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Ein Leben lang die Ich-Identität suchen

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Im Mittelpunkt der größten europäischen Fachtagung für Pädagogik in Salzburg stand diesmal das Thema: „Ich im pädagogischen Alltag: Macht -Ohnmacht - Zuversicht.”

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Im Mittelpunkt der größten europäischen Fachtagung für Pädagogik in Salzburg stand diesmal das Thema: „Ich im pädagogischen Alltag: Macht -Ohnmacht - Zuversicht.”

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Wir können uns nicht alleine auf den Trip zu uns selbst machen, denn zu sich kommen sei eine lebenslange Aufgabe.” Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Universitätsprofessorin für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft in Dresden, hat in ihrem Eröffnungsreferat bei der Internationalen Pädagogischen Werktagung 1997 in Salzburg die Interaktion zwischen Schülern und Lehrern aufgeschlüsselt. Ihr Ausgangspunkt: die Resonanz zwischen Menschen. Das Rild eines autonomen, mündigen Menschen sei zwar das Idealbild, die „Ich-Identität” stehe aber bestenfalls am Ende der Entwicklung. Entscheidend sei die „soziale Identität”: Resonanz baue sich „von außen nach innen auf”, meint Gerl-Falkovitz. Wenn in der Familie oder eben in der Schule diese „Außenhaut” fehle, bringe das Unsicherheit hervor. Eines der Probleme unserer Zeit sei, daß Kindern viel zu früh Individualisierung abverlangt werde, anstatt sie in eine Wir-Gruppe einzubetten. Schon ein kleines Kind erlebe es als Defizit, wenn „Sachen anstatt Personen, Spielzeug anstatt Zuwendung” angeboten würden.

Globalisierte Lehrer?

Franz Josef Radermacher, Professor am Institut für anwendungsorientier-te Wissensverarbeitung in Ulm, hat in seinem Referat auf die Wechselwirkungen zwischen Globalisierung und Pädagogik aufmerksam gemacht. Er zeichnete ein düsteres Bild bezüglich der Umweltsituation und des Wachstums der Menschheit. Nicht die Politik, sondern die international vernetzte Wirtschaft gebe ein sich potenzierendes Tempo industrieller Beschleunigung vor.

In Zukunft bilden Multimedia-Workstation, Solar-Energieblock und Satellitenanschluß eine über alle Grenzen und Kontinente hinweg taugliche Arbeits-Einheit für einen einzelnen Menschen. Verschiebung der Arbeit in billige Länder werde längst praktiziert. Machtlos stünde die „Alte Welt” mit antiquiertem technischem Gerät und festgefahrenen Strukturen der Konkurrenz gegenüber: „Es gibt andere, sie sind mindestens ebenso gut, aber sie kosten nur ein Fünftel oder ein Zehntel - auch in der Ausbildung.” In Indien würden bereits mehr Menschen Hochschulstudien in englischer Sprache abschließen als in den USA.

Die Pädagogik werde an dieser neuen Arbeitssituation nicht vorübergehen können: Ausbildung und die Stärkung der Rolle der Frau hält Radermacher für wesentliche Voraussetzungen, um Schwierigkeiten in den Griff zu bekommen. Wie kann man in einigen Jahrzehnten zehn oder zwölf Milliarden Erdenbürgern ein akzeptables Ausbildungsniveau sichern? Das sei eine entscheidende Frage. „Human resources machen 60 Prozent des Reichtums eines Landes aus”, erklärt Radermacher. „Gut ausgebildete, motivierte Menschen bauen schon mit bescheidenen Mitteln ein Land auf. Allein der Ausbildungsstand ist wichtig. Man kann Unsummen in die Dritte Welt pumpen - ohne griffige Bildungsprogramme werden Wirtschaftswunder ausbleiben.”

Die Industrieländer konkurrierten heute mit Gebieten, in denen die „Human resources” nur Bruchteile kosteten. „Wir können nicht so tun, als ob wir nicht von unserem Level herunter müßten”, warnt der Wissenschafter. Multimediale Ausbildung sei eine Chance, das Bildungsniveau gleichmäßig zu heben. Das in den Industrieländern praktizierte System der schulischen und universitären Ausbildung sei sehr teuer. Lehrkräfte seien effizienter einzusetzen, wenn man sie mit der Ausarbeitung von international tauglichen „Bildungs-Modulen” beschäftige, die dann kostengünstig und umweltfreundlich in die ganze Welt exportiert werden könnten.

Radermacher weiß um die heftigen Abwehrreaktionen auf solche Ideen. Er verweist aber auf positive Beispiele, etwa auf Fremdsprachenunterricht auf CD-Rom-Rasis, der sehr gut funktioniere. In den neuen Technologien lägen, bei unvoreingenommener Retrachtung, enorme Chancen. Radermacher läßt auch nicht gelten, daß internationale Lern-Systeme durch nationale Einschrän- . kungen unterlaufen würden: „Es geht bei der Ausbildung nicht um staatliche Stempel, sondern um die Arbeitgeber - und die sitzen vielleicht in Korea.” Nicht nach staatlichen Approbationen werde in Zukunft gefragt und angestellt, sondern nach dem jeweiligen Wissen und Können.

Maria Fölling-Albers ist Ordinaria für Grundschul-Didaktik an der Universität Regensburg. Auch sie warnte in ihrem Referat vor Pauschalurteilen und simplifizierenden pädagogischen Lösungen und wählte zur Illustration das leidige Thema Medienkonsum: Jene, die sprachliche Verarmung durch Medienkonsum beklagten, hätten zwar nicht unrecht. Andererseits gehe die Erfahrung von Pädagogen im ländlichen Rereich aber dahin, daß genau dieser Medienkonsum die „Sprachfreudigkeit” etwa in sozialen Gruppen wecke, die vor 20 Jahren nur ihren eigenen Dialekt kannten.

