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Ein Schwerpunkt der Schulerneuerung

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Das nun vereinzelt in Gang kommende Gespräch über die gegenwärtige Sdiul- erneuerung verdichtet sich auf einige wenige Brennpunkte des Interesses. Neben der Einmütigkeit der Notwendigkeit eines umfassenden Gesamtplanes der österreichischen Schul- und Erziehungsgesetzgebung und der einheitlichen Stellungnahme zu einigen schul- orgamisatorischen Fragen, wie der Verlängerung der Schulpflicht, der Berufsschulpflicht und der Verlängerung der eigentlichen Pflichtschulzeit um das neunte Schuljahr, konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf drei Fragenkomplexe: einmal auf die grundsätzlichen Fragen des Privatschulwesens, dann auf die Probleme der Verschmelzung der Hauptschule mit der Untermittelschule zur E i n- heitsmittelschule und schließlich auf die hiemit zusammenhängende Gestaltung der künftigen Lehrerbildung. Zu diesen Fragen wird bald sachlich, bald polemisch, bald in verbindend versöhnlicher Weise Stellung genommen. Wenig oder nichts aber erfährt die weitere Öffentlichkeit von einem zentraleren Problem der österreichischen Schulerneuerung, dessen Bedeutung weit über seinen eigentlichen Bereich, der Schule, überhaupt hinausreicht, die dringenden Fragen der Erneuerung des ländlichen Schulwesens in Österreich- Und doch würde gerade die Schau der übrigen Reformpläne unter dem Gesichtswinkel dieses Problems vieles aus seiner bewußten oder unbewußten Verzerrung herausheben und die oft unverständliche Steigerung der Bedeutung mancher strittigen Probleme auf das richtige Maß herabsetzen. Schon ein einfacher statistischer Hinweis zeigt, daß alle diese so gern diskutierten Fragen — rein zahlenmäßig gesehen — gar nicht im Zentrum des österreichischen Schul- und Erziehungswesens liegen.

Die grundsätzliche Bedeutung des Problemkreises der nichtstaatlichen Schulen steht außer allem Zweifel. Zahlenmäßig gesehen handelt es sich aber hier — wir unterstreichen noch einmal, ohne die grundsätzliche Bedeutung dieser Frage mindern zu wollen — um ein Schulgebiet, das zumindest im Pflichtschulsektor nur einen sehr bescheidenen Teil unseres Schulwesens umfaßt: nur 2,2 Prozent der Pflichtschülerschaft besuchen private Volks- und Hauptschulen.

Es ist notwendig, auch die übrigen so strittigen Fragen der Schulerneuerung einmal auf Grund ihrer zahlenmäßigen Mächtigkeit im ganzen des österreichischen Schulorganismus zu sehen. Die Fragen der Gestaltung der einzelnen Mittelschultypen, die Formung ihrer Lehr- und Bildungsziele, der Streit um den Vorrang ihrer Lehrfächer, der Führung der pflichtigen und wahlfreien Fremdsprachen oder die straffere Führung der Bildung in eng umgrenzten Typen, all dies betrifft, ebenso wie die oft so drängend dargestellten Probleme der Hauptschule, nur einen Teil, und stellenweise nur einen recht unbeträchtlich e n T e i 1 unseres gesamten Schulwesens. Von den im Pflichtschulalter stehenden Schülern und Schülerinnen Österreichs besuchen nur 0,7 Prozent, kaum ein Prozent also, die entsprechenden Klassen des Gymnasiums, etwas mehr als die Hälfte davon, 0,5 Prozent, entspricht der Realschule, und auch die gleichliegenden Klassen des Realgymnasiums umfassen nur etwas über zwei Prozent der Pflichtschülerschaft. So machen sämtliche Untermillelschulen Österreichs nur 3,8 Prozent der gesamten lichtschüerschaft aus. Aber selbst die Hauptschule, deren zahlenmäßige Bedeutung weit überschätzt wird, zählt nur 13,8 Prozent der Pflichtschüler. Es ist notwendig, diese Zahlen, von denen so wenig gesprochen wird, zu nennen, um zu zeigen, wo der eigentliche Schwerpunkt des österreichischen Schul- und Erziehurigswesens liegt, soferne man wirklich das große Ganze im Auge hat und nicht einen peripheren Teil in seiner Bedeutung überschätzt. Fast 60 Prozent aller im Pflichtschulalter stehenden Schüler und Schülerinnen sind Jugendliche der ländlichen und bäuerlichen Umwelt und Schüler unserer Landschulen. Sowohl der Zahl der Schüler als auch der der Schulen nach liegt der Schwerpunkt des österreichischen Schulwesens im breiten Landschulsektor. Die einklassigen Volksschulen, die acht Schuljahre in einer Klasse unter einem einzigen Lehrer vereinen, machen 25 Prozent der Volksschulen aus. Der gleiche Prozentsatz entspricht den zweiklassigen Volksschulen. Mit den dreiklassigen Volksschulen, die also alle acht Pflichtschuljähre in drei Klassen mit drei Lehrern unterrichten, bilden diese wenig gegliederten Volksschulen zweiDrittel allerVolksschulen Österreichs. Wenn eine Schulerneuerung das Wesen des österreichischen Schulorganismus treffen soll, so darf sie an ihrem Kernbestand und an der Mehrheit seiner Schüler und Schulen nicht vorübergehen. Alle übrigen ErneuerungSprobleme und Reformgedanken bleiben trotz sämtlicher publizistisch noch so rühriger Versuche an der Peripherie des Schulwesens. Dort liegen die Ausleseschulen der gehobenen Schularten, die Hauptschule und die nur etwas mehr als drei Prozent der Pflichtschülerschaft umfassenden Mittelschultypen. Sie rücken auch nach den immerhin eigenartigen Erfahrungen des vergangenen Jahrzehnts im Hinblick auf den früher so beliebten Hinweis auf ihren entscheidenden Beitrag zur Heranbildung einer bestimmten Führungsschicht nicht in überzeugender Weise in das Zentrum der Volkserziehung. Es sind also nur Teilschwerpunkte, um die sich die Diskussion der Einheitsschule, der Haupt- und Mittelschule bewegt. Der Hauptschwerpunkt des österreichischen Schulwesens liegt schon rein zahlenmäßig in der ländlichen Schule mit ihrer so reichen und vielgestaltigen Gegenwartsproblematik.

