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Eine Periode der Emanzipation

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dieFurche: Sind Sie der Vater der österreichischen Meinungsforschung?

Ernst Gehmacher: Eine erste Generation war schon vor mir da: Dr. Fessl und Dr. Karmasin. Obwohl ich in der Öffentlichkeit sehr bekannt wurde, bin ich nie der uneingeschränkte Umfragenforscher gewesen, als den man mich vielleicht sieht. Dazu eine Anekdote: In einem Gespräch, an dem auch Rudi Bretschneider teilnahm, sagte jemand, ich sei der Nestor der österreichischen Meinungsforschung. Worauf Bretschneider sagte: „Ich meine eher: der Nestroy der Meinungsforschung."

dieFurche: Hat sich die Meinungsforschung sehr geändert?

Gehmacher: In den grundsätzlichen Zielsetzungen hat sie sich kaum verändert. In den Anfangen hatte man noch viel Vertrauen in die Erfaßbarkeit sozialer Vorgänge. Heute hat dieses primitive Urvertrauen bei den Wissenden stark abgenommen.' In der breiten Masse wird diesem Instrument allerdings immer noch sehr stark geglaubt.

dieFurche: fVer sind die Hauptauftraggeber der Umfragen?

Gehmacher: Da muß man unterscheiden zwischen der Umfrageforschung, die der Entscheidungsfindung dient und jener, die eher der Meinungsbildung dient - oder einfach der öffentlichen Unterhaltung. Die finanziell interessanten Kunden sind jene, die unsere Ergebnisse für die Entscheidungsfindung heranziehen. Hauptkunde ist also die Wirtschaft. Diese Ergebnisse werden nicht veröffentlicht. Nur ein kleiner Teil der Untersuchungen dient der Wissenschaft und wird auch veröffentlicht.

dieFurche: Hat sich das Instrumentarium verändert?

Gehmacher: Derzeit erfolgt der Übergang zur telephonischen Befragung. Sie geht sehr schnell. Da kann man etwa nach einer Sendung innerhalb von ein, zwei Stunden erheben, wie die Zuseher reagiert haben. Auch vor Entscheidungen kann man eine größere Stichprobe innerhalb von nur wenigen Tagen befragen.

dieFurche: Das interessiert wohl nur Politiker...

Gehmacher: Sicher. Für wirtschaftliche Umfragen hat man mehr Zeit. Außerdem nehmen elektronische Verfahren zu, etwa die Erfassung von Einschaltquoten im Fernsehen. Da werden an die Geräte Modems angeschlossen, die das Verhalten erfassen und unmittelbar übertragen. Es gibt auch technische Verfahren, die Verkäufe direkt an eigenen Scanner-Kassen erfassen. Die Elektronik eröffnet da neue Möglichkeiten: Die Antworten in einem Interview können direkt in die Datenerfassung eingespeist werden. Beschleunigung der Abläufe ist also die wesentliche Änderung. Das persönliche Gespräch bleibt aber als Erhebungsform bestehen.

dieFurche: Ist die Bereitschaft sich befragen zu lassen, groß?

Gehmacher: Heute will eher eine jüngere, gebildete Schicht nicht mehr befragt werden, weil sie das für Manipulation und ungebührliches Eindringen in die Privatsphäre hält. Vor 30 Jahren waren es eher die Älteren, die aus einer gewissen Ängstlichkeit heraus nichts sagen wollten. Die Verweigerungen nehmen derzeit stark zu.

dieFurche: Wie hat sich das soziale und kulturelle Klima in Osterreich in den letzten 30 Jahren verändert?

Gehmacher: Da hat sich Gewaltiges getan: Das Markanteste ist die emanzi-patorische Entwicklung und die Ausdehnung des kritischen Denkens durch mehr Bildung und mehr Medien.

dieFurche: Was verstehen Sie unter emanzipatorisch?

Gehmacher: Ich meine primär die Frauenemanzipation. Das klassische Bild der Hausfrau und Mutter, die nur notgedrungen etwas arbeitet, ist bei mehr als der Hälfte der jüngeren Frauen abgelöst vom Bild einer selbständigen, beruflichen Entfaltung und die Erwartung einer Partnerschaft bei den Männern, die dem total entgegenkommt. Sie wird von den Männern nur zu einem kleinen Prozentsatz eingelöst. Das erzeugt eines der gewaltigsten Spannungsfelder: die praktische Auflösung der alten Familie.

