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Die „Last“ der Prosperität

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Die Wirtschaftspolitik ist noch immer vom Trauma der Depression zwischen den beiden Weltkriegen bestimmt. Aus diesem Grund sind die Maßnahmen der Wirtschaftspolitik auch in der Situation der Vollbeschäftigung auf „Noch mehr Vollbeschäftigung“ gerichtet, während das Wachsen des Bruttonationalproduktes und die Sicherung der Kaufkraft des Geldes nicht so sehr als Gegenstand der Sorge der Wirtschaftspolitik, sondern als Reflex einer auf Vollbeschäftigung gezielten Politik angesehen werden. Während man nun für Vollbeschäftigungs politik wohl eine Definition zu bieten vermag, ist gleiches für den Terminus „Vollbeschäftigung“ nicht möglich. Man weiß vorläufig nur, was nicht Vollbeschäftigung ist.

Bei oberflächlicher Analyse jenes Zustandes, den man als „Vollbeschäftigung“ klassifiziert, ist man geneigt, in ihm einen Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu sehen. Ganz abgesehen davon, daß es nicht einen Arbeitsmarkt, sondern viele Teilmärkte gibt, ist von einem Ausgleich der Nachfrage nach Arbeitskraft und der Größe seines Anbotes keine Rede. Wohl standen einander beispielsweise im August 1960 in Österreich eine Nachfrage nach 37.216 Arbeitskräften und ein Anbot von 44.320 Arbeitskräften gegenüber (im Dezember 1960 waren es 104.000, ein Jahr vorher noch 150.000). Von einem Ausgleich kann aber, etwa unter Bedachtnahme auf die Augustzahlen 1960, keine Rede sein, da ein großer Teil der eine Arbeit Suchenden entweder nicht arbeitsfähig oder nicht arbeitswillig ist bzw. branchenmäßig keine Deckung zu finden ist. Was hat man davon, wenn Bauarbeiter gesucht werden und 50jährige Sekretärinnen ihre Dienste anbieten? Tatsächlich müssen wir daher die Vollbeschäftigung auch als einen Zustand erkennen — wie dies Lord Beveridge stets getan hat —, in dem die Arbeitskraft, als ein elementarer Produktionsfaktor, in einer bedenklichen Weise verknappt ist. Der Anbot-Nachfrage- Ausgleich auf dem Arbeitsmarkt ist daher lediglich eine Modellvorstellung, ein gedachter Augenblickszustand, während sich die Wirklichkeit in den meisten Branchen als Überhang der Nachfrage nach Arbeitskräften, als „Überbeschäftigung", ausweist.

Wohltat oder Plage?

Ist nun e i n Faktor in der Kombination der Produktionsfaktoren in unzureichender Menge vorhanden, können auch die anderen Faktoren nur mit Teilen ihres Bestandes eingesetzt werden. Wenn bei zehn Prozent der Maschinen die erforderliche Maschinenbedienung fehlt, bleiben diese Maschinen ungenützt.

Da wir in unserem Denken noch weithin auf einen Überhang des Anbotes an Arbeitskräften fixiert sind, sehen wir wohl etwa in einem Rohstoffmangel ein kritisches Zeichen, nicht sosehr aber in einem Fehlen von Arbeitskräften. Erst langsam erkennen wir, was es bedeutet, daß bereits in vielen Betrieben beachtliche Teile der Maschinenkapazität mangels menschlicher Arbeitskraft „sterilisiert“ sind, aber trotzdem Kosten verursachen. Der Mangel an Arbeitskräften (zumindest an geeigneten Arbeitskräften) ist fast zur zentralen Ursache unserer wirtschaftlichen Schwierigkeiten geworden und zeigt sich unter anderem auch im Defizit der Handelsbilanz 1960, das sich der Achtmilliardengrenze nähert. Dieses Defizit ist auch auf die mangelhaften Liefermöglichkeiten der heimischen Industrie zurückzüführen, die teilweise ihre technischen Kapazitäten mangels menschlicher Arbeitskraft nicht nützen kann.

Die Vollbeschäftigung, das heißt der Zustand auf dem Arbeitsmarkt, wie er derzeit im Durchschnitt des Jahres besteht, ist als ein markantes Zeichen von Prosperität sowohl ökonomisch wie sozial und moralisch ein idealer Zustand. Trotzdem und gerade deswegen, weil die Prosperität erhalten werden soll, scheint es geboten, alles zu unternehmen, damit nicht „Wohltat" zur „Plage“ wird. Dazu tut aber not, zu verstehen, daß jener Status auf dem Arbeitsmarkt, den wir als Vollbeschäftigung bezeichnen, auch negative Erscheinungen — als Abfallprodukte einer unproportionierten Entwicklung — aufweist. Nun können Einzelerscheinungen, verdichtet zu Aggregaten, durchaus zum Anstoß für Krisen, wenn nicht für sogenannte Rezessionen sein. Auch die Wirtschaftskrise in den USA, die keineswegs mehr eine Teilkrise ist, hat einige ihrer Ursachen in den Bedingungen, die seinerzeit die soviel bewunderte Prosperität in den USA konstituiert hatten.

