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Doktorhut tut auch im Alter gut

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Senioren wählen was sie immer schon gerne tun wollten und holen nach, was die politisch beeinflußten Lehrpläne ihrer Schulzeit ausließen.

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Senioren wählen was sie immer schon gerne tun wollten und holen nach, was die politisch beeinflußten Lehrpläne ihrer Schulzeit ausließen.

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Ob ob man für das Musikwissenschaftsstudium das Latinum brauche oder ein Instrument spielen müsse, wie die Wochenstun-denanzahl zu verstehen sei, ob für Senioren ein Studium der Völkerkunde oder der Theaterwissenschaft leichter sei, dies und viele andere Fragen klärt die Seniorenberatung der Osterreichischen Hochschülerschaft an der Universität Wien. Sie, vermindert Hemmnisse und erleichtert Hürden.

Die häufigsten Probleme seien unfreundliche Institutssekretärinnen, mangelnde Retreuung von Diplomarbeiten und - an erster Stelle - der Inskriptionsdschungel. „Wir können nicht jeden an der Hand führen", sagt der zweiundsiebzigjährige Seniorenreferent Heinz Leonhard und rät zu einern Schnuppersemester. Das Zusammenleben und -arbeiten mit den jungen Kolleginnen und Kollegen verläuft reibungslos: „Die Senioren sind nicht nur wegen ihrer sorgsamen Mitschriften beliebt."

Die meisten wählen ein geisteswissenschaftliches Studium. „In Studien mit tristen Berufsaussichten ,wie etwa Geschichte, nehmen die Senioren den Jungen auch keine Labor- oder Seminarplätze weg", sagt Leonhard. Einerseits wählen Senioren, was sie immer scnon gern tun wonien, andrerseits holen sie nach, was die wechselnden, politisch beeinflußten Lehrpläne ihrer Schulzeit ausließen. „Ich habe niemals Philosophie in der Schule gelernt", sagt Leonhard. Lehrer läßt das Lernen nicht los: Seniorenberaterin Erna Mortinger, ehemalige Volksschullehrerin, motiviert die Unschlüssigen mit Zeitungsartikeln, die ihr eigenes Seniorenstudium dokumentieren.

Als Seniorstudent gilt, wer über fünfundvierzig Jahre alt ist und als ordentlicher, außerordentlicher oder Gasthörer immatrikuliert ist. Alle zusammen sind sie in Österreich über 7.000, die Hälfte davon ist an der Wiener Universität inskribiert, zu etwa gleichen Teilen Männer und Frauen. Österreich liegt mit diesen Zahlen über dem europäischen Durchschnitt.

Heinz Leonhard, vormals als Diplomingenieur in der chemischen Industrie tätig, wählte Soziologie, weil er die Verständigung zwischen den Generationen studieren wollte. Das Verhalten seiner Schwiegereltern, „geradewegs in die Isolation", war ihm lehrreich-abschreckendes Beispiel. Vom Studium, dessen Abschluß er solange wie möglich hinauszögern will, habe er viel profitiert, weniger von Vorlesungen, als von der aktiven Mitarbeit in Seminaren. Leonhard will die Aneignung seines Wissens als Dienst an der Gesellschaft sehen: einerseits sollen die Kenntnisse karitativen Organisationen zugute kommen, andererseits bereite seine Generation den kommenden den Weg. „Es wäre eine Katastrophe, wenn die wachsenden Generationen der Alten nur mehr vor dem Fernseher sitzen." Walter und Irene-Friederike Schlögl - Jahrgang 1932 und 1936 - haben gemeinsam einen Magister- und Doktorabschluß in Theaterwissenschaft geschafft. Irene Schlögl wurde zum Studium animiert, weil ihr Mann „nirgends allein hingehen wollte". Walter war Opernsänger und wurde Zollbeamter. Irene war Regieassistentin am Volkstheater, am 26. März wird ein Stück von ihr, das die Orientierungslosigkeit der Jugend thematisiert, in der Bühne 21 uraufgeführt. Für sie, die ihr Leben lang „nach links ging, wenn die andern nach rechts gingen", lieferte das Studium Argumente, um ihre von der Mehrheit oft abweichende Meinung zu untermauern. „In meiner Jugend war blau blau. Jetzt habe ich neu - vergleichend -denken gelernt."

Probleme in der Auseinandersetzung mit den Professoren gab es nie. Die Professoren der Theaterwissenschaft banden das Ehepaar Schlögl in ein Buchprojekt zu „Theater im Bur-genland" ein, ein weiteres Projekt „40 Jahre Volkstheater in den Außenbezirken" wartet. Irene Schlögl kann in idealer Weise ihr in siebenunddreißig Jahren angeeignetes Berufswissen in die Wissenschaft einfließen lassen. Derzeit bearbeitet das Ehepaar den Fonds des Theaters an der Wien von 1923 und ist „einer Sensation auf der Spur". Ehrenamtlich, versteht sich.

Seniorenstudenten sind vielfach für die Mitmenschen aktiv: Erna Mortinger hat den Kulturstammtisch mit Gesprächen und Vorträgen organisiert, Heinz Leonhard Oper in der Wachau, die Schlögls veranstalten heuer schon die neunten Bisamberger Schloßspiele. Es wird Emanuel Schi-kaneders „Das lustige Elend oder die Lyranten" gegeben.

Valerie Rücker , ehemalige Studentin Leopold Rosenmayrs, begründete die „Wissensbörse", die ,über den universitären Rahmen hinausgehend, vermittelt zwischen jemandem, der etwas aus seiner Lebenserfahrung anzubieten hat und einem anderen, der dieses lernen möchte: Wissen aus allen Lebensbereichen - Gemüseanbau in der Wohnung, Einkochen ohne Chemie.

Im Mitteilungsblatt werden zweimal jährlich 1.500 Leute erreicht, für die Vermittlung steht das Cafehaus im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum zur Verfügung. Der Verein mit einem kleinen Kreis ordentlicher und einem größeren fördernder Mitglieder erreicht nicht so viele Leute, wie er gern möchte. Obfrau Valerie Rücker interpretiert dies mit Scheu vor Aktivität. Die ehrenamtliche Arbeit wird nur noch vom Familienministerium unterstützt, das Sozialministerium hat seine Subvention zurückgezogen. Fast könnte man glauben, was auch Christoph Stoik vom Verein „Altern und Kultur" bei Projekten erfuhr , die Aktivität und Eigeninitiative der Senioren fördern sollten: „Die Politiker versichern uns theoretisch ihrer Unterstützung, aber de facto gibt es eine Unzahl von Widerständen, die Aktivität in Seniorenstrukturen unmöglich machen."

Information bei:

ÖH Seniorenberatung:

Heinz Leonhard

Di 16-17 Uhr, Universitätsstraße.

10, Parterre, Zimmer 4

Verein Altern und Kultur, Zieglergasse

)2, 1070 Wien, Tel 522 8815.

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