Wenn ich emanzipatorisch sage, denke ich allerdings auch ein die Bildung, an die starke Ausdehnung des Medienkonsums. Es kommen heute ungeheuer viele neue Inhalte ins Leben. Das brachte Verunsicherung, steigende Kritikbereitschaft, eine Auflösung von Ideologien, aber auch von Illusionen.

dieFurche: Richtet sich diese kritische Haltung auch gegen Institutionen?

Gehmacher: Das kann man deutlich nachweisen. Allerdings findet da eher eine Verschiebung statt: Früher war man kritisch in den festen Bahnen geschlossener Weltbilder: Die Sozialisten waren den Unternehmern, die Christen liberalen Anschauungen gegenüber kritisch. Heute gibt es diese Kritik an anderen Weltanschauungen in dieser Art nicht mehr.

dieFurche: Gibt es überhaupt noch ein Klassenbewußtsein?

Gehmacher: Es hat sich in Identitäten aufgelöst. "Wir haben eine Vielfach -identität: Berufs-, Freizeit-, Bildungsidentitäten. Bildungsunterschiede prägen heute sehr stark, etwa welche Medien man benützt.

dieFurche: Welche anderen Werte haben an Bedeutung gewonnen?

Gehmacher: Die ökologische Sichtweise hat sich sehr verbreitet. So etwas gab es vorher nicht. Bei der Internatio-nalisierung gibt es keine einheitliche Entwicklung: Eine Bildungsschicht betont die Multikulturalität, während eine Schicht von Benachteiligten wachsende Angst vor dem Fremden hat. Das neueste Phänomen ist der Unterschied zwischen den Gewinnern und den Verlierern unseres Modernisierungsprozesses. Eine Reihe von Menschen geraten da in schwere Nachteile.

dieFurche: In welcher Hinsicht?

Gehmacher: Am deutlichsten macht es das Begriffspaar Selbstbewußtsein und Gebrochenheit. Das ist sehr stark mit dem Berufserfolg verbunden. Die nicht erfüllte Lebenserwartung führt zu Mißtrauen und Protest. Das trifft die Jugend, aber nicht nur sie, sondern vor allem auch Frauen und jene, die verfrüht arbeitslos werden. Es findet ein Verlust der Sicherheiten statt.

dieFijrche Und die Solidarität?

Gehmacher: Ich spreche lieber von persönlichen Bindungen. Sie waren früher wesentlich stärker, verbunden mit geringer Mobilität. Durch Aufbau von Freundeskreisen und ähnlichem muß man sich heute selbst ein Netz schaffen. Diese Beziehungen sind viel brüchiger, weniger tragfähig, aber flexibler. Für einige ist das ein Vorteil, einige fallen aber ins Loch. Es gibt viel mehr Alleinstehende. Auch hier macht sich Ungleichheit breit.

dieFurche: Wie steht es mit der Identifikation mit Österreich?

Gehmacher: Die Ältesten haben eine noch aus der Monarchie herrührende regionale Bindung. Sie sind Tiroler oder Oststeirer ... Danach kommt eigentlich schon die deutschnationale Bindung. Da haben die Nazi- und die Zwischenkriegszeit ihre Spuren hinterlassen. Danach kommt die große Welle des Österreichbewußtseins, am stärksten ausgeprägt in der Ära Kreisky. In der jüngsten Generation wächstein Eu-ropabewußsein.

diefurche Greift heute Angst um sich?

Gehmacher: Was konkrete Befürchtungen anbelangt beobachtet man Lern- und Vergessenskurven. Das kann man durch Meinungsforschung gut beobachten. In letzter Zeit sind einige Ängste stark zurückgegangen: die-Angst vor dem Krieg, die ökologische Angst. In den Vordergrund getreten ist die Angst vor Krankheit, sowie die vor Einkommens- und Arbeitsplatzverlust.

dieFurche: Ist ein Zusammenhang zwischen Glaubensverlust und Ängstlichkeit zu erkennen?

Gehmacher: Zweifellos. Das ist fast identisch. Das Fertigwerden mit Äng sten setzt eine innere Deutung voraus. Innere Stärke bedeutet Zuversicht. Mein jüngstes Buch beschäftigt sich mit dieser Frage. Wie man ein Geschehen deutet, das ist kein objektiver Zugang. Das geht es um Glaubensfragen.

Das Gespräch

führte Christof Gaspari

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