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Erst zu mild, dann zu streng

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Haben die im Jahrhundert des Kindes — meist von Theoretikern — entwickelten Erziehungsmethoden bei uns auch nicht so verheerende Auswüchse gezeitigt wie in Amerika, so sind doch unter dem Motto „Schont die kindliche Seele“ Tendenzen aufgekommen, die sich auf die Dauer schädlich auswirken. Es soll hier keineswegs unnachsichtiger Härte das Wort gesprochen werden — jedem Erzieher können Fehlentscheidungen passieren, die auszugleichen es Mittel und Wege gibt, doch sollten Eltern wie Schulbehörden endlich erkennen, daß die ungerechte und unangebrachte Milde, so bequem sie im Augenblick auch für alle Beteiligten sein mag, weitgehend schuld ist an einer Situation, die ein oststeirischer Lehrer treffend wie folgt kennzeichnete: Die Lehrer haben Angst vor den Direktoren, die Direktoren vor den Inspektoren, die Inspektoren vor den Eltern, die Eltern vor den Kindern; nur die Kinder haben vor niemandem mehr Angst. — Sie brauchen kaum mehr Angst vor Strafen zu haben, denn diese wurden weitgehend „entschärft“, sie brauchen aber auch kaum Angst vor schlechten Noten zu haben, seit es üblich geworden ist, nicht die Unfähigkeit und Faulheit der Schüler, sondern angebliche pädagogische Mängel des Lehrers für sie verantwortlich zu machen. Was für Unheil hat doch die Ueberbetonung des sogenannten „Repetentenproblems“ über die Schule gebracht! Wie viele Schulleiter erklären stolz, dieses Problem gebe es bei ihnen nicht — weil ihre Lehrer das Niveau so tief senkten, daß auch der Dümmste und Faulste noch durchgeschoben werden kann. Sie überlassen die Lösung dieses natürlich überall vorhandenen Problems den weiterführenden Schulen. Lieber scheele Blicke von Mittel- und Hauptschullehrern, als Anpfiffe vom Direktor oder gar Inspektor!

Wie wenige Volksschullehrer haben den Mut, ehrlich zu sagen, daß ein Kind nicht reif zum Aufsteigen, nicht reif für Mittel- oder Hauptschule ist; wie viele Hauptschullehrer wiegen durch ihre zu milde Beurteilung Kinder wie Eltern in falsche Hoffnungen, was die Berufswahl betrifft. Dann folgt jähes und bitteres Erwachen, wenn bereits in der Untermittelschule Nachhilfe nötig wird, eine Versetzung vom ersten in den zweiten Zug der Hauptschule erfolgen muß oder ein Schüler wegen mangelhafter Leistung für immer etwa aus der Handelsschule verwiesen wird. Entmutigung und Verbitterung, Aerger über Zeit- und Geldverlust, häusliche Zerwürfnisse sind die Folge. Und wie teuer muß die ungerechte Milde später oft bezahlt werden!

Unsere Zeugnisse mit ihren vier oder fünf Noten waren nie ein objektiver Leistungsbericht — es gab zum Beispiel immer „billige“ Reifeprüfungen —, doch ist jetzt das Vertrauen in die Objektivität besonders der Pflichtschulzeugnisse so geschwunden, daß man wohl die Forderung nach bindenden Normen wenigstens im Rechnen, Lesen und Rechtschreiben erheben sollte. Ist es nicht beschämend, daß viele Betriebe aus Protest gegen die „auffrisierten“ Abschlußzeugnisse ihre eigenen Aufnahmsprüfungen einführten, und zwar auch in den oben erwähnten Disziplinen? Selbstverständlich wird man beim Abschluß eines Bildungsganges die Pluspunkte mehr hervorheben als die Minuspunkte, nicht mehr vertretbar aber sind Noten, die zu den tatsächlichen Leistungen in keiner Beziehung stehen. Wer etwa vier Jahre lang kaum einmal ein „Sehr gut“ in Betragen oder Fleiß hatte, verdient diese Note auch im Abschlußzeugnis nicht, wenn man dieses nicht zur Farce machen will. Während zum Beispiel das Professorenkollegium Schüler der 8. Gymnasiales., die glauben, es könne ihnen nun nichts mehr passieren, durch Zurückstellung von der

Matura eines Bessern belehrt, sind dem Hauptschullehrer in ähnlicher Situation (in der 4. Klasse) die Hände meist gebunden. Da schalten sich Direktoren und Inspektoren ein, um zu verhindern, daß ein notorischer Faulpelz mittels einer Nachprüfung doch noch in den Besitz des vom Lehrer geforderten Mindestmaßes an Sachwissen gelangt. Nur kein Aufsehen und keine Scherereien durch Nachprüfungen in der 4. Klasse oder ein „Nicht genügend“ im Abschlußzeugnis oder — in dr Volksschule — durch Verweigerung der Hauptschulreife! Lieber blamiert man den Lehrer, untergräbt seine Autorität, erschwert ihm die Arbeit in den nachfolgenden Klassen, da sich jeder „Sieg“ ja rasch herumspricht, und nimmt ihm außer der Freude am Beruf auch den letzten Rest der dort ohnedies nicht häufigen Zivilcourage. Man fahre in dieser Taktik nur fort, bis auch der letzte pflichtbewußte Lehrer den Weg des geringsten Widerstandes geht und sich nichts mehr „antut“, statt sich im Streben nach Gerechtigkeit und Leistung aufzureiben, bis schließlich dank dieser pseudo-sozialen Methoden das Niveau zu einem für Gesellschaft und Staat nicht mehr tragbaren Tiefstand abgesunken sein wird!

Nicht unerwähnt bleibe die Gefährdung der sittlichen Entwicklung der Jugend durch ungerechtfertigte Interventionen: Warum sollte einer, der in der Schule trotz aller„s Drohungen imrrter, ungwaftf.akLBMeJachjfeV später ajs-j Staats bürger Gesetze und Normen achten? Wird er nicht noch als jugendlicher Delinquent trachten, irgendwie durchzurutschen und den Richter „umizuheben“? Gerade in Hinblick auf die Zunahme der Jugendkriminalität sei auf die Gefahr der „ungerechten Milde“ besonders hingewiesen.

In welchem Maß Gleichgültigkeit, Mangel an Zivilcourage und Streben nach Rückendeckung unser Erziehungswesen bereits angefressen hat, zeigen immer wieder Vergleiche zwischen den Zeugnissen und den in der Schule verbleibenden Schülerbeschreibungsbögen. Hier Beurteilungen wie: Unfähigkeit, logisch zu denken und sich zu konzentrieren, völliger Mangel an gutem Willen und Fleiß usw.; dort aber — den Eltern und Vorgesetzten zuliebe — lauter gute oder mittlere Noten.

Sehr im Gegensatz zur üblichen geistig-seelischen Verhätschelung stehen jedoch so manche Bestimmungen, die wirklich hart sind und den Betroffenen schaden. So kommt es vor, daß infolge falscher Beurteilung in der Volksschule (siehe oben!) Kinder in die Hauptschule gelangen, die nach einhelligem Urteil der dort beschäftigten Lehrer das Lehrziel dieses Schultyps nie erreichen werden. Sie dürfen aber nicht gleich, wenn dies offenbar wird, an die Volksschule zurückversetzt werden, sondern erst, nachdem sie zweimal mit negativem Erfolg die 1. Klasse absolvierten. Dann aber findet das Kind auch dort nicht mehr den richtigen Anschluß und erreicht oft das in sich geschlossene Bildungsziel der Volksschule nicht. Zudem ist eine Rückversetzung nach wenigen Wochen weniger blamabel als nach zwei Jahren! Ungerecht zu nennen ist ferner eine Verfügung, nach der bei freiwilliger Wiederholung der 4. Hauptschulklasse das erste, also schlechtere Zeugnis gilt, während für das Wiederholungsjahr, in dem die Leistungen naturgemäß besser wurden, nur ein Besuchszeugnis ausgefolgt wird. — Oder die Nichtzulassung eines aus Latein gestrauchelten Mittelschülers zur Handelsschule, obwohl dort Latein nicht mehr gelehrt wird. — Auch ist die Bewertung der Leistungen mit nur fünf Noten ungerecht und sollte revidiert werden.

Es wäre gewiß eine dankbare Aufgabe für die Schulbehörden, wenigstens die hier angeführten Mängel zu überprüfen und zu beseitigen, das Niveau der Schule zu heben und den Leistungswillen der Lehrerschaft anzuerkennen. Der falschen „Schonpolitik“ aber sollte eindeutig der Kampf angesagt werden.

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