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„Doch zu viele schauen weg”

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Wir steuern auf einen „Hochleistungsstaat der starken Gewinner” zu, der nur mehr wenig Mitgefühl für Schwächere zeigt. Davor warnt der Caritasdirektor der Erzdiözese Wien, Michael Landau.

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Wir steuern auf einen „Hochleistungsstaat der starken Gewinner” zu, der nur mehr wenig Mitgefühl für Schwächere zeigt. Davor warnt der Caritasdirektor der Erzdiözese Wien, Michael Landau.

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DIEFURCHE: Herr Landau, die Caritas ist einer der wenigen Großbetriebe, dessen ständiges Wxchstum eigentlich keinen Anlaß zum Jubeln gibt? michael Landau: Ja, die Nachfrage nach Rat und Hilfe nimmt ständig zu. Im Vergleich zum Vorjahr sind heuer um 20 Prozent mehr Familien in unsere Beratungsstellen gekommen, die sagten: „Wir schaffen es nicht mehr.” Wir fungieren dann oft als Ratgeber innerhalb des Sozialstaates.

Es stellt sich für mich daher die Frage, ob unser System noch als „anwenderfreundlich” bezeichnet werden kann, wenn der Zugang zu den Sozialleistungen so kompliziert geworden ist, daß er ohne fremde Hilfe kaum mehr zu schaffen ist. Unsere Beratungsstellen haben im vergangenen Jahr 55.000 Menschen betreut. Es ist bedenklich, daß viel Kapazität von Caritas-Mitarbeitern dazu aufgewendet werden muß, um Hilfesuchende und andere durch den Behördendschungel zu führen.

DIKFukC-HK: Was sind die Hauptaufgaben der Caritas heute? LANDAU: In Osterreich steht einer großen Schicht von Wohlhabenden eine beachtliche Minderheit von Armen gegenüber. Die Caritas will jene, die am Rand der Gesellschaft stehen, die bedrängt und hilflos sind, in die Mitte dieser Gesellschaft hereinholen. Es geht uns um den Rlickkontakt unter den Menschen: Die Reichen sollen die Armen sehen können, die Glücklichen die Pechvögel, die Gesunden die Kranken. Caritas soll als „Sehschule” verstanden werden, in der man lernt, daß Not uns alle etwas an geht. Not und Armut sind gesellschaftliche Herausforderungen und nichts, wofür sich der einzelne zu schämen braucht. Es wird heute den Menschen vielfach leicht gemacht, einfach wegzuschauen, auch der Staat schaut gerne weg. Not wird „privatisiert” und Organisatio nen wie der Caritas überlassen.

DIEFURCHE: Wer ist von Armut und Not in unserem Land betroffen? Landau: Arm ist der, der aus dem Netz tragfähiger Beziehungen herausgefallen ist. Arm ist auch der, dem der Raum vorenthalten wird, in dem er sein eigenes Leben gestalten und seine Begabungen und Talente entfalten kann. Armut bedeutet den weitgehenden Ausschluß von gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten. Viel zu eng wird der Armutsbegriff, wen n er auf die rein materielle Armut beschränkt bleibt. Auch bei materiell Reichen gibt es Armut, zum Beispiel Armut an Beziehung und Zuwendung.

Wir in der Caritas sehen eine große Chance unserer Arbeit darin, zu vermitteln, was es heißt: Teilen kann für beide Seiten Gewinn sein. Teilen kann uns helfen, die Sinndimension des Lebens zu erschließen. Wir stehen heute vor der großen Herausforderung, miteinander darüber nachzudenken, wie wir das Vorhandene fair teilen können.

DIEFURCHE: Es spielen aber doch vorwiegend materielle Wertvorstellungen bei der Definition von Armut eine Rolle. Ist das nicht der Grund, weshalb das Problem Armut nicht ernst genug genommen wird?

