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„Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so dazu...”

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Langsamkeit, Nachdenklichkeit und Sorgfalt sind wichtige positive Kräfte. Und doch gehen sie durch die rasante Beschleunigung unserer Gesellschaft allmählich verloren (siehe dazu Furche Nr. 7/1997).

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Langsamkeit, Nachdenklichkeit und Sorgfalt sind wichtige positive Kräfte. Und doch gehen sie durch die rasante Beschleunigung unserer Gesellschaft allmählich verloren (siehe dazu Furche Nr. 7/1997).

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Uber Zeit zu sprechen, ist nicht sehr originell. Wir tun es im Alltag ohne Unterlaß: „Wieviel Uhr ist es denn?” fragen gestreßte Manager ebenso oft ihre Sekretärinnen wie die überlasteten Mütter ihre Kinder. Und wenn mal gerade niemand für eine schnelle Antwort zu Verfügung steht, ruft man die telefonische Zeitansage an.

Reden über Zeit ist zeitlich. Wer über Zeit schreibt braucht Zeit und diese Zeit reicht nie aus. Denn Zeit hat man nur dann, wenn man sich mit dem tragischen Schicksal des Menschseins abfindet, daß nämlich alles ein Ende hat.

Mit treffender Ironie hat Horväth in der Formulierung: „Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm' ich so selten dazu” unser Verhältnis zur Zeit, das ja immer auch ein Verhältnis zu uns selbst ist, ausgedrückt. In diesem Satz klingt eine Sehnsucht an, die gegen eine Realität gerichtet ist, die uns Zeitwohlstand versagt. Es ist die Sehnsucht, nicht immer Zeit gewinnen und nicht immer die Zeit beherrschen zu müssen.

Was tun? Der Zeitmangel, den wir alle beklagen, ist einer, den sich die Menschheit selbst verordnet hat. Daher müssen wir nicht die Zeit verändern, wir müssen unser Verhalten in der Zeit verändern. Das aber heißt, daß wir unser Verhältnis zur Zeit und das zu zeitlichen Prozessen in uns und um uns herum korrigieren. Wir dür-

fen die Zeit nicht zu einem Gegner machen, den es zu bekämpfen gilt. Unsere Probleme enden nicht damit, daß wir die Zeit organisieren, im Gegenteil, damit beginnen sie.

Es geht nicht um eine optimale Nutzung der Zeit, die uns die gegen alle Inhalte gleichgültige Uhr anzeigt, sondern um die Entwicklung von Fähigkeiten, Eigenzeiten wahrzunehmen. Eigenzeiten sind jene Zeiten, die durch individuelle Rhythmen und Bedürfnisse bestimmt sind. Es geht bei den Eigenzeiten um einen zeitbezogenen pfleglichen Umgang mit innerer und äußerer Natur. Und das heißt, daß wir aufhören sollten, uns über, das Mittel der .Zeitersparnis selbst-'züm Gegner zu machen, uns -nach einem Wort von Canetti - an jeder Ecke selbst verhaften. Zeit muß man in den Blick nicht in den Griff bekommen. Eigenzeiten leben bedeutet nichts anderes, als sich selbst leben. Es heißt, sich mit dem Sachverhalt abfinden, daß nicht alle Minuten gleich lang sind. Die Langsamkeit, die Trägheit ist eine wichtige und positive historische Kraft. Im langsamen, geduldigen Verstehen und Handeln wird Bealität auch am Horizont von unentwickelten Möglichkeiten begriffen. Unterlassen, liegenlassen, reifen lassen, wird so Teil des Handelns. Hierdurch erst wird wirkliche Entwicklung möglich, nicht nur Zerstreuung und Ablenkung. Es ist die Langsamkeit, die den Blick für die Nähe und das Nahe, fürs Detail und fürs Besondere, ermöglicht. Wir brauchen Bereiche träger Produktivität, wenn wir nicht zum Objekt unseres selbstgeschaffenen Geschwindigkeitsrausches werden wollen. „Wären wir ruhiger, langsamer, so ginge es uns besser, ginge es schneller mit unseren Angelegenheiten voran” (B. Walser).

