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„Ein obligates Kindergart enj ahr“

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Während derzeit die Diskussion ■um das neunte Schuljahr immer mehr zu einem Politikum zu werden droht und die Hauptleidtragenden selbst — die Eltern und Schüler — so gut wie überhaupt nicht gehört werden, scheint es mir unbegreiflich, warum keiner der zuständigen Politiker und Beamten den meiner Meinung nach einzig richtigen Weg zur Behebung der Scbuimisere in Österreich — die Wiederemführung der fünften VcJksschufllklasse in Form eines obligatorischen Kindergartenjahres — aufzeigt. Als Mutter von vier Kindern und als Akademi-kerin scheint es mir unverantwortlich, den zuständigen Stellen nicht jenen konstruktiven Alternativvorschlag zu unterbreiten, den wir Pädagogen, Psychologen und Mütter schon 1962 mit Nachdruck vertreten haben Es ist allgemein bekannt, daß die geistige Reifung unserer Kinder heute hinter der körperlichen nachhinkt. Es ist allgemein bekannt, daß mehr als fünfundzwanzig Prozent aller Volksschüler in Österreich an Legasthenle (Lese-Rechtschreibschwäche LRS) leiden und daher schlechte Lernerfolge aufzuweisen haben, und es ist allgemein bekannt, daß rund achtzig Prozent aller österreichischen Mittelschüler Nachhilfestunden in den Hauptfächern benötigen. Die Schulreformer haben jedoch meiner Meinung nach nicht die richtigen Konsequenzen aus diesen Tatsachen gezogen. Sie propagieren ausschließlich ein dreizehntes Schuljahr als auf die Mittelschule „aufgepfropftes“ neuntes Jahr und schweigen beharrlich die Tatsache tot, daß die Mehrzahl der Kinder, die in die erste Klasse Mittelschule aufsteigen, trotz bestandener Aufnahmeprüfung nur in den seltensten Fällen .^Mittelschulreif“ ist und meist bereits ab Weihnachten, vor allem in der Fremdsprache, aber auch in Deutsch und Mathematik Nachhilfestunden benötigt. Zahlreiche Volksschulen sind bereits dazu übergegangen, Völksschulfreradsprach-kurse ab der 2. Klasse einzurichten. Da diese aber leider nicht obligatorisch sind, stellen sie den Englisch- oder FranEÖsischprofes-sor vor das Dilemma, daß ein Teil der Klasse bereits brauchbare Englisch- oder Französischgrundkenntnisse mitbringt und sich langweilt, während der Rest der Klasse mühsam in eben diese Grundkenntnisse eingeführt werden muß. Zweifellos würde eine Fragebogenerhebung über die Schulleistungen der Erstkläßler an allen österreichischen Mittelschulen, vor allem auf dem Sektor Fremdsprache, auf dem wieder die oben erwähnten 150.000 Legastheniefeinder besondere Schwierigkeiten haben, den Schulreformern den rechten Weg, den der Wiedereinführung der fünften VolksschulMasse, weisen. Wohl werden mir nun viele rechtgeben, aber ein „nachgeschaltetes“ fünftes Volksschuljahr propagieren, während mir ausschließlich „das vorgeschaltete fünfte Jahr“ zweckmäßig scheint.

Als Vierkindermutter habe ich nämlich die Erfahrung gemacht, daß unsere Fünfjährigen zu Hause einfach nicht mehr zu halten sind, so stark ist ihre Wißbegierde, so groß ihr soziales Kontaktbedürfnis mit Gleichaltrigen, so reich ihre schöpferische Phantasie. Während es jedoch für uns Mütter selbstverständlich ist, daß unsere Fünfjährigen in ihrer nicht mehr zu bremsenden Wißbegier alle Buchstaben auf Straßenbahnwagen, auf GeschäftsschiiLdern und Wasch- oder Lebensmittelpaketen buchstabieren, während sie bei der Bildung der Zahlbegriffe nicht die geringsten Schwierigkeiten haben, wenn sie einen 4er-von einem 7er-, oder einen 6er-von einem Ser-Autobua unterscheiden sollen, bzw. wenn sie ihre Spargroschen zählen, ob es schon für einen Kaugummi oder einen hochsommerlichen Eislutscher reicht, werden an unseren österreichischen Volksschulen laut Lehrplan die ersten sechs Wochen mit Rücksicht auf die „weniger vorgeschrittenen*' Kinder positiv „vertrödelt'*, ohne daß auch nur ein einziger Buchstabe, eine einzige Zahl geschrieben wird.

Nach einem pflichtmäßigen Vorschuljahr könnte man in ganz anderem Tempo mit den Sechsjährigen in der ersten Klasse Volksschule arbeiten. „Retardierte“, das heißt, in ihrer geistigen Reifung durch Erkrankung oder sonstige Faktoren behinderte Kinder, könnte man ohne weiteres das Vorschuljahr wiederholen lassen, bis auch sie den nunmehr bedeutend gesteigerten Anforderungen der Volksschule gewachsen sind, die dann ihrerseits geistig und technisch besser qualifizierte Kinder an die Mittelschulen aulsteigen lassen kann.

Diese wiederum können mit einem nach härteren Anforderungen geschulten selbständigeren Schülermaterial ihre bis dahin hoffentlich radikal gesiebten und gestrafften Lehrpläne ohne weitere Schwierigkeiten in den bisher üblichen acht Jahren bewältigen. Wie sollte man auch Neunzehnjährige angesichts der heute so verfrühten körperlichen und Geschlechtsreife noch ein zusätzliches Jahr in die Schulbank zwängen, während sie sich schon längst an Beruf und Universität erproben wollen!

Ich weiß, daß sich mein Ruf nach dem „vorgeschalteten fünften Jahr“ mit der Meinung der Majorität der Kindergärtnerinnen, VolkBschullehrer und Mütter deckt und daher auf Politikerebene ungehört verhallen wird. Dennoch rufe ich als eine von Tausenden alle Schul-refonmer zur Wiedereinführung des fünften Volksschuljahres auf, im Interesse aller jener, die jahraus, jahrein unter der 70-Stun-den-Wocbe fronen und für die die Einführung der 40-Stunden-Woche eine ewig unerreichbare Utopie bleiben wird, solange Politiker und Theoretiker über ihren Kopf hinweg eine auf rein parteipolitischer Ebene „ausge-schacherte'* Schulreform beschließen.

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