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Ein gefährdetes Aktivum Österreichs

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Eine der wichtigsten Aufgaben unserer Industrie ist die stetige Verbesserung ihrer Einrichtungen. Nur so kann sie auf dem Weltmarkt bestehen. Gelingt einer Industrie die Herstellung neuer, wertvoller Erzeugnisse, mit denen sie konkurrenzlos auf den Weltmarkt tritt, so wird sie in hohem Grade Export treiben können. Kann sie zeitweise aber bestimmte Anschaffungen nicht vornehmen, die für den Wettbewerb wichtig sind, so wird sich dies im Rückgang ihres Exports fühlbar machen, ein Ausfall, der aber nach einigen Jahren wieder gutgemacht werden kann. Jedenfalls wird eine gutgeleitete Industrie trachten, in ihrer Ausrüstung auf der Höhe zu bleiben und ausrangierte Arbeitsmittel womöglich durch gleich gute oder bessere zu ersetzen. Was würde die allgemeine Meinung dazu sagen, wenn eine für den Export sehr wichtige, vom Staate betriebene Industrie eine neue, weniger brauchbare Spezialmaschine einstellt, durch welche der Export verlorengeht?

Was hat diese Einleitung mit der Besetzung von Lehrstühlen der Wiener medizinischen Fakultät zu tun? Sie soll ein weithin zutreffendes Gleichnis zeigen. Eine weltberühmte medizinische Schule führt zu einem größeren und wichtigeren Export als sehr viele Industriezweige zusammengenommen. Es ist dies allerdings ein unsichtbarer Export. Eine bedeutende medizinische Schule zieht Hörer aus aller Welt an, die hier jahrelang studieren, hier ihren oft sehr hohen Lebensstandard aus der Währung ihres Landes bestreiten. Sie kommen immer wieder gerne hieher. Sie haben den schönsten und sorglosesten Teil ihrer Jugend hier verbracht, sie kennen sich hier besser aus als in irgendeiner anderen Großstadt und ärgern sich nur über die Namensänderungen von Straßen. Mit vielen Kollegen stehen sie in dauerndem Briefwechsel, um sich Rat und Anregung zu holen. Sie senden schwierige Fälle nach Wien, nicht allein, weil sie ihre Patienten hier in guten Händen wissen, sondern auch aus Dankbarkeit gegen die Wiener Schule. Dieser unsichtbare Export ist also kein kurzfristiger, sondern wirkt sich auf lange Zeitläufte aus.

Dauernd kommen aber auch Ärzte, um ihre fachliche Ausbildung in Wien zu vervollständigen, um zu sehen, was es in dem früher so berühmten Wien Neues gibt. Sie leben monatelang hier, oft mit ihren Familien — ein Angehöriger studiert vielleicht zugleich Musik oder bildende Kunst —, sie kaufen vielerlei ein, was ihnen gefällt. Wo sind die Zeiten, in denen dauernd 200 bis 300 ausländische Ärzte, meist Amerikaner, hier in Wien ihre Weiterbildung betrieben haben? An manchen Kliniken waren nicht genug

Assistenten, um alle Lehransprüche zu befriedigen. Das so hoch geschätzte und vielbegehrte Wiener Zeugnis, das ja nur den Besuch des Unterrichts bestätigte und gar kein Prüfungszeugnis war, konnte erst nach dreimonatigem Aufenthalt und dem Nachweis einer ganz bestimmten Anzahl von Unterrichtsstunden auf Antrag der „American medical Association of Vienna“ vom Dekan unserer Fakultät ausgefertigt werden.

Medizin, Musik und Kunst, das sind die wichtigsten Aktiven Wiens und Österreichs.

Wenn man von diesem unsichtbaren Export der Wiener medizinischen Schule spricht, denkt man zuerst an die Zugkraft der weltberühmten Kliniker. Mit Unrecht. Der pathologische Anatom Rokitansky, der Anatom Hyrtl und der Physiologe Brücke haben wahrscheinlich mehr Studenten nach Wien gezogen als die Kliniker. Ja, Rokitansky schuf erst das Fundament, auf welchem die Kliniker aufbauen konnten. Der Zustrom von Studenten des Auslandes war so groß, daß später Billroth ernstlich vorschlug, man möge die Aufnahme der Ausländer einschränken! Sorgen um das Gleichgewicht von Einfuhr und Ausfuhr hatte man damals jedenfalls nicht.