Langsamkeit ist Bespekt vor den Eigengesetzlichkeiten des Menschen,

und das heißt letztlich Anerkennung von Subjektivität. Dort, wo nur die Beschleunigung als wertvoll angesehen wird, werden die Langsamen diskriminiert. Zwei Drittel aller Fußgänger, die beispielsweise in München totgefahren werden, sind über 65 Jahre alt - ihre Langsamkeit wurde ihnen zum Verhängnis. Beschleunigung istnicht nur Produktivkraft, sondern gleichzeitig auch eine sozial-destruktive Gewalt. Sorgfalt, Zärtlichkeit, Nachdenken, Überlegen, Pflegen, alles das und vieles mehr geht durch die zunehmende Beschleunigung unserer Gesellschaft verloren. <

Wir kqnnten im Warten etwas an , deres, als-nur verlorene 'Zeit: sehen. . Die Möglihkeittllmlich, etwas Neil:

es, Unerwartetes an uns herankommen zu lassen. Wer sich eine Vorstellung davon machen will, wie unsere Gesellschaft das Warten bewertet, der gehe nur in die Wartesäle unserer Bahnhöfe. Beim Warten wohlfühlen - das darf nicht sein. Der Aufenthalt in unseren Wartesälen (wenn sie nicht bereits abgeschafft sind) ist die Strafe für das Verpassen jenes Zuges, den man den Zug der Zeit nennt. Im Grimmschen Wörterbuch ist warten nicht, wie heute, ein Ausdruck für die verlorene Zeit. Dort erklärt man warten folgendermaßen: „Wohin schau-

en, seine Aufmerksamkeit auf etwas richten, versorgen, pflegen, einem dienen” und so weiter. Ein Wörterbuch als Gegenbild zu unserer Zeitkultur, es müssen ja nicht immer die großen alternativen Gesellschaftsentwürfe sein. Nur wer warten kann, der/die kann auch etwas erwarten.

AVir könnten zum Beispiel wieder mehr Pausen machen, Pausen, die nicht nur Unterbrechungen sind, die vielmehr Möglichkeiten der Verarbeitung und der Neuorientierung sind. Pausen könnten so Planungslöcher werden, die mehr sind, als nur Verführungen zum raschen Konsum. Pausen - die auch Pausen der Stille sind.(Richtiger Wohlstand ist immer auch? Zeitwohlstand, und dieser wiederum zeichnet sich durch einen Pausenwohlstand aus. Zeitwohlstand haben wir dann, wenn wir verfügbare Zeit haben, über die nicht verfügt wird. Es ist die Zeit des „Unnützen”, jene Zeit, in der man nicht aufs Nützliche schaut, die nicht mit „nützlicher” Beschäftigung ausgefüllt wird und eben gerade deshalb nützlich ist. Dazu gehört viel lange Weile und ein langer Atem, denn nur dann wird es uns nicht langweilig und nur dann werden wir nicht Atem-los.

Nicht das, was schnell ist, ist immer effizient, sondern auch das, was die Menschen und die Natur schont, das, was entlastet und den sozialen Zusammenhang fördert. Dann auch würde es nicht mehr nur als Störung erlebt, wenn der Mensch krank wird, wenn er altert, wenn er müde oder abgelenkt ist. Und es störte auch nicht mehr, wenn er träumt oder wegen akuter Verliebtheit vorübergehend einen etwas ungewöhnlichen Lebensrhythmus hat. Von unnützen Dingen leben wir ja; und von den nützlichen werden wir aufgebraucht, durch sie kommen wir herunter und sterben.

Seien wirimißtrauisch bei der Einführung von Zeit-Takten. Der Bhy-

thmus ist die menschliche Form des Umgangs mit der Zeit, nicht der Takt. Mißachten wir den Takt - werden wir Takt-los.

Um aus unseren Zeitnöten herauszukommen, sollten wir den Bhyth-mus als Zeitmaß für unser Leben akzeptieren und pflegen. Die Natur ist eine Symphonie von Bhythmen und auch unser Organismus, der ja Teil der Natur ist, pulsiert rhythmisch. Die Biologen und die Mediziner haben bisher mehr als 150 rhythmisch verlaufende Prozesse beim Menschen entdeckt: So zum Beispiel die Körpertemperatur, der Blutdruck, der Herzschlag, die Harnausscheidung, die Konzentrationsfähigkeit, die körperliche Leistungsfähigkeit und so weiter. Auch unser soziales Leben verläuft in Bhythmen. Wir kennen Bhythmen des Arbeitens und Buhens, des Wachens und Schlafens, den Rhythmus der Wochentage und des Wochenendes, rhythmisch gestalten wir das Vereinsleben und das der Familien. Wir essen im Rhythmus und trinken auch häufig in gleichmäßig wiederkehrenden Abständen. Alles dies entlastet die einzelnen und die sozialen Zusammenhänge. Und - was fast noch wichtiger ist - ein an den biologischen Rhythmen orientiertes Leben ist ein die Gesundheit schonendes Leben. Wir bleiben im Gleichgewicht.

Daher meine Empfehlung: Nehmen Sie die Rhythmen in Ihnen und diejenigen, die Ihnen Natur und Kultur bereitstellen, als Maß Ihrer Lebensgestaltung, dann können Sie sicher sein, nicht „Maß-los” zu leben.

Der Autor ist

Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr in München.

Der Beitrag ist ein Auszug aus seinem Referat, das er auf Einladung des Katholischen Bildungswerkes Salzburg gehalten hat

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