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Die Grenzen der Gemeinschaft

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Die Menschen brauchen nicht nur Brot, sondern auch Lebenssinn, Kultur und Visionen. Wer das vernachlässigt, gefährdet den Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft.

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Die Menschen brauchen nicht nur Brot, sondern auch Lebenssinn, Kultur und Visionen. Wer das vernachlässigt, gefährdet den Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft.

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Die „Grenzen des Wachstums” haben Geschichte gemacht. Der Club of Rome wurde mit dieser Publikation zu einem Begriff, und als in der Mitte der siebziger Jahre auch noch die Ölkrise die Knappheit der verfügbaren Ressourcen zu veranschaulichen schien, wurde die Thematik vom „Raumschiff Erde” im Bewußtsein der Bürger sehr rasch wichtig. Beinahe haben wir uns schon daran gewöhnt, daß es in der Mitte des nächsten Jahrhunderts auf dieser Kugel „eng” wird.

Der neueste Bericht der Bertelsmann-Stiftung an den Club of Rome, der kürzlich am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien diskutiert wurde, widmet sich anderen „Grenzen”. Kr handelt von den „Grenzen der Gemeinschaft”. Möglicherweise geraten wir ja nicht nur in äußere Engpässe. Es mag auch mit dem inneren Zusammenhalt der modernen Gesellschaften nicht allzu gut bestellt sein. Peter L. Berger, Soziologe von der Boston University, hat in seinen Schriften unermüdlich nach dem normativen Zusammenhang der Industriegesellschaften, nach den herrschenden Werten, gefragt, auch in jenen Jahren, als das Thema unmodisch und überholt erschien, und er hat in der Diskussion die Leitfragen der umfangreichen Untersuchungen, die dem Bericht zugrundeliegen, herausgestrichen: Brechen in der modernen Welt Konflikte auf, die in die Gewaltsamkeit führen? Lösen sich die Wertsysteme auP Geht es mit Familien und Gemeinschaften bergab?

Oder die hoffnungsvolleren Fragen: Reicht der Zusammenhalt, der „soziale Kitt” in den Industrieländern, am Ende doch? Gibt es Vermittlungsmechanismen, die verhindern, daß die Menschen aufeinander losgehen?

Elf Länder wurden untersucht, um aus ihren Besonderheiten allgemeinere Erkenntnisse herausfiltern zu können: Südafrika, Indien, Chile, Indonesien, Frankreich, Taiwan, USA, Deutschland, Ungarn, die Türkei und Japan. Natürlich stößt man - nicht überraschend - auf die Erkenntnis, daß es in verschiedenen Ländem unterschiedliche Konflikte sind, die bedrohlich werden können. In manchen Staaten handelt es sich eher um die Frage nach der nationalen Identität, die sich in multikul-turalistischen oder fremden-feindlichen Aktivitäten, zuweilen aber auch in Konflikten größerer Dimensionen niederschlägt. Welche Rechte gestehen etwa die Franzosen den zugewanderten Muslimen zu, die ja im Grunde eine ganz andere Lebens- und Staatsordnung anstreben?

Charles Taylor, Philosoph und Politikwissenschaftler aus Montreal, strich in der Diskussion die Identitätsfrage als die wahrscheinlich entscheidende heraus: „Geht es”, so fragte er, „nicht letzten Endes immer darum, daß wir uns fragen, wer wir sind und wo wir dazugehören?” Das muß natürlich einen Sozialwissenschaftler beschäftigen, dessen eigenes Land immer wieder in Gefahr steht, durch derartige Zugehörigkeitsstreitigkeiten auseinandergerissen zu werden.

In manchen Ländern geht es aber auch um „banalere” Dinge: etwa um die Leistungen des Wohlfahrtsstaates, die in den Zeiten von „Sparpaketen” gekürzt werden. Verläßt am Ende auch die Deutschen (und die Österreicher) ihr Gehorsam und ihr Pflichtbewußtsein, wenn die gewohnten Besitzstände ernsthaft bedroht sind?

