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Die heitere Seele des Kindes

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Die moderne Pädagogik ist ohne den hohen Stand der Kindespsychologie kaum zu denken. Der jüngstverstorbene Kindespsycholog William Stern, immer noch der bedeutendste seines Faches im deutschen Sprachraum und weit darüber hinaus, hielt den Berliner Kinderarzt Wilhelm Preyer für den Bahnbrecher einer zeitgemäßen Forschungsweise und das Ergebnis seiner sorgfältigen Beobachtungen für das „Eröffnungswerk der modernen Kindespsychologie“. In seinem Werk (1882, „Die Seele des Kindes“) und seinem Wirken erhielt die Wissenschaft vom werdenden Menschenkinde wahrlich sichere Grundlagen, gab er ihr doch durch seine aufmerksamsten und geduldigsten Kindesbeobachtungen Beispiel und Rüstzeug verläßlicher wissenschaftlicher Methodik und Exaktheit.

Bereits eine Generation vor Wilhelm Preyer lebte hier in Wien sein Berufskollege J. E. Löjjisch, Professor für Frauen- und Kinderkrankheiten und Direktor des ersten öffentlichen Kinderkranken- und Impfungslnstituts. Wohl hat er nicht den Weg der minutiösen Registrierung und systematischen Aufzeichnung beschritten, seinen Ausführungen über die Kindesseele liegen jedoch ebenso gründliche und intime Kenntnisse aus dem täglichen Umgang mit Kindern und Müttern zugrunde. Die sich ihm bietende tägliche Erfahrung hat er in sich gleich verarbeitet und erst dann die daraus erwachsenden gereiften Ansichten zu einem Buch geformt und auf diese Weise sein Werk über ,D i e Entwicklungsgeschichte der Seele des Kindes“ leichter lesbar gemacht. Das Werk erschien 1851, also vor nunmehr 100 Jahren. Löbisch ist sich bewußt, daß er nur andeutende Umrisse, die lediglich auf den Gang der Seelenentwicklung im Kinde hinweisen, geben könne. Ist das Werk Preyers eine noch lange nichtausgeschöpfte Fundgrube zur Heraushebung des Entwicklungsganges einzelner Funktionen, so finden wir bei Löbisch bereits eine Kindespsychologie nach Phasen in einem ersten Wurf vor, und zwar im Sinne einer ganzheitlichen Auffassung des werdenden Menschen: nicht so stark intellektuali-stisch durchsetzt wie das Preyersche Werk.

An seiner Phasenlehre, die in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert ist, erkennt man die Grenze seines Erfahrungsbereiches: die älteren Kinder kennt er nicht so genau. Er unterscheidet ein Säuglingsalter von der Geburt bis zum neunten Monat und ein allgemeines Kindesalter bis zum achten Lebensjahr, an das sich das „Knaben- und Mädchenalter“ bis zum 15. beziehungsweise 16. Lebensjahr schließt. Wie bei Preyer ist auch bei ihm — aus naheliegenden Gründen — die erste Phase mit den genetisch bedeutsamen Einzelschritten genauer beobachtet und festgehalten. Mit Ausnahme voii kleineren Schwankungen finden wir da eine auffällige Ubereinstimmung dür Zeitangaben mit neueren Ergebnissen, woraus wir wohl die starke biologische Fixierung der physiologischen Voraussetzung für die psychische Genese in diesem ersten Lebensabschnitt entnehmen können.

Erstaunlich viel von den damaligen Feststellungen ist auch heute „noch“ wahf, und so manches klingt höchst aktuell. Wie schon Herder richtig bemerkt habe, seien kleine Kinder „geborene Physiognomisten“. Das Hervortreten des Ich im dritten Lebensjahr sei in der Entwicklung des Kindes von solch großer Bedeutung, daß diesem Abschnitt in der ganzen Dauer des Lebens wohl nur noch der verglichen werden könne, „ihn aber freilich weit überbietet, wo es sich einmal entscheiden wird, ob sein Weg zur Sonne der Idee hinaufgehen, oder ob es fort und fort engherzig in der Haft seines Egoismus im Staube kriechen soll“. Auch die feinen Züge der Knaben und Mädchen sind im wesentlichen auch heute „noch“ vorhanden.Sind die Knaben trotziger, phantastischer, wißbegieriger und wollen immer für alles Beweise haben, so sind die Mädchen schmiegsamer, gelehriger, neugieriger und nehmen unbeschwerter hin. Sie bleiben mehr dem Individuum verhaftet, und das einzelne und das Unmittelbare spielt bei ihnen überhaupt die große Rolle. Die Mädchen „denken durch ihr Gefühl“, sie erlangen aber trotzdem früher eine gewisse Lebensklugheit, stehen darin über den Knaben und verbinden damit mehr Takt für Ordnung und Schicklichkeit. Für den Knaben wird zusehends das einzelne mehr als Beispiel eines Allgemeinen gewertet — freilich, ohne daß er darum weiß —, und obwohl er einen Forschblick hat, beobachtet er in der Wirklichkeit nicht so genau, worauf neuerdings Ludwig Kla-ges hingewiesen hat.

