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Die Papierpyramide

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„Österreich über alles“ nennt sich eine neu erschienene Schrift des „österreichischen Instituts zur Erforschung der öffentlichen Meinung“. Die Schrift entwickelt in einem Anhang die Ziele des Instituts, von dem bisher die Öffentlichkeit noch wenig unterrichtet war. Seine beabsichtigten Publikationen sollen vier Arbeitsgebiete umfassen: den österreichischen Staatsgedanken, die schöpferischen Kräfte Österreichs, das demokratische Gedankengut und das öster-reichertum in der Welt. Die uns vorliegende Schrift aus der Feder des ehemaligen Generalkommissars für Verwaltungsreform, Sektionschef a. D. Dr. W. L o e b e 11, verdient eine ganz besondere Verbreitung und Beherzigung. Von den obigen vier Arbeitsgebieten ist heute wohl das Wichtigste das der schöpferischen Kräfte Österreichs. Denn von ihnen werden wir ja zu leben haben. Es ist nun erfrischend, zwischen den scharfsinnig auseinandergesetzten Lehren dieses hervorragenden Kenners, Praktikers und Kritikers der öffentlichen Verwaltung, neben den aufrichtigen Warnungen, die von jedem im Staate Verantwortlichen gar nicht genügend beachtet und eingesehen werden können, die reine Luft eines überlegten Optimismus und der zuversichtlichen Prognose fast autarker Möglichkeiten für unsere wirtschaftliche Existenz einzuatmen. Nichts kann gründlicher den österreichischen Staatsgedanken festigen und mit dem propagandistischen Exuldat des Nazismus aufräumen, daß Österreich allein nicht lebensfähig sei, nichts könnte wirksamer demokratisches Gedankengut festigen und dem öster-reichertum in der Welt Geltung verschaffen, als die Vermittlung derartiger positiver Daten, wie sie diese kaum vierzigseitige Schrift bietet.

Ihre Bedeutung liegt aber weniger in dieser erfreulichen Vorführung des Landes „wo Milch und Honig fließen könnte“ und seiner selbständigen Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten, als in dem Katechismus der Voraussetzungen hiefür: Die nur kurz, aber scharf beleuchteten Themen von unschöpferischem, kostspieligem und überflüssig kompliziertem Apparat und Aufwand unserer Staats-, Länderund Gemeindeverwaltung, von Regierung und Parlament, politischen Parteien, von Bundesbahn und Post und anderen staatlichen Verwaltungen, von Sozialversicherung, Übersozialisierung und Verstaatlichung, müßten Gegenstand täglicher Gewissenserforschung der Verantwortlichen und der Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung sein. Das Thema dieser Schrift: die Anpassung des österreichischen Staatshaushalts an die heute gegebenen wirtschaftlichen Verhältnisse, ist nur in einem Punkte ergänzungsbedürftig: in dem „Wie?“

Wir hatten in krisenhaften Zeiten schon Ersparungskommissionen, Ersparungskom-missäre. Sektionschef Loebell selbst hat auf dem Gebiet der Verwaltungsreform Bestmögliches geleistet. Doch immer wieder hat sich nach kurzem wied;r eine Vermehrung von Ämtern, neue Einbeziehung von Wohnraum in Büros und Kanzleien ergeben, die Schöpfung r:uer Dienststellen,namentlich auch auf wirtschaftspolitischem Gebiet. Ämter ungezählter Namensverbindungen, Wirtschaftsgruppen, Fachgruppen, Abteilungen, Unterabteilungen, Direktionen, Vorstehungen, Ausschüsse, Kammern, Innungen, Genossenschaften, ein großer Teil kaum mehr in einem logischen System geordnet, in positivem oder negativem Kompetenzkonflikt, vielfach verstrickt und dafür für positive und expeditive Arbeit gehemmt, füllen Seiten von Kalendern, erfüllen Stadt und Land. Wir Österreicher sind da mit vielen Servituten belastet: Der bewährte, alte österreichische Verwaltungsapparat hatte in Wien seinen zentralen, mit einem für die große Monarchie gerechneten, räumlichen und personellen Or-ganismus. Die erste Republik 1919 hat ihn mehr oder weniger übernommen. Dazu den magistratlichen Apparat der Reichshaupt-nnd Residenzstadt, der damals mit dem neuen Rathaus, Amtshaus und einigen zugemieteten Stockwerken auskam. Was ist seither alles an Schulen und Wohnhäusern im Rathaus- und Schottcniertel dazugekommen!