Hier sind nun in der Tat dringliche Schulerneuerungsprobleme zu lösen. Die überaus schwierige Erziehungsarbeit in den Landschulen, eine viel zuwenig gewürdigte didaktische Kunstform, bedarf, schon rein äußerlich gesehen, bestimmter Erleichterungen. Sie wird in der Herabsetzung der durchschnitlichen Schülerzahl pro Lehrer und pro Klasse und in der endgültigen Fixierung von Höchstschülerzahlen liegen müssen. Noch 1946/1947 wies das Statistische Zentralamt eine Durchschnittsschülerzahl pro Lehrer für Wien mit 28, für Niederösterreich mit 54 und für das Burgenland mit 67 aus. Die entschlossene Inangriffnahme der Erneuerung auf diesem Gebiet wird als ersten Entwicklungsfortschritt mit der Herabsetzung der Klassenschülerzahlen die Umwandlung einer Reihe von ein- und zweiklassigen Schulen in höhergegliederte Volksschulen bringen. Die Frage der Errichtung ländlicher Zentralschulen — ein Lösungsweg des Landschulproblems, der in den nordischen Ländern und in den Vereinigten Staaten mit Erfolg beschritten wurde — hängt in Österreich eng mit dem Ausbau des Sprengelnetzes unserer Hauptschulen zusammen und mit der endlichen gesetzlichen Festlegung von Pflicht- sprengeln und Berechtigungssprengeln für unsere ländlichen Hauptschulen. Doch sei gleich hier vermerkt, daß die Auflassung weniggegliederter, hauptsächlich einklassiger Schulen fast durchwegs auf den Widerstand der bodenständigen Bevölkerung stößt, die in gesunder Weise auch in der einklassigen Schule noch immer einen Kulturmittelpunkt des Dorfes sieht.

Eine weitere Sorge der Schulerhalter, der für den Sachaufwand aufkommenden Gemeinden, bilden die dringlichen Verbesserungsarbeiten an unseren Landschulgebäuden und die an vielen Orten notwendige Errichtung neuer, zeitgemäßer Landschulhäuser. Viele Schulbauten des Landes, besonders in den vom Krieg heimgesuchten Gegenden, befinden sieli in einem trostlosen Zustand, von den Notschulen in Gasthäusern, Schankstuben und Tanzlokalen gar nicht zu reden. Die Lage kann hier im Hinblick auf die finanzschwachen Gemeinden und ihre ständige Benachteiligung bei, den Fragen des Finanzausgleichs nur durch großzügige Vorsorgen der Länder, durch Schaffung von Schulbaufonds, gemeistert werden.

Neben diesen äußeren und schulorganisatorischen Fragen weisen wir schon mehr in den Kern ihrer inneren Erneuerung, wenn wir den dringlichen Aufbau eines eigenständigen didaktischen Apparats für unsere Landschulen fordern. Bodenständige, landschuleigene und zeitentsprechende Lehrbücher und Lehrmittel, Lesebüdier und Lesestoffe fehlen fast ganz. Die hier in die Wege geleiteten Maßnahmen werden aber nur dann zum Erfolg führen, wenn bei aller Beachtung der Leistungssteigerung der Schwerpunkt auf der Schaffung einer Heimatschule und Lebensschule, einer echten Erziehung - schule liegt. Hieher gehören alle Versuche, das ländliche und das bäuerliche Leben mehr als bisher in die Schule zu lassen und umgekehrt die Schule mehr als bisher mitten in das Dorf zu stellen. Die Landschule sollte jene Form erhalten, die der Eigengesetzlichkeit des ländlichen Lebenskteises entspricht und die auch Landarbeiter, ländliche Gewerbetreibende und ländliche Handwerker umfaßt und vom Dorf bis zum Rand der Kleinstadt reicht. Freilich darf in diesem Zusammenhang nicht die Krise übersehen werden, in der das Land und das Dorf sich gegenwärtig be; finden.

Wir reden viel von Erziehungsschule und Erziehurtgspläneri in einer Zeit, in der die echten erzieherischen Ordnungen auch auf dem Land schwer erschüttert sind. Die Technisierung und Rationalisierung der bäuerlichen Wirtschaftsform, der Verstädterungsprozeß, die Erschütterung der weltanschaulichen Grundhaltung des Landes haben mit der bekannten Überfremdung und Beunruhigung des Dorfes eine erzieherische Situation geschaffen, die keine leichte Ausgangslage für das pädagogische Tnn darstellt. Heimat- und dorfverbundene Lehrer, seßhafte und gefestigte Erzieherpersönlichkeiten, nicht nur fachwissenschaftlich, sondern auch pädagogisch für das Land vorgebildete Persönlichkeiten sind die Forderungen, die die Landschulerneuerung an die künftige Lehrerbildung richtet. Sie rückt dieses Problem wie viele andere strittige Fragen der Schulgesetzgebung in ein realeres Licht. Wie immer die künftige Lehrerbildung beschaffen sein mag, sie wird nur dann fruchtbar sein, wenn sie gegenwartsnahe und zeitaufgeschlossene Erzieher gestaltet, die bei aller Weite des Horizonts im Dorf in jeder Weise geistig beheimatet sein können.

Aber auch auf das zweite strittige Problem, die Schaffung einer Einheitsmittelsdiule durch Verschmelzung von Hauptschule und Untermittelschule, fällt vom Landsehulfragenkreis ein erhellendes Licht. Nur 13,8 Prozent der gesamten Pflichtschülerschaft besuchen die Hauptschule. Die bisherigen Pläne der Einheitsschulbewegung würden also selbst mit den 3,8 Prozent Untermittelschülern erst kaum 20 Prozent der Pflichtschülerschaft erfassen. Die über 450.000 Schüler der ländlichen Schulen würden von ihr nicht betroffen sein. Was also entstünde, wäre nur eine städtische Einheitsschule, niemals aber eine gesamtösterreichische Einheitsschule.

Aber selbst für die ländlichen Hauptschulen bedeuten die bisherigen Schulpläne die Gefahr weiterer Landfremdheit, ein Vorwurf, der zum Teil auch der Volksschule nicht ganz erspart werden kann. Man möge nicht übersehen, daß hinter allen Maßnahmen zur Landschulerneuerung ein bedeutsames sozialpädagogisches Problem steht: die Steuerung der Landflucht. Die wieder ansteigenden Bevölkerungsziffern der Städte und der völlige Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitern unterstreichen dieses Problem. Gewiß wird die Landschule die Landflucht nicht allein und nicht in entscheidender Weise eindämmen. Entschlossene und großzügige Maßnahmen sozialreformatorischer Art für die Landarbeiterschaft und die Lösung des Problems der Bodenreform werden hier von entscheidender Bedeutung sein. Entscheidend aber nur dann, wenn das , Wahrwort des steirischen Grundtvigs, Josef Steinberger, von der Notwendigkeit der Erziehung zum „Willen zur harten Bauem- arbeit” begleitet ist. Die Landschule kann allerdings nicht nur zum Bauern erziehen, aber das Dorf muß ihr wesenseigentümlicher didaktischer Ausgangspunkt und ihr berufsgerichteter Endpunkt sein. Zumindest darf von der Landschule verlangt werden, daß sie in Lehrerhaltung und Schulgestaltung weder bewußt noch unbewußt vom Lande wegführt. Die eigenständige und bodenverwurzelte Landschule wird schon durch ihre Existenz mitwirken an der Steuerung der Landflucht. Eine nur nach städtischen Bildern geformte Landschule wird diese Leistung nicht vollbringen. Die künftige Landschule wird daher mehr als bisher keine uniformistische,’ nur zentralistisch gelenkte und lebensfremd gestaltete Aller weltsschule, sondern eine bodenständige, milieudifferenzierte Schultype sein müssen. Sie wird als Leistungsschule, als bodenständige Heimatschule und als echte Erziehungsschule die Mehrheit der österreichischen Jugend erziehen. Unter dem Aspekt ihrer Erziehungsarbeit verlieren die vermeintlichen Teilschwerpunkte des gegenwärtigen Erneuerungsgespräches viel von ihrer behaupteten Bedeutung, denn der wirkliche Schwerpunkt der österreichischen Sdiulerneuerung liegt im ländlichen Schulwesen. Möge es nicht wieder, wie bisher so oft, hinter zweitrangigen Schulproblemen übersehen werden. Es betreut nämlich fast zwei Drittel der Sechs- bis Vierzehnjährigen, also die Mehrheit der im Pflichtschulalter stehenden österreichischen Jugend.

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