Eine Gesellschaft von Doktoren

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Früher einmal hätte man gedacht, die "Wissensgesellschaft“ fordere höhere Qualifikationen für alle; heute wissen wir, es genügen die Zertifikate, auch wenn sie nichts Qualifiziertes bescheinigen.

Rund die Hälfte eines Jugendlichen-Jahrgangs beginnt eine akademische Ausbildung an Universitäten und Fachhochschulen, und es sollen mehr werden. Nur ein Teil davon schließt ab. Jedenfalls besteht europaweit der Drang zur Verbesserung der Statistik formeller Abschlüsse. Alle immer höher hinauf.

Der Europäische Qualifikationsrahmen ist hierfür das neueste Instrument. Man legt allgemeine Qualifikationsstufen fest, in acht Abstufungen, und ordnet Abschlüsse in diese Kategorien ein. Konsequenterweise wird auch über den nächsten Schritt, die Vergabe der entsprechenden Titel, diskutiert - alles andere wäre diskriminierend.

Konkret heißt das: Handwerker (mit Meisterprüfung) werden demnächst mit Bachelor (oder Master) dekoriert. Nur mit dem Doktorat gibt es Schwierigkeiten, also erfindet man das "professional doctorate“. Das hat zwar nichts mit Wissenschaft zu tun, aber jede qualifizierte berufliche Tätigkeit eröffnet die Option, sich einen echten Doktor auf die Visitenkarte zu drucken.

Das ist die endgültige Vision der Wissensgesellschaft: eine Gesellschaft von Doktoren. Sie können zwar, wie uns die PISA-Tests mitteilen, kaum noch lesen, schreiben oder gar prozentrechnen; aber das braucht man für den Master- oder Doktortitel ohnehin nicht mehr.

Zusatzbemerkung: Meine Testleser haben diesen Text ironisch aufgefasst. Nein, es handelt sich um eine ganz ernsthafte EU-Diskussion - die Diskussionen, Vorschläge und Entwürfe sind im Netz nachlesbar.

Der Autor ist Professor für Soziologie an der Karl-Franzens-Universität Graz

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