unten, dort wo die Straße zur Waldkurve hineinführt, sozusagen an der Gabelung von Ammertal und Felbertal, wieder eine ausgerichtete Häuserzeile, Werkstätten und Wohnungen, Schwimmbecken, Tennisplatz und schuleigenes Elektrizitätswerk.

So sieht die Schule heute aus. So baute man sie auf in zwölf erfolgreichen Jahren, die dem österreichischen Schulwesen ein neues Beispiel gegeben haben. Zwölf Jahre sind es her, seit man hier an die Verwirklichung einer Idee ging, die ein neues Feld pädagogischer Möglichkeiten erschloß. Anfang und Ursprung lagen in der Pfadfinder-Idee: Gesunde Erziehung durch gesunde Menschenführung.

Lehrer und Schüler sollten gleich sein und das Gemeinsame ihrer Arbeit sehen, das Verhältnis ihrer beiderseitigen Abhängigkeit. Aus den Grundlagen der rein erzieherischen Aufgabe entwickelte nun der Begründer, Alexej Stachowitsch, sein Gesamtkonzept. Schritt für Schritt. Von Stufe zu Stufe. Er schuf damit ein ganz neues pädagogisches Ideal, das den Bildungshorizont auf drei gemeinsame Pfeiler setzte: Schule, Handwerk und Gruppenerziehung in einem. Ein gemeinsamer Weg von geistiger, manueller und erzieherischer Schulung in notwendiger gegenseitiger Ergänzung sollte geschaffen werden.

DER ANSTOSS ZU DIESER IDEE, zur Gründung des neuen Schultyps, lag im soziologischen Aspekt: Ausgangspunkt war der Mensch und sein Verhältnis zur Umwelt.

Der Schlüssel dazu liegt primär und grundlegend in der Schule und der Erziehung, die den jungen Menschen formt.

Hier folgerten nun die Gründer: „In unserer Zeit der großen technischen Vervollkommnung und des Fachwissens zeichnet sich immer stärker ein Mangel an Persönlichkeiten ab, die trotz gut fundierter Fachkenntnisse noch imstande sind, in größeren Zusammenhängen zu denken und zu handeln. Die gesamte Entwicklung in unserem technisierten Zeitalter bringt somit als Folge der notwendigen Spezialisierung auf einzelne Fachgebiete eine Bildungskrise, in der das Bestehen des einzelnen Menschen in seiner fachlichen Umgebung gefährdet ist. Eine humanistische Allgemeinbildung, wie sie von österreichischen Mittelschulen gegeben wird, erzieht zwar die Jugend zur größeren Aufgeschlossenheit, sie berücksichtigt aber nicht die Hinführung zu praktischen Kenntnissen. Das Verständnis für das Anliegen manuell arbeitender Menschen scheint hier zu fehlen. Den reinen .Praktikern' fehlt aber anderseits, auch wenn sie in höhere oder leitende Stellen vordringen, der notwendige kulturelle Weitblick, das Erfassen der geistigen Zusammenhänge und die richtig wertende Einstellung zur Intelligenz.“

In dieser Problemsituation der traditionellen Allgemeinbildung hatte sich die neue Schule nun ein dreifaches Bildungsziel gesetzt.

Erstens: Vermittlung einer umfassenden Allgemeinbildung im Sinne eines österreichischen Realgymnasiums, mit Abschluß der ordentlichen Reifeprüfung.

Zweitens: Praktische Ausbildung in einem Handwerk (Tischlerei, Schlosserei, Radiomechanik) mit einer Abschlußprüfung, die dem Gesellenbrief gleichzusetzen ist, und drittens: Einführung in ein selbstverständliches Gemeinschaftsverhalten in Schule und Kameradenkreis: Führung der Buben in kleinen, selbstgewählten Gruppen von zehn bis zwölf Schülern. Zusammenführung in einer gesamten Schulgemeinde.

Mit diesen Punkten war dem Konzept der Werkschulheimidee ein Schlußstrich gesetzt. Der theoretische Anfang war gemacht; die Praxis folgte.

Mit großem Enthusiasmus gingen Schüler und Erzieher gemeinsam an die Arbeit. Es waren 34 Begeisterte. Man zählte das Jahr 1951. Salzburgs schulische Obrigkeit hatte ebenfalls ihre erste Zustimmung gegeben. Die Neugierde für den Schulversuch war geweckt.

Im Verlauf der nächsten Jahre stiegen aus dem Wust der ersten Improvisation immer neue Schwierigkeiten auf. Material und nochmals Material mußte herbei. Es fehlte an Decken und Betten und Platz. Jede Hilfe war gut und gelegen. Schüler und Lehrer griffen zu; sie halfen mit und arbeiteten sich mit immer größerer Begeisterung in „ihr“ Werk hinein. Und die Schule wuchs. Sie wuchs tatsächlich. Die beiden Blockhäuser, erster Anfang und Ausgangspunkt, standen bald nicht mehr allein da. Neue Gebäude schoben sich in den Hofplatz hinein.