In ostasiatischen Ländern wieder steht die Frage der Menschenrechte zur Diskussion: Läßt sich in China mit einer autoritären Politik wirklich eine moderne Marktwirtschaft aufbauen, oder müssen sich die inneren politischen Konflikte verschärfen, w.eil Unvereinbares vereint werden soll? Selbst in friedlichen und demokratischen Ländern wie den Vereinigten Staaten flammen immer wieder „Kulturkriege” auf zwischen den „Progressiven” und den „Konservativen”, die nicht einfach nach den Lagern politischer Parteien unterschieden werden dürfen: Wie entscheidet man sich endgültig in den Fragen von Abtreibung und affirmative Aktion, von Schulgebet und homosexuellen „Familien”? Alles das sind aktuelle Probleme, die aber oft ihre langen geschichtlichen Wurzeln aufweisen.

Jänos Koväcs, Politikwissenschaftler aus Budapest, hatte ein einleuchtendes Beispiel bei der Hand, das zeigte, in weleher Weise sich Konfliktlinien zwar umformen mögen, aber doch an historische Konstellationen gebunden bleiben: Seine Schilderung der Auseinandersetzung zwischen den „ We-sternizern” und den „Traditionalisten” im postsozialisti sehen Ungarn verwies auf jahrhundertealte Bilder, die das Denken über die eigene Gesellschaft prägen.

Die postsozialistischen Länder haben die einfachen Modelle ohnehin bereits kräftig in Unordnung gebracht: Man schuf Märkte, man pumpte Geld hinein - und es geschah in etlichen Ländern nicht viel; schon gar nicht entwickelten sich überall selbsttragende Industriegesellschaften, wie tatkräftige westliche Ökonomen erwartet hatten. Die westlichen Sozialwissenschaftler wurden mit der Nase auf jene „weichen” Kategorien gestoßen, die sie bislang übersehen hatten: Die Menschen brauchen Brot, aber auch Sinn. Sie brauchen Anreize, aber auch Visionen. Sie brauchen Struktur, aber auch Kultur. So haben die Sozialwissenschaftler die civil society, die Zivilgesellschaft, und die vielfältigen Gemeinschaften wiederentdeckt, in denen die Menschen leben und einander begegnen. Lange hatte man nur die Individuen und den Staat gesehen, hatte Marktwirtschaft gegen Planwirtschaft gestellt, hatte das rationale Handeln von Bürgern und Politikern beinahe zum Dogma erhoben, in Beschreibung und Vorschrei bung. Aber die Menschen sind nun einmal, so hat Charles Taylor immer wieder in den letzten Jahren deutlich zu ma-, chen versucht, soziale Wesen, und über ihre Wünsche und Rechte zu reden, als ob sie außerhalb jeder Gemeinschaft stünden, ist unsinnig.

Das aber heißt: Es reicht nicht, die Institution des Privateigentums einzurichten, um wirtschaftliche Dynamik auszulösen - man braucht auch die passende „ökonomische Kultur”. Wirtschaft ist mehr als Angebot und Nachfrage. Es reicht auch nicht, Wahlen abzuhalten -- man braucht die erforderlichen „bürgerlichen Institutionen”, in denen sich „Staatsbürger” entwickeln können. Demokratie ist mehr als die Prozedur mit dem Stimmzetteln. Und schließlich reicht es nicht, allein auf die Individuen und ihre Egoismen zu starren - denn sie leben normalerweise in Gemeinschaften der unterschiedlichsten Art, und gerade diese bestimmen ihre Lebensqualität.

Kultur ist wirksam. Ideen und Werte vollziehen ihren Wiederaufstieg. Aber einfache Wertebeschwörungen helfen auch nicht viel. Peter L. Berger machte etwa darauf aufmerksam, daß nicht einmal die Institutionen der Zivilgesellschaft eindeutig als „gute” oder „schlechte” aufgelistet werden können. Ob eine Institution in Konflikten vermittelnd oder polarisierend wirkt, hängt davon ab, von welchen Werten und Ideen sie geleitet wird: „Ob man sich nun mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt innerhalb der Nationen oder aber mit der Stabilität der internationalen Ordnung befaßt, man wird die normativen Konflikte nicht ignorieren können, die beides zu unterminieren drohen.”

Mit Österreich haben sich die Studien nicht befaßt. Also bleibt uns eine Hausaufgabe zu leisten: Wie steht es mit der Wertewelt in diesem Lande? Und mit der Konfliktkultur? Der Autor ist

Professor für Kultursoziologie in Graz.

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