Maria Fölling-Albers machte die schier ausweglose Situation der Lehrer in einem Schulsystem deutlich, das höchste Bildung einbleuen, Individualisierung ebenso wie Integration fördern - und obendrein nicht wenige sözialpädagogische Hilfestellungen bieten soll. Die traditionelle Schule habe gleichartige Lernziele für alle festgeschrieben und auch hinsichtlich des Verhaltens ein einheitliches Selektionsprinzip vorgegeben. Die „Pädagogik der Vielfalt”, beispielsweise im Falle der Integration Behinderter, verlange nach variablen Mindeststandards.

Als ein Paradoxon im heutigen Bildungswesen beschrieb die Referentin auch den Wert und gleichzeitigen Unwert höchster Qualifikation: Eltern müßten von ihren Kindern diesen Höchst-Level einfordern, um ihnen einen Einstieg ins Arbeitsleben zu sichern. Andererseits sei die „hohe Bildung” bereits Allgemeingut und als solche kein „sicherer” Wert per se. Eine Folge sei die Splitterung: Höhere Bildungsinhalte würden zunehmend in Einrichtungen neben der Schule gesucht. Der Boom zu musischkreativen Förderprogrammen, Computer- und Sprachschulen sei nicht zuletzt deshalb so groß, „weil dort fast keine Ausländerkinder” seien.

Der Bottenburger Hochschulprofessor Wolfgang Liegle, Chefredakteur der Zeitschrift „Welt des Kindes”, ist ein Anwalt für eben eine Welt, in der alle Kinder sich wohlfühlen können. Er spricht von einer Welt, aus der die Kinder längst vertrieben sind. Geradezu zwangsläufig stelle sich bei der Jugend das Gefühl ein, übergangen worden, zu kurz gekommen zu sein. „Wir Sollten die Umwelt in Augenschein nehmen, die wir Kindern zumuten”, rät Liegle. Werden so elementar „vitalgestörte” Kinder ohne natürlichen Spiel- und Lebensraum nicht allein wegen der sie umgebenden Tristesse zu Wandalen erzogen? „Kinder kommen in der Wohn- und Stadtarchitektur nicht vor.”

„Einrichtungen für Kinder sind produktive Ausgaben und wichtige Bestandteile des gesamten Bildungsund Erziehungssystems. Es gibt keine vernünftige pädagogische Arbeit für Kinder, die immer weniger kostet.” Sparen an Kindern treffe die Gesellschaft im Kern. „Wir müssen also die Probleme zurückgeben an die, die sie verursachen. Und wir müssen im Namen der Kinder sagen: Dies muß alles nicht so sein. Dies lassen wir uns, auch und gerade im Namen der Kinder, nicht länger gefallen. Bei all diesen Problemen ist zuerst die Politik gefragt und nicht der ,Reparaturbe-trieb' Pädagogik.”

Stimmen all diese Rilder, die wir uns von der Jugend machen? Werden Jugendliche von der älteren Generation als Problemfälle wahrgenommen, oder wird in sie alle Hoffnung gelegt? Unsere Jugend-Rilder und ihre Auswirkungen auf das pädagogische Handeln waren das Thema von Richard Münchmeier, Professor für Sozial- und Kleinkindpädagogik in Berlin. (Leit-)Bilder hätten über Jahrhunderte das Denken der Pädagogik geprägt, wogegen die moderne Erziehungswissenschaft vom Fallbeispiel ausgehe. Vermittelten früher Bilder eine „Schau von Zusammenhängen”, so werde jetzt „aus der Einzelbeobachtung der Gesamtplan” abgeleitet.

Alte und Junge sitzen in einem Boot

Doch die alten Bilder wirkten weiter, sagt Richard Münchmeier: jenes vom „wilden Kerl”, der domestiziert und an die kultivierte Erwachsenenwelt angepaßt werden müsse, ebenso wie jenes vom „unverdorbenen” Kind. Dieses sei - so die Idealvorstellung -noch nicht korrumpiert, daher „authentischer”, sensibler, kreativer. Also der Hoffnungsträger in Person!

Als aktuelles Beispiel für die Perspektive auf die „wilden Kerle” und die Notwendigkeit der Domestizierung genüge ein Blick auf die Hausordnungen von Schülerheimen, meinte der Sozialpädagoge Münchmeier. Das andere Leitbild, jenes von den „unverdorbenen” Kindern, die uns in die Zukunft führen können, stehe hinter einer Pädagogik des Wachsen-Lassens, des Gewährens möglichst freizügiger Spielräume.

In der Praxis indes läßt sich die Grenze zwischen „Hoffnungsträgern oder Problemgruppe” (so Richard Münchmeiers Referat-Titel) nicht so ohne weiteres ziehen. Jene Pädagogen, die „wilde Kerle” für die moderne Industriegesellschaft präparieren, sehen im Jugendlichen naturgemäß mehr den Problemfall. Andererseits: Wie sich die Jugendbewegung und später Hitler der „hoffnungstragenden” Jugend bedient haben, fördert auch nicht gerade das Vertrauen in dieses „Leitbild”. Die Jugend könne uns Erwachsenen die Gestaltung der Zukunft nicht abnehmen. Der Weg müsse pragmatisch sein und auf der Erkenntnis beruhen, daß „Alte und Junge in einem Boot sitzen”. Pädagogik sei eine „Verständigungsaufgabe”; vorbei sei „die Zeit, in der die Erwachsenen ,alles' gewußt haben”.

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