Unsere Pflicht ist es, der Wiener Universität ihre frühere Größe zurückzugewinnen. Doch da begegnen wir außerordentlichen Hindernissen. Es ist nicht möglich, für frei gewordene Lehrstühle den besten Fachvertreter des deutschen Sprachgebietes zu gewinnen, ja nicht einmal den besten Fachvertreter unseres eigenen Landes Österreich. Warum? Da haben wir einen reinen Theoretiker, von dem wir große Stücke halten, aus der Schweiz berufen. Er ist wirklich gekommen. Ihm wurde ein Monatsgehalt von 3000 S zugesichert, der Höchstgehalt. Nach allen Abzügen blieben ihm etwas über 1700 S. Die Vornahme der Prüfungen trat er meist an seine Assistenten ab. In der Schweiz bekam er als Extraordinarius das Achtfache dieser Summe, heute wird der Unterschied noch größer sein. Als wir bei ihm in Basel in einer schönen Villa zu einem großartigen Abendessen eingeladen waren, zugleich mit vielen Baseler Kollegen, lag auf seinem Platz eine Tischkarte, worauf sein Bild gezeichnet war als eine in der Mitte durchgerissene Person. Darunter stand „Der Zerrissene“. Er hatte damals schon ein Semester in Wien unterrichtet. Die eine Seite des Bildes wird in die Richtung Wien gezerrt, die andere von Basel festgehalten. Es zieht ihn wohl zu uns nach Wien, zu diesem schönen und großen Wirkungsfeld. Außerdem ist es immer noch eine Ehre, Professor an der Wiener Universität zu sein. Auch die

Wiener Musik zieht ihn an. Wer kann von ihm aber erwarten, daß er in einem einfachen Wiener Hotel mit seiner Mutter wohnt und seinen Lebensstandard so herunterschrauben soll oder sich Geld aus der Schweiz kommen lassen muß, um hier seinem Stande gemäß leben zu können? Er ist inzwischen in die Schweiz zurückgereist.

Diese Wohnungsfrage, das ist neben dem entwerteten Gehalt ein anderes wirksames Abschreckungsmittel. Ein Theoretiker, der für Wien sehr wichtig ist, nicht nur für unsere Fakultät, hat jetzt endlich nach vollen zwei Jahren, nach mehreren Interventionen des Rektors und des Dekans eine Wohnung zugewiesen erhalten, Bisher lebte seine Familie in der Provinz. Ein anderer Theoretiker hat noch keine Wohnung, da wurde noch nicht oft genug interveniert. Dieser entwürdigende Kampf um eine Wohnung und dann die mit der Herrichtung einer solchen verbundenen Kosten mögen wohl die Hauptgründe sein, daß die medizinische Fakultät mehrfach Absagen von in Österreich lebenden Kollegen erhielt. Man würde es nicht für möglich halten, daß ein Kollege aus Innsbruck oder Graz Wien ausschlägt. Aber es ist so. Wir halten seit 1945 bei der vierten Absage.

Ich kehre nun zum eingangs gebrachten Vergleich zurück. Eine Industrie kann wichtige Neuanschaffungen ohne allzu großen Schaden für einige Zeit verschieben. In der medizinischen Schule wirkt das anders. Eine neue Besetzung ist meist für lange Zeit gültig, sie kann nicht nach mehreren Jahren wieder ausgewechselt werden. Dazu kommt noch, daß ein mittelmäßiger Vertreter seines' Faches ein Genie neben sidi nicht leicht aufkommen lassen wird, so daß sich eine solche Fehlbesetzung bis weit in die Zukunft schädlich auswirken muß.

