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Experiment mit der Jugend

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Die schwedischen Schulreformer, die 1950 den Beschluß über die schrittweise Einführung der neunjährigen Einheitsschule durchgesetzt haben, können nun auf eine zehnjährige Versuchsperiode zurückblicken. Man hat viel experimentiert in dieser Zeit, und nicht alle Versuche schlugen gut aus. Wie bei jeder Revolution, so mußte man auch hier von den gesteckten Zielen etwas abschreiben, anderseits aber machte man interessante Erfahrungen, die unter allen Umständen ihren Niederschlag in der neuen Schule finden werden, gleichgültig, ob diese Einheitsschule heißen wird oder nicht.

Die Einheitsschule will auf die Forderungen des Berufslebens vorbereiten, will eine bessere Gewichtsverteilung zwischen theoretischen und praktischen Fächern herbeiführen, sie will jedem normal begabten Staatsbürger eine gute mittlere Reife geben und allen Berufsgruppen einen festen, gemeinsamen Ausgangspunkt. Es ist also in hohem Ausmaße eine moderne demokratische Schule, deren soziale, kulturelle und politische Ausstrahlungen weit in das Leben des Staatsbürgers hineinwirken sollen.

Die neunjährige Schulzeit ist in drei Perioden zu je drei Jahren aufgeteilt. Es gibt eine Unter-, eine Mittel- und eine Oberstufe. Die Oberstufe soll die jetzige Realschule ersetzen. In der Unterstufe unterrichten nahezu ausschließlich Lehrerinnen der Kleinkindersehule, die in eigenen zwei- bis dreijährigen Seminar en ausgebildet werden. In der Mittelschule finden wir die jetzigen Volksschullehrer wieder, die in der Hauptsache nach denselben Lehrplänen arbeiten. In der Oberstufe unterrichten Fachlehrer und Realschullehrer.

Vom l. bis zum 6. Schuljahr ist der Lehrplan für alle Schüler gleich. Die diskutierten Änderungen betreffen den Zeitpunkt, wann der obligatorische Fremdsprachenunterricht einsetzen soll. In der 7. Klasse beginnt die Differenzierung im Lehrplan nach einer praktischen, theoretischen und Haushaltslinie, in der 9. Klasse kommt es schließlich zu einer klaren Trennung in drei Linien: einer allgemeinen Linie (9 a), einer zum Gymnasium fuhrenden Linie (9 g) und einer technisch betonten Berufslinie (9 y). Schulgemeinden, die zuwenig Schüler für eine solche Aufteilung in den höchsten Klassen haben, sollten nach dem ursprünglichen Plan zu größeren Schuldistrikten zusammengefaßt werden. Gerade hier hat man aber — um das Versuchsresultat vorwegzunehmen — die niederdrückendsten Erfahrungen gemacht. In den dünn bevölkerten Landgebieten erwies sich diese Differenzierung als nahezu unmöglich: aus Mangel an Lehrkräften, aus Mangel an Interesse, aus Mißtrauen gegen die neue Schulform und aus mancherlei anderen Gründen. Das Herzstück der Reform konnte in den menschenarmen Gebieten des Nordens nicht Wurzel fassen.

Ein Hauptprinzip in der ganzen Einheitsschule ist das Bestreben, daß die Schüler sich ihre Kenntnisse in aktiver Arbeit aneignen. Der Handfertigkeit und der Berufsvorbildung wird große Aufmerksamkeit gewidmet. So können auch Knaben — gemeinsam mit den Mädchen — zusätzlich über den obligatorischen Lehrplan hinaus an Koch- und Backkursen teilnehmen. Jungen und Mädchgn besuchen Nähkurse oder lernen die Anfangsgründe keramischer Berufe. Es gibt in den modernen Schulen ausgezeichnete Holzbearbeitungswerkstätten (die verfertigten Möbel können die Schüler mit nach Hause nehmen.'), es gibt Metallwerkstätten und Brennereien, Druckereien, in denen die Drucksachen der Schule von Schülern hergestellt werden, und Werkstätten für Musikinstrumentenbau.

Dieses Ausrichten auf das Praktische geht so weit, daß in der letzten Klasse durch vier Wochen die Schüler und Schülerinnen ihre Tätigkeit überhaupt in Werkstätten, Fabriken und Geschäfte verlegen. Diese Arbeitswochen sind obligatorisch und werden gemeinsam mit den Arbeitsvermittlungsämtern organisiert. Die Berufslinie in der 9. Klasse hat an elf Wochenstunden theoretischen Unterricht, an 25 Stunden jedoch wird praktische Arbeit geleistet. Dagegen hat die Linie 9 g, die zum Gymnasium führen soll, einen ganz anderen Stundenplan. Um einen Vergleich zu ermöglichen, wollen wir deshalb einen solchen Stundenplan für die Klasse 9 g in einer Versuchsschule folgen lassen:

Der vorstehende Stundenplan ist dem der Realschule durchaus ebenbürtig; ebenso sollte auch das Schlußzeugnis der Einheitsschule dem Realexamen gleichwertig sein. Erst wenn diese gleiche Wertung mit allen ihren praktischen Konsequenzen in der Öffentlichkeit anerkannt wird, kann das Experiment der Einheitsschule als gelungen angesehen werden. Nach zehnjähriger Versuchstätigkeit ist das noch nicht der Fall. Hier treffen wir auf die zweite und vielleicht auf die entscheidende Niederlage der Einheitsschule.