Auswirkung von Parteipolitik und Föderalismus haben dann in den Zwischenkriegsjahren zu einer gewohnheitsmäßigen Doppelgeleisigkeit geführt. Schließlich kamen zu all diesem noch immerhin mit Gemüt und Geist arbeitenden bodenständigen Bürokratismus die knarrende hastige Mammutmaschine, die reichsdeutsche Organisationssucht, der nazistische politische und polizeiliche Apparat von Reichs- und Gaustellen, „Treuhändern“, und Beratern, die einander mit „Tempo“ die Akten zuschoben, immer neue Fragebop.cn ersannen, aussandten und einsammelten, Sitzungen am laufenden Band abhielten, Menschen menschenunwürdig Schlange stehen und mit lebenswichtigen und selbstverständlichen Erledigungen bis zum Jüngsten Tage warten ließen.

Wird man sich dieser Anhäufung an bürokratischen Organismen im Laufe des letzten Jahrzehnts auf österreichischem Raum bewußt, so ist man versucht, den Titel obiger Schrift in: „Alles über Österreich“ umzukehren.

Machen wir uns nichts vor! Mit dem „Jüngsten Tag“ jener unglückseligen Zeit haben wir befreite Österreicher noch keine Auferstehung aus den durcheinandergestürzten Trümmern zu verzeichnen. Ein Zuviel an Amtsstellen, wie es Herr Sek-tionschef Loebell ebenso überraschend als überzeugend nachweist, läßt sich nicht mit einigen legislativen Federstrichen abbauen. Denn — und darin lag der Fehler aller bisherigen Abbau- und Reformversuche — es gilt zuerst die überflüssige Arbeit abzubauen. Dann fallen die überflüssigen Amtsstellen, Räume und Personen von selber fort. Zumindest entstehen nicht unter dem Vorwand einer Arbeitshäufung neue. Ist der Krieg die Fortsetzung der Politik mit allen Mitteln der Zerstörung naturgewordener Organismen durch Aufbau künstlicher Schranken und Fallen, so darf es als das Wesen ernster Rückkehr zum Friedensgedanken gelten, alle derartigen Freiheitsbeschränkungen ehrlich und schnell wieder abzubauen und dem natürlichen, bodengeborenen Organismus wieder die volle traditionelle Entfaltungsmöglichkeit zu bahnen. Rationalisierung und Beseitigung von Umständlichkeiten, Schikanen und Unfreiheiten werden darum der realste und kürzeste Weg zu den diversen Problemen wirklichen Friedens sein.

Bleiben wir mit dieser Betrachtung im Lande, so braucht man nicht Eulen nach Athen tragen; man darf aber auch .nicht wie die Eulen tagblind sein, um die vielen Hemmungen einer wirtschaftlichen Arbeit eines wirklich friedlichen Lebens und Wiederaufbaues im Alltag wahrzunehmen. Für Aufzählung von Einzelheiten ist hier nicht der Raum. Gewerberecht, Warenverkehrsnormen, Steuersysteme und jedes Gebiet des Lebens und Regens enthalten heute ein unerträgliches Maß an Differenzierung und Unübersichtlichkeit, daß ihre Handhabung und Unberechenbarkeit unerträglich ist und naturgemäß zu komplizierter unfruchtbarer Arbeit führt. Lassen wir nun die Frage, ob und wie weit diese oder jene Aktenanlage, Aktenverschiebung, Verfassung und Aussendung von ellenlangen Fragebogen, die Beibringung von immer neuen Unterlagen, ein „Referat“ oder Gutachten, Sitzungen und Erhebungen, alles in vielfacher Wiederholung und Weitläufigkeit, wirklich notwendig ist, zum Prinzip und zum Gegenstand der Verantwortlichkeit jedes Chefs und Subchefs werden soll. Vielleicht ist die Gewohnheit und Selbstverständlichkeit, mit welcher tagein und tagaus Überflüssigkeiten und Sinnlosigkeiten vollzogen werden und der wirtschaftlich gebotene Schwung bis zur Verdrossenheit und Resignation der Schaffenwollenden zum Verkümmern gebracht wird, meist eine ungewollte Sünde. Aber Anstellenlassen statt Anstelligkeit, Praktiken statt praktischen Tuns und Lassens, Geschäftigkeit statt Fördern von Geschäft, Umständlichkeit statt Umsatzförderung sind leider alltäglich und weitgehend wahrnehmbare Sünden gegen das Gebot der Stunde. Sie werden in den Vorräumen und vollgepfropften Gängen vielfach diskutiert. Vielleicht ist es eine Art meteorologischer Erscheinung, daß die Spitzen von Ämtern durch den Nebel und Aktenstaub nicht mehr hinaussehen können, wie gleichermaßen lichtvolle Aufklärung von außen nicht zu ihnen dringt — ein Schicksal, das ja audi in unserer österreichischen Geschichte und Politik so häufig zn unverdienter Tragik geführt hat. Denn von der ganzen Papierpyramide und den Labyrinthen der Vorakten sieht ja der Capo, je höher er steht, nur mehr die Spitze und ahnt oft nicht, was unter derselben von Sklaven des Papyruszeitalters und der Aktenwanderung heran- und heraufgewälzt worden ist. Die Gefahr dieser Krankheitsherde, die durch zahllose Einlauf- und Auslaufstellen herumschleichen, in Registern und auf Regalen lauern, um nach neuen anfälligen Zuständigkeiten zu jagen, liegt eben darin, daß sie nicht erkannt werden. Ernste Erkenntnis ist hier Pflicht aller Verantwortlichen, Aufdeckung im einzelnen Aufgabe der öffentlichen Meinung. „Die Angst, Folgerungen aus dem, was man weiß, zu ziehen, war das, was Österreich und die Welt in die Katastrophe hineingetrieben hat.“ So heißt es in der Einfßhrnng zu der eingangs erwähnten Schrift. Es kann im besonderen auch für die Diagnostik unseres inneren politischen Zustan-des gelten.

Praktischer englischer Geist, ökonomischer Sinn des Schweizers, Perhorreszenz jeder zeitraubenden Umständlichkeit oder Überflüssigkeit, der Grundsatz, dem Steuerträger Zeit sparen zu helfen, müssen die Mottos sein. Uberdachte kurze Arbeit, die mehr wert ist als Ressortwanderung von Akten oder die Anfertigung von unwirtschaftlichen Aufstellungen und nutzlosen Evidenzen, Klarheit, Raschheit und Rechtlichkeit, Schaffensfreude und wirklich demokratische Verantwortlichkeit des älteren oder jüngeren Amtsträgers, Einsatz von Persönlichkeit und Überlegung ohne nervöse Hast und Gesetzestreue sind die förderlichsten Requisiten für die kleinen und großen Entscheidungen des täglichen Lebens. Voraussetzung dafür sind aber auch die Klarheit und Kürze der gesetzgeberischen Normen. Ein Wiedererstehen des Vertrauens aller Schichten der Bevölkerung, eine fühlbare Ersparung im Staatsbudget ebensosehr wie eine erfrischende Belebung der Wirtschaft, ja vielleicht sogar eine erhöhte Steuerfreudigkeit werden das Ergebnis eines solchen verständnisvollen Abbaus von Verwaltungsarbeit sein. Anders ausgedrückt, es wäre das Ideal, wenn Staat und Stadt seine brave, unermüdliche Beamtenschaft doppelt honorieren könnte gegen die Verpflichtung — daß nur halb so viel gearbeitet wird. Die unfruchtbare, kostspielige Hälfte der Arbeit aber überall zu erkennen und lahmzulegen, ist das praktische Gebot der Zeit; es gilt, eine Verzerrung demokratischen Gedankengutes zu bannen, den österreichischen Staatsgedanken praktisch zu kultivieren, dem . österreichertum in der Welt den Vorwurf von Amtsschimmel und Bürokratismus zu ersparen.

Der Schrift „Österreich über alles“ müßte noch eine weitere Studie des so praktisch denkenden Sektionschefs nachfolgen, dies mit der Bearbeitung eines jüngst in Erinnerung gerufenen Mottos des alten österreichischen Dichters und Ministerialrates Richard von Schaukai: „Unsere Zeit widerhallt von lärmenden Bewegungen. Aber dem Menschen, der reifen soll, tut wie der Pflanze, die Ruhe not, vor allem die Beruhigung. All das Hasten, Drängen und Treiben ist ein Übel; nur auf dem klaren Spiegel der Seele erscheinen die ewigen Sterne.“ Wenden wir die gedeihliche Lehre auf uns Österreicher an. Wenn alle guten Willens wären, könnte uns die tobende Umwelt wenig anfechten. Gewiß, wir sind nicht allein in unseren Grenzen, sind auf andere angewiesen. Aber nicht in dem Maße, wie es den Anschein hat. Wenn wir die überflüssige Bewegung bei uns selbst abstellten, unsere Kräfte nicht in leerer Geschäftigkeit vergeudeten, würden wir erst merken, was wir aus uns selbst für uns vermögen. Ordnung kreist aus dem Mittelpunkt und wir müssen erst wieder zusammenkommen aus der Zerfahrenheit.

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