SCHULE UND HANDWERK spielten sich langsam ein, Man begann zu arbeiten und zu unterrichten. Und aus den stundenlangen Debatten der kleinen Gemeinde um Wohl und Wehe, Fortschritt und Gemeinschaftsideal, begann sich nach und nach die erste demokratische „Verfassung“ des Werkschulheimes Felbertal herauszuschälen. Diese gemeinsame Verfassung, von Erziehern und Schülern geschaffen, wird wohl einzigartig in der österreichischen Schulgeschichte bleiben. Schüler und Lehrer erhielten ihr Stimmrecht in einer Schulgemeinde. Schüler und Lehrer stimmen über jeden Neuen ab.

Jeder neu Hinzugekommene hatte eine Auslesewoche und eine dreimonatige Probezeit zu absolvieren. War das geschehen, so schritt man zur Urne, um über ein weiteres Verbleiben, über eine Aufnahme der „Neuen“ in die Schulgemeinde abzustimmen. Dieser Abstimmungsgang galt auch für die Aufnahme von Lehrern und Erziehern. Schüler und Lehrer hatten ihre eigenen Instanzen. Sie haben sie heute noch: Heimrat und Erzieherrat.

Ein gemeinsamer Erziehungsaufbau, ein gemeinsames Du„ sollte Erzieher und Erzogenen vereinen. Jede Meinung hatte ihr Recht, gehört zu werden. Macht und Herrlichkeit des erzieherischen Befehls waren weitgehend ausgeschaltet. Jeder Bub durfte nach dem „Warum“ fragen.

Wie weit dieses fast schon klassisch anmutende Ideal einer menschlichen Erziehungsgemeinschaft ihr Fug und Recht behaupten kann, sei dahingestellt.

Eines stand jedoch von Anfang an fest: Produkt der ersten Debatten und die Verfassung geändert werden; ihr Konzept verlegte sich aus der Fraternität immer weiter hinüber in die Autorität des Erziehers. Der Keim der Idee blieb jedoch durch alle Jahre hindurch erhalten. Und das auch heute noch.

Geistiger und materieller Weg hatten ihren Zugang zur Öffentlichkeit gefunden. Die Presse begann für das Werkschulheim zu werben; die pädagogischen Richter traten ins Amt. Der neue Schulversuch wurde akzeptiert, das Experiment für gut befunden. Es sollte weitergeführt werden.

Im Jahre 195 5 erhielt die Schule schließlich ihr Öffentlichkeitsrecht; sie konnte weiterhin privat bleiben. Staat und Wirtschaft begannen zu helfen. Sie hatten die finanziellen Nöte des Werkschulheimes erkannt; sie glaubten fest an den Erfolg des Unternehmens und brachten Subventionen. Sie helfen der Schule auch heute noch.

DIE UMSTELLUNG von der spontanen Improvisation zu einem geregelten Betrieb in Schule und Heim, wie er heute existiert, erfolgte allmählich und in klein gesteckten Etappen. Die Pionier jähre des neuen Gedankens haben schon längst ihren Abschluß gefunden. Ein gut durchdachter Lehrbetrieb und ein bereits erprobtes Erziehungssystem, das sich im Laufe der Jahre seine eigenen Grenzen ausfeilte, haben dem Werkschulheim neue Begriffe gesetzt. Aus dem Schulversuch der Anfangsjahre ist heute ein pädagogisches Unternehmen par excellence geworden. Das Ausbildungsschema hat sich bereits in sechs abgeschlossenen Matura- und Gesellenjahrgängen bewährt.

Von der ersten bis zu vierten Klasse verläuft der Lehrplan mit den übrigen Mittelschulen gleich, und ein Umsteigen ist möglich. Doch bereits hier ergibt sich eine Neuheit: Die manuelle Arbeit findet ihre erste Formung. Basteln wird zur Pflicht gemacht. Man würde besser sagen, zur Liebhaberei, denn das bastlerische Betätigungsfeld der Unterstufe reicht weit über verspielte Laubsägearbeiten hinaus. Da werden Fidein gebaut und Segelboote. Ganze Nachmittage verbringen die Kleinen in ihrer „Werkstatt“, und ihrer Phantasie wird freier Lauf gelassen. Das Künstlerische findet hier seinen ersten Ausdruck. Und es wird bewußt gepflegt.

Ab der fünften Klasse beginnt die Ausbildung an der Werkbank. Jeder Schüler kann sich selbst für sein Handwerk entscheiden. Man steht ihm beratend zur Seite. Nun w;rd der Aus-

Eine neue Art der Verantwortung kommt in den schulischen Alltag. Das Werkstück wird zur Schularbeit und umgekehrt. Die Verbindung von geistiger und manueller Arbeit verlangt von den Schülern ein großes Maß an Konzentration. Deshalb sind die Klassen klein gehalten. Deshalb nimmt man nicht mehr als zwanzig Schüler in eine Klasse der Oberstufe auf.

