7122317-1996_42_03.jpg
Digital In Arbeit

Entkopplung von Arbeit und Absicherung

19451960198020002020

Das Dach des Sozialstaats, die Vollbeschäftigung, ist irreparabel kaputt. Daher sind auch die darunterliegenden Stockwerke des altvertrauten Hauses in massiver Gefahr.

19451960198020002020

Das Dach des Sozialstaats, die Vollbeschäftigung, ist irreparabel kaputt. Daher sind auch die darunterliegenden Stockwerke des altvertrauten Hauses in massiver Gefahr.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Grünen hat der Mut verlassen. Wie ist es anders zu erklären, daß deren Wirtschaftssprecher Alexander van der Bellen in seinem „Plädoyer für Differenzierung” (FURCHE 37/Seite 3) mit seiner Warnung vor der „Grundeinkommensfalle” selbst auf dem besten Weg ist, in eine Falle zu geraten: vor lauter Bäumen den Wald und damit das Ziel nicht mehr zu sehen.

Selbstverständlich gibt es in Zusammenhang mit der Überlegung eines Grundeinkommens für alle Bürger(innen) noch ein breites Feld offener Fragen. Das Problem der Arbeits- und Bildungsmoral gerade unter Jugendlichen ist eine davon; die Höhe der Grenzsteuersätze (ab wann ein geringes Einkommen oberhalb der Grundsicherung zur Besteuerung herangezogen wird) eine zweite. Nicht zu reden von der Frage, wie ein Grundeinkommen überhaupt finanziert werden soll. Van der Bellen hat grundsätzlich recht, wenn er für eine differenzierte Betrachtung des Themas plädiert. Auf dem internationalen Grundeinkommens-Kon-greß, der Mitte September in Wien stattfand, betonten einige Bedner, die Forderung nach einer Grundsicherung dürfe nichts für romantische Schwärmer sein. Empirische Prüfung - Ausprobieren und Berechnen - sei nunmehr an der Bei-he.

Und dennoch murkst Van der Bellen die Idee eines Grundeinkommens ab, noch bevor sie in Österreich überhaupt diskutiert wurde. So weist der Grün-Politiker in seinem Artikel „Armutsfalle contra Grundeinkommen” bloß oberflächlich auf die zum Teil rein spekulativen Probleme in Zusammenhang mit der Einführung eines Grundeinkommens hin, ohne darzustellen, was denn sonst die Alternative sein könnte. Wer nicht erkennt, oder nicht erkennen - will, daß unsere aktuellen sozialen Sicherungssysteme die Grenzen ihrer Lei- stungsfähigkeit längst überschritten haben und dennoch anläßlich eines Grundeinkommenskongresses die Nachteile eines solchen Systems herausstreicht, anstatt die Positiva zu betonen, der erfaßt die Bedeutung des Problems nicht.

In unserem Beitrag zum vergangenen Ersten Mai haben die Liberalen das Thema Grundsicherung erstmals formuliert. Nicht, weil wir nun auch ins neomarxistische Fahrwasser schwimmen gehen wollten, sondern weil wir in Zeiten, wo Arbeit knapp wird, die soziale Absicherung der Menschen von der Erwerbsarbeit entkoppeln müssen. Der Wunsch nach Wiedererlangen von Vollbeschäftigung ist hehr - aber unrealistisch. Gerade der Wirtschaftsprofessor Van der Bellen weiß das. Daß dieser nun auf den Plan tritt, um vorwiegend die möglichen negativen

Auswirkungen eines Grundeinkommens darzustellen, ist enttäuschend, zumal die Diskussion darüber (noch) abseits des tagespolitischen Geplänkels stattfindet. Van der Bellens Kritikpunkte sind zu berücksichtigen und dem LIF längst bewußt. Ich sehe jedoch die Aufgabe einer erneuernden Kraft in der Politik darin, zu fordern, statt zu verhindern, konstruktiv statt überkritisch zu sein. Ja, überhaupt verwundert es, all die Kritik aus grünem Munde zu hören, waren die Grünen doch immer offen für Visionen - die Grundsicherung war eine auch der ihren. Es ist der Sache kein guter Dienst erwiesen, wenn die eigentlichen Befürworter Angst vor der eigenen Courage bekommen und das Thema zurücknehmen, bevor es noch eines ist. Statt darüber nachzudenken, wie eine Gesellschaft der Zukunft aussehen könnte, deren Wertekern nicht ausschließlich die traditionelle Erwerbsarbeit darstellt, wird am Grundsicherungskongreß seitens der Grünen bloß darüber philosophiert, welche negativen Auswirkungen das Grundeinkommen haben könnte.

Der Berliner Sozialwissenschaftler Claus Offe hat auf dem Kongreß ein drastisches Bild gezeichnet: Ins Haus unserer wohlfahrtsstaatlichen Sozialsysteme würde es seit einiger Zeit hineinregnen, da das Dach dieser Systeme, das da Vollbeschäftigung heißt, massiv beschädigt und irreparabel geworden sei. Das kaputte Dach, das sich nicht mehr decken läßt, macht langsam, aber sicher die darunter befindlichen Stockwerke porös. Diese Stockwerke unseres sozialen Systems sind Kranken- und Pensionsversicherung, Tarifautonomie oder Arbeiterschutz.

Für uns Liberale wird aus dem Befund ersichtlich, daß wir mit dem Grundeinkommen einen neuen Boden legen müssen, auf dem wir ein Haus bauen für eine Gesellschaft, in der künftig vorübergehende Arbeitslosigkeit für den einzelnen bewältigbar wird. Vor allem aber muß in diesem neuen Haus für weitere arbeitsmarktpolitische Maßnahmen gesorgt werden - stichwortartig sei nur auf die Themen radikale Arbeitszeitverkürzung, Flexibilisierung der Arbeitswelt und Neubewertung der Arbeit hingewiesen. Die Umverteilung von Arbeit bei gleichzeitiger Sicherstellung des sozialen Schutzes ist wohl die wichtigste Aufgabe, die die Politik derzeit zu bewältigen hat. Die Grundsicherung mag vorerst noch einen visionären Lösungsansatz darstellen, Schritte in diese Richtung müssen aber dringend unternommen werden. Gleitpensionsmodelle, Teilzeitkarenzzeiten - beides in Österreich bereits möglich, aber kaum in Anspruch genommen - sind Maßnahmen, die in die richtige Richtung weisen. Im weiteren gilt es ein Modell der Teilzeitarbeitslosigkeit zu

Foto Weixgirinu schaffen, um bei Verlust eines Vollzeitarbeitsplatzes auch die Annahme eines Teilzeitjobs attraktiv zu machen. Ein diesbezüglicher Antrag der Liberalen liegt im Parlament, und wir sind überzeugt davon, daß wir zumindest seitens einer Fraktion Zustimmung zu dieser Idee bekommen werden.

Für die eben geschilderten kurzfristigen Vorhaben zum sozialen Schutz unserer Bürger(innen) braucht das Liberale Forum ebenso Verbündete wie zum mittelfristigen Ziel Grundeinkommen. Neue Modelle der sozialen Sicherung zu diskutieren, ist ein Gebot der Stunde und eine rein philosophische Herausforderung. Die Kritikpunkte Van der Bellens sind ernstzunehmen und in die Diskussion miteinzubeziehen. Dennoch sollte man annehmen, daß über die Notwendigkeit eines neuen Sozialvertrages prinzipiell Einvernehmen zwischen den zwei kleinen Oppositionsparteien herrscht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung