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Ein Weltfest der Bewegung

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WÄRE NICHT 1965 BEREITS das zwölfjähriges Mädchen aus Däne- stungsarbeit mit vierzehn Jahren Jahr der Alpen, müßte man es zum mark auf dem Schwebebalken ein festsetzen.

Jahr der Turner erklären: Folgten Programm, dem kein Spitzensportler doch heuer die zwei größten Tur- des Gastgeberlandes etwas Gleichnerfeste der Welt dicht aufeinander; wertiges entgegensetzen könnte.

die III. Gesamtstaatliche Spartakiade in Prag und die IV. Gymnaestrada in Wien.

Mehr als drei Jahre dauerten die Vorarbeiten des Organisationskomitees. Doch die Eröffnungsfeier auf dem Rathausplatz entschädigte sie für viele Mühen: 16.000 Turner und Turnerinnen aus 28 Ländern und Beobachter aus weiteren zwölf Nationen wohnten der feierlichen Hissung der Gymnaestrada-Flagge bei — begeistert von dem freundlichen Empfang, den ihnen zehntausende Wiener auf ihrem Festzug bereiteten.

VON DER GRÜNDUNG DER GYMNAESTRADA durch den Niederländer J. H. F. Sommer und den ersten drei Veranstaltungen — 1953 in Rotterdam, 1957 in Zagreb und 1961 in Stuttgart — bis zu den spektakulären Vorführungen einiger ausländischer Mannschaften bei diesen „nacholympischen“ Spielen in Wien hat die Leibeserziehung einen steilen Weg aufwärts genommen — international gesehen: jedoch Österreichs Turnerschaft und Sportlehrer kämpfen noch immer um ihre tägliche Turnstunde.

Sinn und Zweck der Gymnaestrada ist es, durch Lehr- und Schauvorführungen den Stand der Leibesübungen in den einzelnen Ländern zu dokumentieren, und es passierte nicht nur einmal, daß heimische Turnlehrer mit einem verstörten „Warum kann's das bei uns nicht geben?“ die Stadthalle verließen.

Mehr als 330 Vorführungen boten ein imposantes Bild der Leistungsfähigkeit der einzelnen Verbände und Gruppen — waren es nun Sportschulen oder die berufstätigen Hausfrauen, die einen Querschnitt — in oft sehr origineller Form — durch ihr Übungsprogramm zeigten.

Manche Übungen der Kinder zwischen acht und vierzehn Jahren bewiesen, daß man bereits im frühen Alter von der zwanglosen Bewegung zu den ersten Leistungen „hinaufturnen“ muß — eine Erkenntnis, die erst seit jüngster Zeit beachtet wird. So bestritten ein zehnjähriger finnischer Bub auf der Matte und ein

Doch soll man Kinder in so frühem Alter bereits in ein Trainingsprogramm hineinpressen? Wenn es ihnen Freude macht — dann ja. Und wenn man die Begeisterung dieser Kleinsten gesehen hat, wird man der Meinung sein, daß Leistungsarbeit für Kinder nicht schädlich sein kann. Dies bestätigten auch Trainer und Betreuer, während Fachleute in Österreich den Beginn der LeiIN EINEM GLEICHZEITIG stätt-gefundenen Symposium „Die Leistungsgrenzen in Gymnastik und Turnen“ — 600 Fachleute aus dem In- und Ausland nahmen daran teil — stellte Univ.-Prof. Dr. Ludwig Prokop allerdings fest, daß es zu einer Schädigung der Persönlichkeit komme, falls durch Zwang zum Training Unlust hervorgerufen werde. Wünschenswert sei nicht die absolute, sondern die optimale Leistung. Weiter, führte er aus, seien im Turnen und in der Gymnastik bereits auch die biologischen Grenzen überschritten worden, was vor allem zur Schädigung der Gewebe und der Wirbelsäule führen könne.

Diesen Standpunkt als Dogma hinzunehmen, wäre allerdings weit gefehlt — besonders in Österreich. Denn unser Schulsport wird noch lange nicht mit diesen Problemen zu kämpfen haben. Trotz einer wünschenswerten Weiterentwicklung.

DASS DIE INTENSIVIERUNG des Kinderturnens die Gymnastik auf das Niveau eines echten Volkssportes führt, bewiesen — wie könnte es anders sein — die Teilnehmer der skandinavischen Länder und auch das Nachbarland der Eidgenossen. Ist es doch der Organisation des Eidgenössischen Turnvereines ein leichtes, im Menschen die Freude an der Bewegung zu fördern — ohne Kompetenzstreitigkeiten und „turnpolitische“ Schwierigkeiten, die bei uns an der Tagesordnung sind. 1500 Vereine mit mehr als 10.000 Aktiven beteiligen sich an den regionalen und kantonalen Wettkämpfen, um alle vier Jahre beim großen Eidgenössischen Turnfest in Körperschulungsübungen, im Geräteturnen oder in der Leichtathletik ihr Können zu zeigen. 85 Prozent aller Vereine nahmen am letzten Turnfest teil. Dabei ist die Vorbereitungszeit dafür äußerst kurz. Man trifft sich an vier Wochenenden im Jahr zur gemeinsamen Arbeit. Alle Teilnehmer sind berufstätig, nur wenige sind Sportlehrer oder Gymnastiklehrerinnen. Keine Elitegruppe also, sondern Sport auf breitester Basis. Niemand demonstrierte dies besser als die Hausfrauen der nordischen Länder, deren gymnastisches Gerät an Stelle der Keule — der Kochlöffel war.

Aber auch die Statistik läßt uns wissen, daß allein der Schwedische Gymnastikverband 370.000 Mitglieder zählt und aus Totomitteln jährlich fast 4 Millionen Schilling erhält. Dazu kommen noch die Einnahmen aus einer eigenen Lotterie des Verbandes, die ebenfalls einige hunderttausend Kronen einbringt.

WO HÖRT DAS TURNEN AUF und beginnnt die Artistik? Niemand führte dieses Problem deutlicher vor Augen als die skandinavischen Elitegruppen und die Mädchen aus der Tschechoslowakei.

Der Begriff der „schwedischen Gymnastik“ ist überholt. Nur mehr die Vorführungen der norwegischen „Turnveteranen“ zeigten jene typische Art der „Gliederpuppengymnastik“, womit die Durchbildung der einzelnen Muskelpartien gemeint ist. Der von 12.000 Zuschauern besuchte Skandinavische Abend in der Wiener Stadthalle — einer der Höhepunkte dieses gewaltigen Turnfestes — vermittelte den Laien die Eindrücke einer Show aus Elementen von Tanz und Akrobatik — ein Eindruck, den die Fachleute allerdings mit gemischten Gefühlen aufnahmen. Dazu Olaf Kihlmark, der Leiter der schwedischen Delegation: „Ich bin persönlich auch kein Freund des Tänzerischen in der Gymnastik. Aber dies ist allein meine eigene Meinung. Gymnastik soll Freude bringen. Findet der Turner diese im gymnastischen Tanz — bitte!“

Wieweit sich Gymnastik von den Ideen des schwedischen Pioniers Peer Henrik Ling und des „Turnvaters“ Jahn entfernt hat, zeigte das Programm der tschechoslowakischen Turnerinnen, die „Prager Rhapsodie“, vom Publikum mit wahren Begeisterungsstürmen aufgenommen, woran der Radetzkymarsch im Dixieland-Rhythmus großen Anteil hatte. Die CSSR — ebenfalls ein Staat mit großer Tradition im Turnen, man denke nur an die Sokol-Verbände — hati einen völlig neuen Weg eingeschlagen: Im Mittelpunkt steht der Mensch als Ganzes. Nicht mehr der Körper allein ist maßgebend, sondern auch das künstlerische Empfinden von Rhythmus oder Bewegung.

VON DER FREUDE AM TURNEN über Leistungstraining im ersten Lebens Jahrzehnt zu Olympia- und Weltmeisterehren: Turnen der Weltbesten. Boris Schachlin am Seitpferd, auf demselben Gerät der Jugoslawe Miroslav Cerar, Bodenturnen der Ungarin Duczka Janosi und der Russin Polina Astachowa. Auf dem Barren die Japaner Ywfcio Endo und Haruhiro Yamashita. In der Wiener Stadthalle und beim großen Schlußfest im Stadion. Können, das nur durch härtestes Training und spartanisches Leben erreicht werden kann. „Staatsamateure“, deren Tagesablauf härter als der eines Industriearbeiters ist. Von denen man meint, sie hätten die Schwerkraft überwunden. Absolute Höhepunkte: das Bodenturnen des Russen Juri Titow, kraftvoll und mit der tänzerischen Leichtigkeit eines Nure-jew; unbestrittene Königin die dreifache Olympiasiegerin von Tokio Vera Czaslavska, verdiente Meisterin des Sports. Ihre Kür — im Rahmen einer Verführung der Olympia-Riega der CSSR im Pavillon des Donauparks — auf dem Schwebebalken und auf der Matte (zu der Filmmusik „Exodus“) waren von solcher Eleganz, daß man sie gar nicht antreten lassen dürfte, um die Leistungen ihrer Kolleginnen würdigen zu können. Alles in allem ein Programm, das die Österreicher — im Turnen ohnehin auf schmale Kost gesetzt — lange Zeit nicht zu sehen bekommen werden.

Spitzensportler und „normale“ Turner — nirgends zeigte sich diese Kluft deutlicher als bei der IV. Gymnaestrada. Aber vielleicht hat sie zu der — bereits zu abgenütztem Schlagwort gewordenen — Völkerverständigung mehr beigetragen als die Olympischen Spiele, denn hier trafen sich Sportler zu einem Beisammensein, das nicht unter dem Damoklesschwert von Medaillen und Titeln stand.

NICHT DURCH WETTKÄMPFE ALLEIN wird der Sinn der Leibesübungen erfüllt. Österreich braucht keineswegs Spitzensportler heranzu-züchten. Körpererziehung auf breitester Basis bringt sie ganz von selbst hervor. Viele Beispiele in den westeuropäischen Staaten zeigen uns, daß Spitzensportler auch ohne staatliche Hilfe heranwachsen, wenn nur das Fundament gegeben ist. Unsere verantwortlichen Funktionäre haben in den letzten Tagen genug Beispiele vor Augen gehabt und viele Möglichkeiten, mit internationalen Fachleuten Erfahrungen auszutauschen.

Als Enschuldigung möge vielleicht gelten, daß Österreich mit seinen Vorführungen im Schatten mancher ausländischer „Revuen“ stand. Aber beim Großteil zeigte sich eine mangelhafte Vorbereitung. Worauf dies zurückzuführen ist, man hatte doch drei Jahre Zeit...

Die IV. Gymnaestrada 1965 ist vorbei —i die Vorbereitungsarbeiten für 1969 haben bereits begonnen. Vielleicht werden die österreichischen Fachverbände diese Zeit nützen und ihren unbestrittenen organisatorischen Leistungen während dieses Weltfestes der Turner durch eine Intensivierung des Volkssportes bis zur nächsten Gymnaestrada einen Erfolg der Jugend auf den Sportplätzen und in den Hallen hinzufügen...

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