Deutschförderklassen: Die Kinder von der anDeren Seite

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Die Deutschförderklasse soll laut Regierung Integration ermöglichen. Im Alltag sieht das meist anders aus. Ein Lokalaugenschein an einer Wiener Volksschule. 

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Die Deutschförderklasse soll laut Regierung Integration ermöglichen. Im Alltag sieht das meist anders aus. Ein Lokalaugenschein an einer Wiener Volksschule. 

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Dilara ist fast fertig mit dem Buchstabenpuzzle. Das große und das kleine "A" hat sie schon auf das gelbe Papier geklebt, nun beginnt die Sechsjährige mit dem Ausmalen der Bilder: Ameise, Affe, Ast. Schon knapp drei Stunden sitzt Dilara, die in Wirklichkeit anders heißt, mit elf weiteren Kindern in der Deutschförderklasse im zweiten Stock. Es ist ein Kammerl, das früher stundenweise für den Religions-oder Werkunterricht verwendet wurde. Doch gleich wird die Glocke läuten: Dann werden die Kinder hinüber zu ihren zwölf Kollegen in der Stammklasse laufen, in die 1C gleich vis-à-vis. Gut möglich, dass man auch hier gerade das "A" entdeckt hat. Doch nun ist Turnen angesagt - jenes Fach neben Zeichnen und Musik, in dem alle 24 Kinder zusammenbleiben. Nichts kann sie dann mehr in zwei Klassen teilen, nicht einmal die schwere deutsche Sprache.

Separat statt integrativ

Einen Stock tiefer sitzt derweil Gerald Mülleder in seinem Büro. Seit 16 Jahren leitet der studierte Germanist und Historiker die Volksschule Stolberggasse in Wien-Margareten. So hoch der Migrantenanteil dieses Bezirkes ist, so bunt ist seine Schülerklientel: Rund 200 der 232 Kinder sprechen zu Hause eine andere Sprache als Deutsch. Kinder, die wegen mangelnder Kenntnis der Unterrichtssprache als "außerordentliche Schüler" eingestuft werden müssen, hat er bislang integrativ im Klassenverband fördern oder stundenweise herausnehmen können. Elf Wochenstunden waren für diese "Sprachförderkurse" oder "Sprachstartgruppen" vorgesehen. Nun müssen diese Kinder - sobald es mehr als acht an einem Standort sind -in separaten "Deutschförderklassen" nach eigenem Lehrplan unterrichtet werden. 15 Stunden pro Woche, drei am Tag.

Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) verspricht sich von dieser Maßnahme eine bessere und gezieltere Förderung als bisher: 27 Prozent der Kinder mit nichtdeutscher Erstsprache hätten schließlich laut Bildungsstandardtests Mühe mit den einfachsten Leseaufgaben, und laut internationaler Lesestudie PIRLS nehme die Leistungsdifferenz zwischen Schülern mit und ohne Migrationshintergrund weiter zu. Durch standardisierte Sprachtests bei der Schuleinschreibung will der Minister zudem mehr Transparenz in die Kategorie "außerordentlicher Schüler" bringen.

Kritiker warnen freilich von Beginn an vor sozialer Segregation durch eigene "Deutschklassen" - und vor organisatorischem Chaos bei der Umsetzung. Tatsächlich hat sich das Bundesland Wien, wo fast die Hälfte der österreichweit rund 700 Deutschförderklassen gestartet sind, zu Schulbeginn eine dreiwöchige Frist erkämpft, in der noch alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden konnten. "Diese drei Wochen waren sehr wichtig", betont auch Gerald Mülleder in der Direktion. Durch den gemeinsamen Start in der Stammklasse habe sich nicht nur eine Gemeinschaft entwickelt, es sei auch möglich geworden, Kontakt zu den Eltern aufzubauen und sie mit der Diagnose "Deutschförderklasse" nicht vor den Kopf zu stoßen. "Viele waren ja besorgt, ob ihre Kinder später den Umstieg in die Regelklasse schaffen", erzählt der Direktor. "Alle Eltern wünschen sich ja das Beste für ihr Kind, auch wenn das viele nicht glauben." Nicht zuletzt habe man in dieser Zeit auch die Deutschkompetenz der Kinder nochmals überprüfen können -viel genauer als bei der Schuleinschreibung im Jänner.

Glück muss man haben

Die Zahl der "außerordentlichen Kinder", die in die "Deutschförderklasse" müssen, hat sich dadurch weiter reduziert. 24 Kinder sind es nun in der Stolberggasse, fünf weniger als geplant. "Es ist ein pädagogisches und didaktisches Glück, dass es sich so ausgegangen ist", meint Mülleder beim Gang hinauf in den zweiten Stock. Wären es nur 19 "ao-Kinder" gewesen, hätte er nicht zwei kleine, sondern eine große Deutschförderklasse eröffnen müssen; außerdem sitzen nur Taferlklassler darin, weil der Schule keine älteren Quereinsteiger zugewiesen wurden.

Für besonders hilfreich hält Mülleder das Konzept der Deutschförderklassen dennoch nicht. "Unsere Flexibilität ist schon sehr eingeschränkt", erklärt er. Und die Raumnot, unter der die meisten Schulen leiden, mache die Sache nicht leichter: Weil das "Kammerl" im zweiten Stock nun die Deutschförderklasse beherberge, müsse sich die katholische Religionslehrerin immer eine andere freie Klasse suchen, erzählt Mülleder. Sorge bereitet ihm nicht zuletzt die Frage, wie es weitergehen soll, wenn alle Kinder, wie erhofft, schon nach einem Semester den Übertritt in die Stammklasse schaffen. Statt bisher elf Wochenstunden Deutschförderkurs sind dann nämlich nur mehr sechs Stunden vorgesehen. Außerdem müssen diese Kinder hier sofort beurteilt werden, während man bislang in Absprache mit den Eltern den "ao-Status" noch beibehalten konnte, um dem Kind eine schlechte Note zu ersparen. "Ich freue mich, wenn ich die Schulautonomie, von der immer alle reden, endlich einmal spüre", lautet sein trockener Kommentar.