VON JAHR ZU JAHR ERWEITERT sich nun das Arbeitsfeld. Gymnasiast und Lehrling bauen gemeinsam auf. Es entwickelt sich eine neue und natürliche Selbstverständlichkeit zwischen Werkbank und Schulbank.

Nach vier Jahren ist die Arbeit an der Werkbank abgeschlossen, die handwerkliche Ausbildung zu Ende. Am Anfang der neunten Klasse liegt der Gesellenbrief beziehungsweise die fachliche Vorprüfung, die dem Gesellenbrief gleichzusetzen ist. Das Gesellenstück ist abgegeben. Der Maturant hat sein verbrieftes handwerkliches Recht in der Tasche. Am Ende des neunten Schuljahres erfolgt der zweite

Ende jeder Frage: ein ideales System verlangt ideale Erzieher, ideale Schüler. Es verlangt Großzügigkeit. Sehr viel Großzügigkeit. Die späteren Jahre sollten den Beweis dafür antreten, daß sich diese Großzügigkeit auf die Dauer nicht behaupten kann. Mehrmals sollte bildungsgang sehr konzentriert. Die blaue Kluft wächst in den Schulbetrieb hinein. Es gibt fast keine freien Nachmittage mehr; sie gehören der Werkbank. Die Zeit zum Lernen bleibt nicht mehr in der Hülle und Fülle, wie sie jeder andere Mittelschüler kennt.

Teil des Werkschulheimabschlusses: die gymnasiale Matura.

Ein Schlußpunkt hat sich im anderen gefunden. Der Geselle ist zum Maturanten geworden; das zweifache Ausbildungsziel ist erreicht. Ein fertiger Werkschulheimer verläßt das Felbertal — ein alter Felbertaler verläßt dal Werkschulheim.

IM WORTSPIEL DIESER BEIDEN KOMPONENTEN liegt nun das Dritte, noch Ungesagte: Hier findet sich der Endpunkt einer Idee, einer Erziehung, die in der Gründungszeit schon ihren Stempel aufgedrückt bekam und ihn bis heute nicht verloren hat. Sie sollte ihn auch in Zukunft nicht verlieren. Denn in dem Wörtchen „Felbertaler“, in seiner Berechtigung, liegt der vollendete Beweis des neuen und demokratischen Erziehungsprinzips. Neben Schule und Handwerk wird der junge Mensch in einer Gruppe herangezogen, in einer freien Gemeinschaft, die er sich selbst gewählt hat. Auch heute noch.

Mit Lehrern und Schülern verbindet ihn das gemeinsame Du. Auch heute noch.

Auch wenn dieser Genetiv der Ansprache einem Autoritätsprinzip entgegengehalten werden kann, das bereits notwendig auf seiner Durchführung besteht, so sollte nie vergessen werden, daß hier das Zugehörigkeitsgefühl zum „Felbertal“ seinen Anfang nahm.

Schulgemeinde, Gruppenleben und glücklich gestaltete Freizeit schufen zwar den „Felbertaler“ und das Bewußtsein eines eigenen kleinen Reiches, das der Erziehung zu Erfolg und Rechtfertigung verhalf.

Im Verlauf der langen Jahre zeigte sich jedoch, daß die weltfremde Äb-gelegenheit des engen Gebirgstales die Grenzen allzu nahe setzte. Winterliche Lawinengefahr tat ihr übriges.

Der Skisport im Felbertal blüht, aber die Einsamkeit rückte immer näher heran. Sie wurde immer deutlicher bewußt. Das kulturelle Geschehen war weit vom Felbertal entfernt. Die Außenwelt fand ihr Ende im oberen Pinzgau.

NACH EINEM PLATZ, DER MEHR Sonne und einen besseren kulturellen Anschluß bietet, hielt man jahrelang Ausschau. Nach einem Platz, der die Außenwelt näher heranbringt. Und heute ist es soweit. Das „Werkschulheim Felbertal“ wird übersiedeln. Und das wird bald sein.

Die .kleine Ortschaft Ebenau bei Salzburg tritt die Mittersiller Nachfolge an.

Das pädagogische Neuland verlegt seine Pforten. Die werden nach außen hin größer sein, heller und besser. Das schulische und erzieherische Konzept soll in dem gleichen Rahmen bleiben, der in zwölfjähriger Arbeit erprobt und abgesteckt worden ist.

Da bleibt nur zu hoffen und zu wünschen, daß dieses schulische Exem-pel auch dort im alten Namen blüht, wo es einen neuen Anfang nimmt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung