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Die Qual allzulangen Sitzens

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DieFurche: Ist in unserer Zeit eine Zunahme an Aggressivität an unseren Schulen zu bemerken? Wenn ich mir Zeitungsberichte des vergangenen halben Jahres ansehe... Alfred Pritz: Der Befund ist nicht so eindeutig. Es gibt Pädagogen, die sagen Ja und andere, die sagen Nein. Was auffällig ist, ist, daß es zu dramatischeren Gewaltszenen kommt. Also seriös kann man nicht sagen, es gibt heute mehr Gewalt als früher. Vielleicht wird Gewalt nur deutlicher in einer Zeit, die mehr Daten dazu zur Verfügung hat. Was zum Beispiel abgenommen hat, sind prügelnde Lehrer. Das hat garantiert abgenommen. Nichtsdestoweniger ist eine der Hauptaufgaben der Schule neben der Vermittlung von Wissen eine Persönlichkeitsbildung. Und da gehört zentral die Verarbeitung von aggressiven Impulsen dazu. Das ist eine Aufgabe, die die Schule leisten muß. Und insbesondere bei Burschen ist das ein großes, schwieriges Problem.

DieFurche: Ist jede sogenannte Verhaltensstörung tatsächlich eine solche -oder ist vieles bedingt durch die A rt und Weise wie Schule heute eben konkret gemacht wird? Man spricht heute auch viel von subtiler Gewalt Pritz: Ich möchte so weit gehen zu sagen, unruhige Schüler haben eigentlich eine sehr natürliche Reaktion. Es gibt diese subtile Gewalt, die zum Beispiel davon ausgeht, daß Kinder ruhig auf dem Sessel sitzen müssen - oft zwei Drittel des Tages, obwohl der Mensch kein Sitztier ist, sondern ein Bewegungswesen, ein Bewegungstier. Das ist auch eine Form der Gewalt. Und daß sich dann insbesondere Pubertierende in den Pausen Luft machen, ist sozusagen nicht Ursache, sondern Folge zum Beispiel dieser für viele unnötigen Sitzqual. Angepaßte Kinder, die still und stumm sind, haben schon resigniert. Das gilt auch für den verbalen Ausdruck. Rinder, die sich äußern können, das sind eigentlich lebendige Kinder. Kinder, die still und stumm sind, die haben abgeschlossen.

DieFurche: Wo liegt da die Grenze zur Unerträglichkeit, zur tatsächlichen Gewalt?

Pritz: Ich glaube dort, wo die Leidensgrenzen der Lehrer an den Schülern und umgekehrt liegen. Es leiden ja auch die Schüler unter Leistungsdruck.

DieFurche: Gibt's da allgemeine Werte - oder ist das individuell sehr verschieden?

Pritz: Es gibt auch den Charakter von Klassen. Das beschreiben ja alle. Zum Beispiel, da ist die 3B, die ist besonders schrecklich, und die 4 C, die ist besonders angenehm - weil das ganze Interaktionsklima, das Gruppenklima, schon Aggressivität ausstrahlt oder auch Kooperativität. Sicher nicht tolerierbar sind Gewaltaktivitäten, wo andere verletzt werden. Aber weil Sie von der subtilen Gewalt gesprochen haben. Dieses Problem tritt ja schon bei den Noten auf. Die sogenannte gerechte Beurteilung existiert ja nicht, sondern Noten geben ein bestimmtes Klassifikationssystem wieder, das der Lehrer im Kopf hat. Es gibt Schüler, die sind eben nicht begabt für ein Fach und haben daher keine guten Noten - was nichts über ihre Person aussagt. Aber wir beide erinnern uns noch gut, wie wir Noten auf unsere Person beziehen, auf unsere gesamte, umfassende Persönlichkeit. Daher unterstütze ich auch sehr diese Bestrebungen, die ver-

Alfred Pritz ist Psychotherapeut in Wien. Verarbeitung von aggressiven Impulsen, sagt er, gehört zur zentralen Aufgabe der modernen Schule. suchen, das Sitzenbleiben abzuschaffen. Das ist eine Entwürdigung für das betroffene Kind, so als ob es schlechter wäre; dabei ist es in bestimmten Leistungsaspekten nicht so gut - abgesehen vom volkswirtschaftlichen Schaden, der enorm ist, ist das Sitzenbleiben völlig unnotwendig. Wir brauchen entsprechende Leistungsgruppen. Gelernt wird nur durch positive Motivation, nicht durch Strafe. Die moderne Pädagogik weiß das mittlerweile. Das ist erfreulich - und ich sehe das an meinem Sohn, der geht jetzt diese Woche in die dritte Klasse Volksschule, da hat sich wirklich vieles total positiv verändert, das muß ich schon sagen, von den Lehrern her.

DieFurche: Wollen Sie das Notensystem abschaffen?

Pritz: Das sage ich nicht. Kinder selbst wollen Noten, die meisten zumindest. Die wollen wissen, wie sie liegen, in der Klassenkonkurrenz. Und ich sehe das auch bei meinem Buben. Eine Lehrerin hat mit uns Eltern die Frage erörtert, verbale Benotung noch in der zweiten Klasse oder schon Noten. Wir waren für die verbale Beurteilung. Unser Bub hat gesagt, er will Noten, das war für ihn auch ein Aufstieg in die schon erwachsenere Ebene. Davon abgesehen braucht's natürlich eine gewisse Leistungsbeurteilung, darum geht es, nicht um die Beurteilung der Persönlichkeit.

DieFurche:. Wie kann das einsichtig gemacht werden?

Pritz: Na zum Beispiel, daß ein Fünfer sozusagen eine Information darstellt und nicht ein Urteil.

DieFurche: Also könnte man mit einem Fünfer durchaus zur Matura gelangen? pRITZ Man müßte Lernmöglichkeiten schaffen, daß der Betreffende es schafft. Und wenn einer nicht maturafähig ist, dann muß man ihm sagen, für dich ist ein anderer Lebensweg besser. Es hilft ja nichts, wenn er die Matura hat und trotzdem alles nicht begreift. Das wäre ja Unsinn.

DieFurche: Es müßte also schon viel früher ein Gespräch beginnen? pritz: Unbedingt.

DieFurche: Ist das auch eine Wurzel aggressiven Verhaltens? pritz: Sicher, Überforderung. Da wird man aggressiv, gespannt. Und natürlich mit vegetativen Beschwerden, mit psychosomatischen Beschwerden.

DieFurche: VonLehrerseite hat sich total vieles positiv verändert, sagten Sie. Den Schüler Gerber gibt's nicht mehr. Leiden heute umgekehrt nicht Lehrer an ihren aggressiven Schülern, bei denen sie keinen Widerhallfinden? pritz: Ich glaube, man kommt nicht drum herum, die natürliche Autorität, die man braucht, zu erobern. Nicht prügeln heißt nicht laissez faire. Viele Lehrer haben früher durch Prügeln ihre Hilflosigkeit überdeckt. Jetzt ist das verboten - nun bleibt nur mehr ihre Hilfslosigkeit über. Und da komme ich mit einer Forderung, die wir auch schon dem Bundeskanzler nahegebracht haben, daß es ein Persönlichkeitstraining für Lehramtskandidaten gibt. Wesentlich ist, ein Lehrer darf es nicht laufen lassen, das wäre eine krasse Mißachtung der Notwendigkeiten, die ein Kind braucht. Ein Kind braucht Grenzen. Das ist überhaupt keine Frage. Nur zu eng dürfen sie nicht sein und zu weit auch nicht. Das ist die Kunst der Pädagogik.

DieFurche: Kommen nicht schon vom Elternhaus viele Geschädigte? pritz: Erster Sozialisator ist die Familie, keine Frage. Viele können aber über die Schule einiges kompensieren und nachholen, was das Elternhaus nicht leisten konnte - und zum Glück auch umgekehrt.

DieFurche: Gibt es Fälle, die aussichtslos sind?

Pritz: Zum Glück gibt es eine Nachlernmöglichkeit. Der Mensch hat ja eine relativ geringe Instinktausstattung, Aber relativ viel Lernmöglichkeiten - auch im Kontakt, im sozialen, im psychischen Bereich. Und Sie müssen sagen, was wäre aussichtslos. Es gibt Kinder, auf die passen Regelschulen nicht, aber in alternativen Schulen blühen sie oft auf. Also ich würde sagen, es gibt Kinder, wo die Regelschule nicht flexibel genug ist, um auf genau diese Charaktere reagieren zu können. Es gibt Kinder, die können keine Stunde ruhig sitzen. Für Minderbegabte gibt's ja die Sonderschulen, da haben wir das. Aber auch Höherbegabte, wenn Eltern nicht die Flexibilität haben, die zum Beispiel in eine Steiner-Schule oder in eine andere Schule zu geben, die leiden dann furchtbar in diesen Regelschulen.

DieFurche: Würden Sie dafür plädieren, Kinder, bei denen es einfach nicht geht, sie an - Anführungszeichen -„ Konzentrationsschulen ” unterzubringen?

Pritz: Ich bin der Meinung, daß es solche Schulen braucht. In Wien gibt's zum Beispiel diese amerikanischen Schulen, die zum Teil freieren Unterricht haben. Die sind für viele Schüler eine Erholung. Und wir haben sicher, weniger bei den Lehrern als bei der Schulbürokratie, noch enorm rigide Strukturen. Da wäre mehr kreativer Spielraum drinnen. Und es gibt ja Schulen, die nehmen sich das und die Welt bricht nicht zusammen. Und niemand wird den Lehrer vergattern, wenn er Ideen entwickelt.

DieFurche: Wie kann Schule von Lehrerseite her heute gelingen? pritz: Das eine ist die Persönlichkeitsbildung, die sollte bei den Akademien beginnen. Jeder, der Lehrer werden will, braucht die Auseinandersetzung mit sich selbst, die Selbsterfahrung oder Persönlichkeitsbildung. Die zweite Idee: Man müßte Lehrer so ausbilden, daß sie auch umsteigen können, weil viele Lehrer ihren Beruf nicht schaffen. Und dann gehört für mich auch diese Art von Pragmatisierung dazu, die ein geringes Einkommen am Anfang, ein hohes am Ende bietet und daher die Lehrer zwingt dabeizubleiben; denn nach 10, 15 Jahren ist er ein Trottel, wenn er das Schulsystem verläßt, weil er dann einfach eine zu gute Pension kriegt. Das ist verkehrt, Sicherheiten zu verlassen, ist extrem schwer. Das müßte man also neu regeln. Dann gibt es in der Schule mehr Flexibilität und die Lehrer sind zufriedener und müssen nicht mit 53 oder 55 krankheitshalber in Pension gehen.

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