Lohn- und Preislizitation

Wird die Verknappung der „Ware“ Arbeitskraft zum massenweisen Bewußtsein, so werden, wie wir stets bei Mankos im Bereich der Produktionsfaktoren erkennen, Grenzschichten — diesmal von Dienstnehmern und Dienstgebern — demoralisiert, zumindest verlieren sie das Maß ihres Handelns. Es kommt zum Lohnlizi- tieren einzelner Gruppen, das vielfach keinen beachtlichen Widerstand auf der Seite derer, die den Lohn zahlen, findet, da die Lohn z a h 1 e r ja meist nicht die Lohn träger sind, und in Marktsituationen, wie wir sie jetzt haben, Löhne auch mit Billigung von Dienstnehmern relativ leicht auf die Preise weitergewälzt werden können (Preislizitieren). In jenem Maß, in dem die Arbeitskraft knapp ist, wird eben vielfach auch das entsprechende Leistungsanbot auf dem Markt knapp, was wieder zur „Geneigtheit" führt, höhere Preise zu zahlen. Das zeigt sich in der Tatsache, daß es als Folge der Vollbeschäftigung auch da zu Preissteigerungen kommt, wo noch ungenutzte technische Kapazitäten vorhanden sind. Jedenfalls ist es müßig, zu fragen, ob man von einer Lohn- Preis- oder Preis-Lohn-Spirale reden könne, da die Antriebskräfte nicht allein im Machtbereich der Sozialpartner liegen. Zu allem kommt noch das Schwinden der Wettbewerbsfreudigkeit, zum Teil eine Folge der fortschreitenden Konzentration. So ist nun die Vollbeschäftigung auch als ein „leicht inflationistischer Beschäftigungsstand“ in einer „milden" Inflation ausgewiesen, welche die Lohnanstiege in ihrem realen Effekt zum Teil absorbiert.

Außerordentlich gute Ernte, wie überhaupt die vorherrschende Baisse auf den internationalen Rohstoffmärkten (im Durchschnitt 1960 zirka fünf bis sechs Prozent), ein Überhang des Rohstoffanbots, der bei Getreide zum Ende der Saison 1959 60 allein 126 Millionen Tonnen betrug, hat den latenten Preisauftrieb weitgehend gebremst und für uns verdeckt.

Der Wandertrieb

Neben der Lohnlizitation (und der mit ihr verbundenen, geradezu proportionalen Gewerkschaftsmüdigkeit) zeigt sich die Vollbeschäftigung auch in der bedenklichen Fluktuation der Arbeitskräfte. Betriebe, die vermöge ihrer besonderen Ertragslage relativ hohe Löhne zahlen, wirken ebenso wie ein Sog auf die Dienstnehmermassen wie Berufszweige, in denen die Dienstnehmerr kontinuierlich und geschützt vor den Unbilden des Wetters arbeiten können. Dazu kommt noch eine (durchaus verständliche) Flucht aus der Region der sozial niederrangigen Berufe, so daß man gezwungen ist, zumindest die Berufsausübungsarten in ihrer Bezeichnung zu ändern. Auf diese Weise ist in der Deutschen Bundesrepublik etwa der Titel „Raumpflegerin“ entstanden.

Nun darf aber der Wechsel des Dienstplatzes keineswegs als eine üble Erscheinung bezeichnet werden. Wenn nach klassischer Annahme das Kapital nach Betätigung in jenen Bereichen drängen darf, in denen es beste Verwertung (Rendite) erwartet, kann man es dem Dienstnehmer nicht verargen, wenn er sich auch bemüht, da nun seine Arbeitskraft eine rare Ware geworden ist, diese bestens zu verkaufen. Wenn jedoch der Arbeitsplatzwechsel aus Prinzip (und oft ohne realen Erfolg für den Dienstnehmer) vollzogen wird, entstehen auch auf volkswirtschaftlicher Ebene bedenklich spürbare Anlaufkosten (in der Deutschen Bundesrepublik 1000 DM pro Kopf geschätzt), die das Sozialprodukt empfindlich kürzen können. Überlegen wir, was es — volkswirtschaftlich — bedeutet, wenn in der Deutschen Bundesrepublik der Bauarbeiter sechsmal im Jahr seinen Arbeitsplatz wechselt und in den kaufmännischen Berufen nicht weniger als 70 Prozent pro Jahr auf Stellensuche sind.

Soweit Betriebe die menschliche Arbeitskraft durch Maschinen ersetzen können (Rationalisierungsinvestitionen), mag eine unangemessene (oder doch so scheinende) Forderung von einzelnen Dienstnehmern noch wirksam sein, wenn auch die Vergrößerung der technischen Kapazitäten zuweilen zur Immobilisierung der Betriebe führt. Jedenfalls haben in der österreichischen Investitionsgüterindustrie 51 Prozent der Unternehmen Investitionen vorgenommen, die nur der Einsparung menschlicher Arbeitskraft (und nicht der Erweiterung der Kapazität allein) dienten.

Es wäre vermessen und wider den Sinn aller bisherigen Maßnahmen der Wirtschaftspolitik, wollte man nun den vor allem vom sozialen Standpunkt aus infamen Wunsch nach Bil-

Gesucht wird

dung einer industriellen Reservearmee äußern, nach einem manipulierbaren Reservefonds an Arbeitskräften. Auch der Vorschlag (siehe R. Meidner in „Arbeit und Wirtschaft", 3 1954), gleichsam eine kleine, aber gut bezahlte „Arbeitslosenrücklage“ zu bilden, ist unter Umständen noch ökonomisch, aber kaum sozial diskutierbar.

Die Krisenverhütung muß mit der Gewinnung eines Krisenbewußtseins begonnen werden. Das bedeutet in unserem Fall die Notwendigkeit eines Prosperitätsbewußtseins: Wir haben zu erkennen, daß die relative und absolute Vergrößerung unseres Sozialproduktes in der gegenwärtigen Situation vor allem von der Größe und Qualität der nationalen Arbeitskraft bestimmt ist. Die Bedeutung der Verknappung der Arbeitskraft ist jedoch bisher nur den jeweiligen Dienstnehmern und den Dienstgebern bewußt geworden, kaum jedoch den Konsumenten. Fehlt es an Rohstoffen, etwa an Lebensmitteln, wird die ganze Bevölkerung dieses Tatbestandes in kurzer Zeit gewahr. Gleiches zeigt sich aber nicht, wenn die Arbeitskraft knapp geworden ist, da man sie nur indirekt und unbewußt über die Güter, die von ihr produziert werden, begehrt. Wie viele begreifen, daß sie in vielen Fällen eine Ware nur deswegen teuer bezahlen müssen, weil die in der Ware „geronnene" Arbeitskraft, weil selten geworden, in ihrem Preis gestiegen ist?

Wenn wir in unser Krisenbewußtsein nicht auch die Tatsache der möglicherweise auch bedenklichen Wirkungen eines Arbeitskräftemangels aufnehmen und wenn nicht in der Wirtschaftspolitik dementsprechend gehandelt wird, kann sein, daß wir wohl die Vollbeschäftigung stabilisieren, aber auf der Basis eines relativ oder absolut

Photo: Christa Petri niedrigeren Niveaus des Sozialproduktes. Auch die Wirtschaftsgesellschaft des Orients kennt eine Vollbeschäftigung, der aber ein nach unseren Vorstellungen tiefer Lebensstandard entspricht.

Warnzeichen, die wir nicht mehr übersehen können, sind vorhanden:

Der Produktionszuwachs sinkt, weithin eine Folge des unzureichenden, zumindest des qualitativ und auch moralisch ungeeigneten Anbotes an Arbeitskräften. Die reale Zuwachsrate in den vier Quartalen 1960 (gegenüber der jeweiligen Vergleichsperiode) ist von 10,2 über 7,6 und 6,9 bis auf 4 Prozent im IV. Quartal abgesunken. Bei einem Test des Instituts für Wirtschaftsforschung haben 61 Prozent der befragten Unternehmungen mitgeteilt, daß sie nicht in der Lage gewesen seien, ihr Produktionsvolumen in einem der gegebenen Marktsituation angemessenen Umfang zu steigern. Von diesen Betrieben gaben wieder 43 Prozent einen Mangel an Arbeitskräften als Ursache für die Immobilisierung der Ausstoßgrößen an.

Wenn wir erkennen, daß Vollbeschäftigung und Arbeitskräftemangel nicht gleichzeitig auftreten müssen, daß alle Produktionsfaktoren wohl gleich wichtig, die Arbeitskraft heute aber in ihrer Bedeutung für Größe und Qualität des Sozialproduktes meist wichtiger ist, können wir auch verstehen, wie notwendig es ist, den Faktor „Arbeitskraft" nicht nur pfleglich zu behandeln, sondern auch den volkswirtschaftlichen Bedürfnissen anzupassen.

Wenn es heißt: „Vollbeschäftigung um jeden Preis“, kann man diesem Postulat zustimmen, aber mit einem Vorbehalt: Nicht um den Preis einer Kürzung der durchschnittlichen realen Wohlfahrt!

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