Die Realschulen blieben in dieser Periode der Versuche weiterbestehen, obschon sie auf die Aussterbeliste gesetzt worden waren. Die Eltern begabter Schüler mißtrauten der Einheitsschule und betrieben energisch den' Übergang ihrer Kinder in die konventionelle Mittelschule. D i e Oberstufe der Einheitsschule wurde ihres besten Schülermaterials beraubtl Die Forderungen an den verbleibenden Rest mußten herabgeschraubt Werden. Der Zustrom der Fachlehrer blieb aus. Der Mangel an Spezialkräften verhinderte an vielen Schulen sogar die Einführung des englischen Sprachunterrichts. Die erwartete Erhöhung des Bildungsniveaus blieb aus. Tatsächliche Schwächen und Mißstände und rein konservative Gesinnung vereinten sich, um dem Experiment mit hunderttausenden jungen Menschen die Vertrauensgrundlage zu entziehen. Im Herbst 1959 gab ein vorläufiger Bericht zu, daß man auf die Frage nach der Lebensfähigkeit der Einheitsschule mit keinem unbedingten Ja antworten konnte.

Die konservative Presse übte, wie zu erwarten war, die bitterste Kritik. So schrieb die Stockholmer Zeitung „Svenska Dagbladet“:

„Dorf, wo wir nun stehen, liegen vor uns die Ruinen des alten Schulsystems und eine höchst unklare Planskizze für ein neues System. Soll die Einheitsschule etwas anderes werden als ein Sorgenkind, als ein Gegenstand empfindsamer Sorge und ständiger Enttäuschungen, dann mufl sie unter Rücksichtnahme auf die pädagogische Erfahrung aufgebaut werden und nicht mit dem Gedanken an dogmatisch aufgefaßte soziale Erwünschtheiten. Wenn der Staat sich für die späte Differenzierung entschließen wird, so bedeutet das, daß man ein System durchführen wird, das die Schule nach zehn: Jahren Versuchen als .übermächtig' befunden hat. In diesem Fall hat dann der Begriff .Versuchsbetrieb' den letzten Rest eines Sinnes verloren, denn was ist das für ein Versuch, aus dessen Mißglücken im wichtigsten Punkt niemand etwas lernen will?“

Auch die der Arbeiterpartei nahestehende Presse konnte sich der allgemeinen Verstimmung nicht entziehen. So schrieb „Aftonbladet“, die große Abendzeitung der Gewerkschaften, daß aus dem Bericht „mit erschreckender Klarheit hervorgeht, daß zehn Jahre nicht die erwartete und allgemein ersehnte Grundlage für die Arbeit der Lehrer und der Behörden in der Einheitsschule gebracht haben“. Der Rapport könne weder den Schülern noch den Eltern eine Handhabe bei der Beurteilung des bisher erreichten Resultates geben.

In zehn Jahren sind hunderttausende Schüler durch die Einheitsschule gegangen. Die für sie aufgewandten Beträge lassen sich schwer errechnen, doch es handelt sich zweifellos um Milliarden Kronen. Das schlimmste aber ist, daß sich heute sehr viele schwedische Eltern und Schulentlassene fragen, ob die wertvollste Zeit ihres Lebens nicht der Illusion eines großen, aber undurchführbaren Gedankens geopfert worden ist? Es gibt keine schwedische Schulbehörde, die das heute öffentlich zugeben würde, es gibt aber auch ganz sicher keine, die nicht in stillen Stunden von Zweifeln befallen ist.

Die zu Beginn des Jahres veröffentlichten Planentwürfe zielen auf die Herabsetzung der wöchentlichen Stundenzahl, auf Verschiebungen im Lehrplan zugunsten der technischen Fächer und auf die E i n f ü h r u n g d e r F ü n f t a g e-woche. Diese letzte Reform wurde im Vorjahr noch von einer großen Mehrheit der Schüler in einer Reichswahl abgelehnt; Versuche an einzelnen Schulen zeigten jedoch sehr positive Ergebnisse, und an diesen Schulen sprachen sich nun 91 Prozent der Schüler und Eltern für die Fünftagewoche aus.

Das große Problem der Einheitsschule aber bleibt bestehen, und hier ist nur zu hoffen, daß seine besten Gedanken in eine wirklich lebensfähige neue Schule hinübergerettet werden können.

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