LANDAU: Vieles wird heute unter einem sehr verengten ökonomischen Spar-Gesichts-punkt gesehen. Erfolg ist fast immer ökonomischer Erfolg. Wirtschaft zu betreiben ist aber kein Ziel in sich. Die zunehmende Ökonomisierung der Dinge bedingt leider häufig den Verlust an Menschlichkeit. Wenn wir auf den „Hochleistungsstaat starker Gewinner” zusteuern, werden immer mehr Menschen an den Rand gedrängt. Das wollen wir aufzeigen. Es ist nicht zuletzt Aufgabe der Caritas, auf jene Umstände hinzuweisen, die den Blick auf die Ursachen der Not verstellen. Staat und Gesellschaft sollten keinesfalls aus ihrer Verantwortung entlassen werden, wenn es um Fragen nach den Ursachen von Not und Armut geht.

DIEFURCHE: Sehen Sie das auch so, daß im Rahmen unseres Wohlstandsmodells es auch zu mißbräuchlichen Ansprüchen und Forderungen an den Sozialstaat gekommen ist? m landau: Ich wünsche mir, daß im politischen Gespräch und in alltäglichen Situationen mit mehr Sensibilität agiert wird. Menschenverachtende Begriffe wie „Sozialschmarotzer” sollten konsequent geächtet werden, weil sie auch dazu führen, daß Menschen die Hilfe in Anspruch nehmen müssen, sich das nicht mehr trauen, und daß denen, die Hilfe in Anspruch nehmen, mit einer gewissen Reserviertheit begegnet wird. Sie werden ausgegrenzt und verächtlich gemacht. Ich denke, daß das teilweise absichtlich geschieht.

Wir sind auf dem falschen Weg, wenn wir Menschen, denen es schlecht geht, auch sprachlich ausgrenzen. Behutsamkeit ist im Umgang miteinander wichtig. Es kann sehr schnell geschehen, daß jemand auf die Hilfe der Gemeinschaft angewiesen ist, daß seine Biographie „abbricht” - durch Krankheit, Scheidung, Alter oder Arbeitslosigkeit. Prinzipiell sollten aber Unterstützungen von professionell arbeitenden Mitarbeitern vergeben werden, um Mißbrauch möglichst zu vermeiden. Hilfe muß nicht nur gut gemeint, sie muß auch gut und professionell sein.

DIEFURCHE: Bei so viel Armut und Not im eigenen Land hört man oft die Frage, warum sollen wir auch noch für die Dritte Welt etwas tun3 Landau': Die Tendenz, Armutsgruppen gegeneinander auszuspielen, gibt es. Die Zweitschwächsten werden angestachelt, Wälle gegen die Schwächsten zu errichten.

Wenn wir uns der Erkenntnis verschließen, daß wir alle Bürger einer Welt sind, und nicht erkennen, daß wir miteinander an der Welt bauen müssen, so werden wir eines Tages feststellen, daß wir gar keine Welt mehr haben, an der gebaut werden ■ kann. Unsere Verantwortung füreinander sollte daher nicht an den Grenzen des Landes halt machen.

DIEFURCHE: Welche konkreten Forderungen haben Sie an die Regierung, etwas gegen die „Armutsfalle ” zu tun?

LANDAU: Dort, wo Härten entstanden sind, also bei kinderreichen, einkommensschwachen Familien und Alleinerziehern, sollten diese abgefedert werden.Undifferenzierte Kürzungen, wie sie beim Karenzgeld und bei der Geburtenbeihilfe vorgenommen wurden, sind sehr bedauerlich. Niemand hat etwas gegen den sparsamen Umgang mit Mitteln. Es ist aber falsch, undifferenziert auf dem Rücken derer, die schwach sind, zu sparen. In Zukunft sollte vor jeder Sparmaßnahme in einer Art „Sozial-verträglichkeitsprüfung” sichergestellt werden, ob sie für die Schwächsten und Ärmsten auch zumutbar ist. Hierher gehört auch eine familiengerechtere Staffelung des Arbeitslosengeldes.

Ein weiteres Problem ist die Tatsache, daß das Karenzgeld immer noch an den Versichertenstatus gebunden ist. Auf diese Weise werden junge Mütter, die in keinem Arbeitsprozeß gestanden sind, „ausgegrenzt”.

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