Als vermutlich erster Kindespsycholog wies Löbisch bereits auf die unerhörte Bedeutung der Selbsttätigkeit des Kindes — das tragende Prinzip der modernen Pädagogik — hin, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt bereits einsetzt: das Bewegen eines Gegenstandes sei seine erste Selbsttätigkeit. Es sei daher ein Mißverständnis der Erwachsenen oder eine Mißdeutung, wenn behauptet werde, daß ein Frühkind alle Sachen immer haben wolle: es wolle sich mit den Dingen bloß beschäftigen, sie bewegen, wenn ihm die Lust dazu komme, das sei alles. Die Begehrungen „entwickeln“ sich nicht nach Willkür: „Wird darin nicht der Laune nach ungebundener Willkür freier Lauf gelassen, sondern eine Regel, ein Gesetz beobachtet, so wird auch das Kind ein Gefühl von Regel, Gesetz gewinnen, dem sich unterzuordnen Notwendigkeit ist.“ Dieses findet er also nicht in der „Entwicklung“ vor, sondern wird von außen — was nicht äußerlich heißen muß — an das Kind herangebracht. Damit eilt er weit auch der bloßen „Entwicklungspsychologie“ voraus und nimmt einen Kerngedanken aus dem bekannten Büchlein von Michael Pfliegler über den „rechten Augenblick“ vorweg.

Es ist überhaupt bemerkenswert, welchen Blick für tiefere, ja tiefenpsychologische Zusammenhänge Löbisch bereits hat. Das erste Begehren ist nach ihm noch unbewußt, und er macht nachdrücklich darauf aufmerksam, daß sich niemand daran stoßen möge, wenn er von einem unbewußten Begehren rede. Auch die Sprechkraft, wie jede freitätige Kraft, breche unbewußt und unwillkürlich hervor. Und die Lüge scheint ihm der „eigentlich faule Fieck in der Natur des Menschen zu sein, und der Ursprung alles Bösen“. Von welch tiefenpsychologischem Kennerblick kündet nicht sein Wort: „Viel kann der Mensch entbehren — nur den Menschen nicht.“ Dieser allgemein wahre Satz ist es doppelt und zehnfach in bezug auf das Kind, und zwar nicht etwa nur, wie man glauben könnte, der physischen Hilfeleistung wegen, sondern vielleicht in noch höherem Grade .der Gesellschaft willen,ohne die auch das Kind nicht sein kann.“ Daher entfaltet 6ich das Gemüt des Kindes schon frühzeitig unter der bildenden Hand der Mutter, des Vaters, „in seiner äußeren Form als Sitte, in seinem inneren Wesen als Sittlichkeit“, denn „gutes Beispiel ist dem Kinde ebenso notwendig wie reine Luft seinen Lungen“. Was würde Löbisch zu den zahlreichen geschiedenen Ehen und den vielen einzigen Kindern sagen!

Als Zeitgenosse des Hauptvertreters des englischen Empirismus, John Stuart Mills, darf sein Werk als Zeugnis höchster Objektivität mitten in der Hochflut des deutschen Materialismus (im gleichen Jahre erschien das Feuerbachsche Werk über Religion) und des verblendeten Siegeslaufes der Naturwissenschaften gelten. Als streng sachlicher Forscher war er ein wahrhaft der Erfahrung zugewandter Kenner der echten Wirklichkeit. Immer wieder nimmt er die Gelegenheit wahr, in der kindlichen Entwicklung die ureigenen menschlichen Züge hervorzuheben. „Das Sichhinwenden nach dem, was nicht unmittelbar zur Stillung eines physischen Bedürfnisses gehört, das interesselose Haften daran, welches den höheren Menschen vom tierischen, den tierischen noch von dem entwickelten Tier unterscheidet, zeigt sich schon in der ersten Periode des Kindes.“ Und das Lächeln ist „der erste Flügelschlag des Geistes“ und überhaupt das Charakteristische des Menschen, woran das Kind sich entzünden, erwärmen, begeistern könne, denn „nicht Nahrung ist es, sondern Freundlichkeit, was dem Kinde das erste Lächeln entlockt“. Dieses Lächeln gehe dem Weinen voraus, und darum ist die Heiterkeit das eigentliche Lebenselement der kindlichen Entwicklung, worauf übrigens auch Preyer eindringlich hinweist. Kinder können nicht lange trauern, sie fürchten den Schmerz: „Heitere Freude nur ist sein Element, sie ist der Sonnenblick und die Sonnenwärme, welche in ihm alle Kräfte hervorlocken hilft.“

Diese Sonne, unter deren wärmendem Schein das Kind im rechten Klima heranreifen soll, ist die heitere Gelöstheit, die frei sich schenkende Liebe seiner Eltern. Und sie ist es, die in letzter Tiefe das religiöse Bedürfnis des Kindes in seinem Wesensgrunde b e-greiflich macht, es bereit macht für die Frohbotschaft, das Evangelium vom liebenden Vatergott. Aus einer tiefwurzelnden Furcht vor einem nicht Gewußten, Unbekannten, Rätselhaften, Verborgenen werde das Kind durch die nahen Eltern in einer sternhellen Nacht zu leisem Schauer gemildert, und so religiös gestimmt und empfänglich für „die Erzählungen von einem himmlischen Vater, der sich liebevoll erweist gegen seine Geschöpfe“. Und das Kind lausche dann willig und gern „den heiligen Geschichten noch mit einem anderen Interesse, als den Märchen von Riesen und Rittern, den vier Haimonskindern und den verzauberten Königinnen“. Auf diesem Stimmungsgrund erwachse 6ein Gefühl der Abhängigkeit von den Eltern und sein Gefühl der Dankbarkeit: sie lassen den kindlichen Gehorsam als selbstverständlich geübte Pflicht erscheinen. „Dieses Gefühl der Pflicht, angeknüpft an die Erzählungen von Gott, mehr braucht es nicht, um alle Elemente der Religion in dem Kind aufzunehmen und unauslöschlich zu machen.“ Mit jedem zarten Seelenband an die Liebe, die Vater, Mutter heißt, geknüpft, sei das Kind mit jeder Faser seines Herzens gekettet an die Liebe, die Gott ist. „So dienen ihm die Eltern zum sinnlichen Unterpfand des unsichtbaren Vaters aller Menschen.

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