"Ihr müsst jetzt rüber!"

In der Deutschförderklasse im zweiten Stock hat man sich indes so viele Freiheiten genommen wie möglich. "Wir machen denselben Stoff wie in der Stammklasse - nur etwas langsamer", sagt Deutschförderlehrerin Catalina Keglevic. Und wie geht es ihren Kindern damit, täglich von der Stammklasse auf die andere Seite des Ganges gehen zu müssen? "Am Anfang habe ich schon ein wenig geschluckt, wenn die anderen Kinder zu ihnen gesagt haben: Ihr musst jetzt rüber!", erzählt Keglevic. Eine Zwischenbilanz zu den Fortschritten ihrer Kinder, die zu Hause türkisch, arabisch, serbisch und kroatisch sprechen, will sie noch nicht ziehen. Dilara jedenfalls habe schon viel gelernt. "Ich habe große Freude mit ihr", sagt Keglevic.

Warum dieses Mädchen trotz einjährigen Kindergartenbesuchs in ihre Klasse musste, bleibt aber offen. "Die Zeit dort hat offenbar nicht ausgereicht", meint Direktor Mülleder. "Oft sind die Kinder ja nur bis mittags dort." Tatsächlich soll im Rahmen der neuen 15a-Vereinbarung über die Elementarpädagogik die sprachliche Förderung im Kindergarten deutlich verstärkt werden. Der Gesetzesentwurf des Bildungsministeriums sieht sowohl mehr Sprachstandsfeststellungen als auch mehr Fördermaßnahmen insbesondere in den letzten zwei Jahren vor Schulbeginn vor. Beim Berufsverband der Kindergartenpädagoginnen hält man das für kaum umsetzbar, solange es weiter so große Gruppen und zu wenig Personal gibt.

Inci Dirim, Professorin für Deutsch als Zweitsprache am Institut für Germanistik der Universität Wien, sieht noch ein anderes Problem. "Es ist zwar gut, mit Diagnosen zu arbeiten, aber momentan wissen viele Pädagoginnen nicht, wie sie die Kinder adäquat fördern sollen. Und wenn dieses Wissen fehlt, ist die Diagnose vollkommen sinnlos." Sowohl die Elementarpädagoginnen als auch die Lehrkräfte an den Schulen bräuchten viel mehr Fortbildung zum Thema Sprachförderung und Mehrsprachigkeit.

Und was ist mit den Deutschförderklassen? "Ich bin nicht gegen alles, was hier passiert", meint die Expertin, die selbst als Kind türkisch-deutscher Eltern zweisprachig aufgewachsen ist und lange Zeit in Deutschland lehrte. Dass es insgesamt von dieser Regierung mehr Ressourcen als früher für die Deutschförderung gibt, begrüßt sie. Auch seien die ursprünglichen Pläne für die Deutschförderklassen entschärft worden. "Wichtig wäre jedenfalls, dass der Unterricht in diesen Klassen mit Fachbezug stattfindet und die Kinder möglichst schnell wieder in die Regelklassen integriert werden", meint Dirim. Die beste Lösung wären aus ihrer Sicht freilich Ganztagsschulen mit integrativer und durchgängiger Sprachförderung in allen Fächern -unter Einbeziehung der verschiedenen Sprachen der Kinder sowie mit spezieller Deutschförderung und Hausübungsbetreuung am Nachmittag. Um die Eltern an die Schule zu binden, brauche es zudem Sozialarbeiter, die nach dem Community-Modell von sich aus auf die Familien zugehen. "Derzeit ist es ja so, dass viele Mütter und Väter bei Elternabenden nichts verstehen und das Gefühl haben, dass in keinster Weise auf sie eingegangen wird", meint Dirim.

Der Nachmittag als Lernchance

Dass es heute bei der Elternarbeit neue Zugänge braucht, ist auch Gerald Mülleder bewusst. Doch bei ihm in der Stolberggasse decken schon die Freizeitbetreuer vieles ab: Sie eröffnen den Kindern nicht nur zusätzliche Lernchancen -jenseits der Muttersprachenlehrerinnen in Türkisch und Bosnisch-Kroatisch-Serbisch; sie schaffen es auch leichter, mit Eltern ins Gespräch zu kommen. "Ich habe hier eine Frau, die Farsi spricht, einen arabischsprachigen Herrn, der seit 1987 in Österreich lebt, einen türkischen Herrn, der Steuerberater war, eine bosnische Frau mit Jazzgesangsausbildung, eine Lehrerin, die in Teheran Naturwissenschaften studiert hat und eine russische Lehrerin, die zum Thema Verhaltensauffälligkeiten gearbeitet hat", sagt der Direktor. Anders als an Halbtagsschulen gibt es bei ihm auch die Chance, dass die Kinder der Deutschförder- und Stammklasse am Nachmittag Zeit miteinander verbringen. Heute könnten sie sich schon mit Händen, Füßen und den ersten deutschen Worten über die gezeichneten Ameisen unterhalten. Vielleicht sind sie ja ganz ähnlich geworden - dies-und jenseits des Ganges.

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