6590803-1952_24_10.jpg
Digital In Arbeit

Die „Gruppe 47“

Werbung
Werbung
Werbung

Im Herbst 1947 sollte wieder einmal eine deutsche Literaturzeitschrift gegründet werden. Man rief einige, meist jüngere und junge Autoren zusammen, die sich in einer ersten konstituierenden Redaktionskonferenz über Form und Art des Blattes einigen sollten. Die Schriftsteller kamen, sie hatten die Taschen voll von Manuskripten, doch als sie endlich da waren, war das Geld für die Gründung nicht mehr da. Da sie mit ihren gefüllten Taschen nicht ganz vergeblich gekommen sein wollten, lasen sie einander ihre Arbeiten vor und diskutierten miteinander. Dies erwies sich als so fruchtbar und anregend, daß man beschloß, Zusammenkünfte solcher Art zu einer ständigen Einrichtung zu machen. So entstand die .Gruppe 47 .

Drei Tage lang sitzen seither zweimal jährlich 40 bis 60 Personen im Halbrund um einen Vorlesenden. Einer nach dem anderen von den aktiven Teilnehmern (der Rest besteht aus Freunden, Kritikern, Beobachtern) tritt aus dem Halbrund heraus, liest, wechselt mit dem nächsten den Platz, ist Subjekt und Objekt der Kritik. Nach jeder Vorlesung beginnt eine lebhafte, temperamentvolle, schonungslose Debatte. .Langweilig“ ist oft das sanfteste Wort, das ein Autor hören muß. Handwerkliches und Inhaltliches werden durchleuchtet, oft wird das Gespräch unversehens allgemeiner und berührt die Grundprinzipien der Literatur und Kunst.

Als neuhinzukommender Gast ist man zunächst etwas skeptisch gegen jegliche Verbindung von Kunst und Organisation. Man hat auch Mühe, sich in die schonungslos aggressive Manier des Diskutierens zu finden. Bald lernt man jedoch den Sinn und Wert der Gruppe verstehen: Die Dezentralisation und Pro- vinzialisierung Deutschlands lassen einen Kontakt der Schreibenden besonders wünschenswert erscheinen, die ohne Hauptstadt völlig isoliert im ganzen Land leben, nichts voneinander wissen und von der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen werden können, solange sie allein bleiben. Und die scharfe Kritik soll die Autoren nicht nur sachlich fördern, sondern auch eine Art hoher Schule demokratischer Auseinandersetzung ersetzen. Schon diese beiden Ziele recht- fertigen die Existenz der Gruppe; und auch der Erfolg bestätigt das gewählte Prinzip.

Man hält an der ursprünglichen Form der Tagungen fest, obwohl sich unter den Unbekannten von 1947 längst mancher erfolgreiche, publizierte und übersetzte Autor befindet. Bei der Frühjahrstagung in Niendorf an der Ostsee waren 40 bis 60 Personen und mindestens doppelt so viele Bücher in der kleinen Hotelhalle vertreten. Es ist auf diesem Weg nicht mehr und nicht weniger gelungen als: einen literarischen „Betrieb“ mit Einschluß neuer Namen in Westdeutschland entstehen zu lassen, auch mit Einschluß von Fehden und Polemiken, mit manchen Schattenseiten; aber die Schönheitsfehler liegen nur an der Oberfläche und sagen nichts aus über den wohlfunktionierenden Blutkreislauf.

Auch stilistische Positionen im großen Kampf zwischen „zeitnah“ und „zeitlos“ sind zunächst unerheblich, sofern nur überhaupt geschrieben, gedruckt und zur Kenntnis genommen wird. Und daß dies heute der Fall ist, dankt Deutschland der Gruppe 47 und ihrem spiritus rector, dem mehrfach preisgekrönten Romancier Hans Werner Richter.

Bei dem naheliegenden Vergleich zwischen der westdeutschen und unserer österreichischen Situation fällt dreierlei auf: Die „jungen“ Autoren sind dort viel älter, sind größtenteils über dreißig — es gibt überraschenderweise in der ganzen Gruppe nur Autoren und keine Autorinnen — deutsche Verleger, Sender und Reporter sind an jedem neufn Talent lebhaft interessiert.

Schon hatte Ende Mai in Niendorf zum erstenmal eine größere Zahl österreichischer Gäste an einer Gruppentagung teilgenommen. Erfreulich an der Begegnung war die selbstverständliche Kameradschaft wie die rückhaltlose Zustimmung zu den Arbeiten der fünf jungen Österreicher. Obwohl die Gruppe mehrheitlich zum Realismus tendiert, wurde nicht nur die Prosa von Milo Dor, sondern auch die Lyrik von Inge- borg Bachmann, schwer zugänglich, expressiv und überreal, anerkannt. (Beide wurden den Lesern der „furche“ durch Proben und Rezensionen vorgestellt.) Den großen Preis, der in jedem Frühjahr vergeben wird, erhielt die Wienerin Ilse Aichinger. So setzte ein literarisches Ereignis die Reihe der erfolgreichen Auslandsgastspiele würdig fort, die dem neuen Österreich mit der Brüsseler Wotruba-Ausstellung, der Pariser Hoch- wälder-Aufführung und anderen Erfolgen Ehre machen.

Die Herbsttagung der Gruppe 47 soll in Salzburg stattfinden, und es wird österreichischerseits hoffentlich alles geschehen, um diesen Plan zu unterstützen. Denn wie im Zeichen des Jahres 47 der Aufstieg der deutschen Nachkriegsliteratur begann, könnte das Jahr 52 entscheidend werden für eine Begegnung über die Grenzen hinweg, die als Basis der künftigen Literatur in deutscher Sprache entscheidend erscheint und im Reich des Geistes, der keinen „Anschluß“, sondern nur friedlichen Wettstreit kennt, längst fällig ist.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung