Die Wiederkehr der Tugenden

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Ein Kontrapunkt in diesem Dossier: Diktiert die Wirtschaft, welches individuelle Tugend- und Kompetenzset als Bildungsprofil gerade zeitgemäß ist?

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Ein Kontrapunkt in diesem Dossier: Diktiert die Wirtschaft, welches individuelle Tugend- und Kompetenzset als Bildungsprofil gerade zeitgemäß ist?

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Es ist erst 25 Jahre her, daß man in pädagogischen und bildungspolitischen Diskussionen mit Begriffen wie Lernen, Wissen, Erkenntnis, Kritikfähigkeit noch jeden Stich machen konnte. Heute macht man damit keinen mehr. Es geht nicht mehr ums Lernen, allenfalls um das Lernen des Lernens, interpretiert als den Erwerb lebenslanger Lern- und Umstellbereitschaft. Angesagt sind Flexibilität und Anpassungsbereitschaft, selbstredend bei gleichzeitiger Erhaltung von Ich-Identität.

Es geht auch nicht mehr um Wissen, sondern nur mehr darum, wie man sich Wissen beschafft (obwohl man nicht weiß, was Wissen ist). Die Zugänge zum Wissen - so heißt es - werden wichtiger als das Eintreten. Das Mittel wird zum Zweck, der Weg zum Ziel, der Slogan aus der Autowerbung zum Bildungsprinzip. Es geht auch nicht um Erkenntnisse. Um diese schon gar nicht. Daher geht es auch nicht mehr um Kritikfähigkeit. Denn diese setzt Lernarbeit, Wissenserwerb, Erkenntnis (incl. den Zweifel) immer schon voraus. Erkenntnisse sind auf konvertible Informationen geschrumpft. Wissen hat nichts mehr mit der Bildung der Person zu tun, sondern ist Ware geworden. Es geht schlicht um Anpassung an den beschleunigten Wandel, um "humane", mitunter auch "kreative" Anpassung an einen Wandel, der sich selbst beschleunigt. "Die Globalisierung kommt ..." "die Zukunft verlangt ...", "die Wirtschaft erfordert, daß ..." - lauter Invarianten, Variable sind allein die Subjekte (die Unterworfenen). Bildungspolitisches Ziel ist die Fähigkeit zur Selbstorganisation des Lernens angesichts wechselnder Umstände und Anforderungen: "learning on demand". Dieses wird schulpädagogisch vorbereitet durch wechselnde fächerübergreifende Projekte, welche einerseits gruppendemokratisch ermittelten Lernbedürfnissen entspringen, andererseits an regionale Besonderheiten rückzubinden, jedenfalls an den Zeitgeist anzupassen sind.

Die Inhalte (das Wissen), mit welchen man es dabei unvermeidlich auch zu tun hat, sind als Kontingent gesetzt, einer näheren Bestimmung unwürdig. Um dies plausibel zu machen, bedient man sich des Märchens von der Halbwertszeit des Wissens. Da es angeblich schneller veraltet als die letzte Modehose aus der Shopping City, kann der Bildungsbegriff weitgehend von Inhalten (Ballast) befreit werden und eine leere Formalität annehmen, die von einer als Kompetenzenset daherspazierenden Tugendtrias besetzt wird, welche nicht Kontingent ist, sondern absolut (d.i. "losgelöst" von inhaltlichen Spezifitäten).

Selbst-, sozial- und methodenkompetent sollen die jungen Leute werden. Selbstkompetenz entpuppt sich dabei als Fähigkeit, mit sich selbst umzugehen zu können (was mache ich mit mir, wenn ich nichts weiß?). Sozialkompetenz beweist das Subjekt, wenn es sich auf das Handling der Tatsache versteht, daß es außer ihm noch andere arme Hascherln gibt. Schließlich - damit sich diese doppelte Einfältigkeit wenigstens zu einer Dreifältigkeit steigert - präsentiert sich die Methodenkompetenz als Fähigkeit, die Speicher, Netze und Datenbanken "gemeinschaftsstiftend" (Negroponte) bedienen zu können ("bedienen" in der doppelten Wortbedeutung).

"Argumentiere nicht!"

"Habe keine anderen Fähigkeiten und Interessen als diejenigen, die der ökonomische Diskurs und seine Technologien sowieso aufzwingen!" Dies und nichts anderes besagt der bildungskategorische Imperativ heute. Wer wird noch von der "Bildung eines weiten Gedankenkreises" und der "Vielfältigkeit des Interesses" ( J.F. Herbart, 1776 - 1841) reden, aus welchem allein so etwas wie Urteilsfähigkeit erwachsen könnte, wenn wir doch ohnehin unsere Schlüsselqualifikationen haben.

Der pädagogisch großangelegten Verabschiedung des Wissens als Bildung (Lehrplanreform als Rückbildung) entspricht die derzeit beobachtbare Wiederkehr der Moral, die Renaissance der Gesinnungserziehung als Epiphanie einer Tugendlehre, welche noch nie etwas anderes leistete, als die Subjekte mit dem zu befreunden, was ihnen ohnehin blüht. Die Tugenderziehung der Postmoderne gleicht derjenigen der Vormoderne aufs Haar: Eingebleut wird den Subjekten der "amor fati", die Liebe zum eigenen Schicksal.

Tugenderziehungen als pseudorationale Legitimation dessen, was die Verhältnisse ohnehin erzwingen. Der kommende Ethikunterricht bildet hier nur das Tüpfchen auf dem i. Die neue Wirtschaftsmoral wird mit einer säkularisierten und dergestalt ihrer Sprengkraft beraubten christlichen Tugendlehre schmackhaft gemacht und mit einigen Neologismen aus der Sozialpsychologie aufgemotzt. So richtig ident mit sich selbst ist man dann und nur dann, wenn das individuelle Tugend- und Kompetenzset als Bildungsprofil den Anforderungsprofilen der Wirtschaft und der neuen Technologien entspricht.

Deren Imperative lauten: Habe kein Wissen, dessen Halbwertszeit die Dauer deiner Nützlichkeit in einem der McJobs, in denen du dich verdingen wirst, übersteigt!

Sehne dich nicht nach Wissen, welches gewisser sein könnte als deine Anstellung! Begnüge dich mit Informationen! Du darfst sie ebenso schnell vergessen, wie sie die Speicher auf den Bildschirm beamen. Hüte dich vor tieferen Erkenntnissen, denn solche machen dich ungleich und gefährden deine soziale Integration! Strebe nicht nach Bildung! Denn diese wird dich ausgrenzen und deine Kommunikationsfähigkeit gefährden. Sei kommunikativ und kooperativ, d.h. strebe nach Angleichung! Habe also kein Wissen, das dich von anderen unterscheidet. Sei nicht distinktiv! Vor allem: Argumentiere nicht! Es ist terroristisch, andere mit Wissen mundtot zu machen. Sei vielmehr empathisch! Das kannst du nur, wenn du alles Theoretische und alles Kognitive verabschiedest. Berufe dich nicht auf das EU-Weißbuch "Auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft"! So war es nicht gemeint.

Sloterdijks Hinweis Mit den Werten ist das so eine Sache. Sie richten sich schlicht nach den Prämissen der Ökonomie. Damit die Heranwachsenden diese Imperative zu ihren eigenen machen, darf man sie ihnen natürlich nicht sagen. Man muß vielmehr über Lehrplanreform und Lehrer"fortbildung" den Unterricht so modifizieren, daß die distinktive Inhaltlichkeit des Unterrichts (als Fachunterricht) weitgehend verschwindet. Denn nur in der "ganzheitlichen" Arbeit an ganzheitlichen Schlüsselthemen entsteht das ganzheitliche Bewußtsein als Gesinnung und Schlüsselqualifikation.

Fachunterricht hingegen würde Wissen, Unterscheidungfähigkeit, analytische Distanz produzieren, was ja bekanntlich keinen "Sinn"macht. Francis Bacon ist chancenlos gegen die Bildungsmacher von heute: Wissen ist Macht? Schon. "Aber nichts wissen macht auch nichts."

Peter Sloterdijk hat schon mehr als nur etwas Richtiges gesehen, als er in seinem berühmt-berüchtigten Elmauer Vortrag "Regeln für den Menschenpark" darauf verwies, daß Bildungsfragen immer auch Fragen sind, wie "klein" beziehungsweise wie "groß" man Menschen eigentlich haben will. Derzeit scheint "small beautiful" zu sein, wenn auch nicht im Sinn des Erfinders dieses Schlagworts. Denn letzterem ging es bekanntlich um kleine, überschaubare politische Einheiten. Heute geht es eher um kleine Individuen mit kleinen Geschäftigkeiten für das globale Ganze. "Rund, rechtlich und gütig sind sie, wie Sandkörnchen rund, rechtlich und gütig wie Sandkörnchen sind", zitierte Sloterdijk Nietzsche.

Der Autor ist Professor für Pädagogik an der Universität Wien.

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