Man möge doch wenigstens bei Neuernennungen von solchen Persönlichkeiten, die wir an die erste Stelle manchesmal nur gegen große Widerstände gereiht haben, annähernd jenen Gehalt bewilligen, den der Betreffende an seiner bisherigen Wirkungsstätte erhielt. Vor allem für Theoretiker müßte dies eine Selbstverständlichkeit sein. Was sind solche Opfer gegen so viele andere Staatsausgaben? Ich bezweifle, daß zum Beispiel Veranstaltungen unserer Sportler im Ausland einen merkbaren unsichtbaren Export auslösen. Der sportliche Fremdenzustrom wird zum Beispiel durch die Schönheit und lange Dauer unserer Bergwinter und jetzt durch den günstigen Umwechslungskurs beeinflußt, aber keineswegs dadurch, daß diese oder jene Sportkanone in einem ausländischen Wettbewerb gesiegt hat. Haben etwa die sportlich mit in erster Reihe stehenden Finnen einen merkbaren sportlichen Fremdenverkehr?

Es wäre jedoch verkehrt, wenn man bloß das Materielle in den Vordergrund rücken würde. Viel wichtiger ist die geistige Rangstellung eines Volkes in der Völkerfamilie. In der Erringung und Behauptung einer hohen Rangstellung wirken eben auch die Geisteswissensdiaf-ten unserer Hochschulen mit. Nur durch seine geistigen Leistungen und durch seine Musik wurde Wien eines der wichtigsten Kulturzentren der Welt und dadurch ein Anziehungspunkt für jedermann. Im übrigen bewirken auch die Geisteswissenschaften unserer Hochschulen, welche die gleichen Schwierigkeiten bezüglich der Berufungen haben, einen unsichtbaren Export, der aber nur in wenigen Fällen so klar zutage liegt wie bei der medizinischen Schule.

Glaubt wirklich jemand im Ernst, daß wir, selbst bei bester Ausrüstung unserer Fabriken, die Industrien unserer großen Nachbarländer je werden schlagen können, wenn einst in einem vereinigten Europa jeder Zollschutz gefallen ist? Die Geschmacksindustrie wird ihre Stellung behaupten können, sie gehört jedoch zum eingangs erwähnten Aktivum „Kunst“. Aber unsere Hochschulen wären sicher imstande, auch in einem vereinten Europa eine der ersten Stellen zu behaupten, wenn man in der Zwischenzeit diese Hochschulen nicht verkümmern läßt. Wenn man den Professoren die materiell notwendige Grundlage nicht mehr gewährt, so fehlt für die Jugend auch der Anreiz, die schwierige, langwierige und dornenvolle akademische Laufbahn anzustreben. Die Möglichkeiten einer Auswahl werden dadurch immer mehr eingeengte

Wir wissen, daß wir alle ärmer geworden sind, ein jeder in seiner Lebenslage, und wollen dieses Schicksal auch tragen. Aber wenn wir eine bessere Zukunft unseres Landes anstreben, dann dürfen wir doch die Möglichkeiten dazu nicht verschütten. Es wird kaum ein zweitesmal vorkommen, wie dies eben geschah, daß ein Wiener Kliniker eine Berufung in die freie Schweiz mit 4 0.0 00 Franken Jahresgehalt, unbeschadet seiner Einkünfte aus der Privatpraxis, ablehnt, bei wesentlich geringeren Schweizer Steuern, als sie uns zahlenmäßig von unseren entwerteten Einkünften abgezogen werden. Wir müssen diesem Kollegen ganz besonders dankbar sein, denn er hat der Wiener medizinischen Schule einen sehr großen Dienst erwiesen.

Ein Universitätsprofessor sollte sich nicht als Beamter betrachten, denn für ihn darf es keine begrenzte Arbeitszeit geben. Der Beamte rückt vor, der Universitätsprofessor wird berufen, vielfach erst im höherem Alter. Die Bedingungen, die er stellt, werden in Nachbarländern großzügig erfüllt, dagegen muß er sich bei uns in das Beamtenschema einzwängen lassen. Damit wird aber ein wichtiges Aktivum Österreichs nach und nach vertan.

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