Flucht und Bildung: Geht das inklusiv?

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Die Vision von "Inklusion" geht davon aus, dass alle Menschen gleiche Rechte haben - und es normal ist, verschieden zu sein. Was bedeutet das für den Alltag und die Bildungschancen von Flüchtlingen? Und für die Gesellschaft insgesamt? Nachlese einer Debatte.

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Die Vision von "Inklusion" geht davon aus, dass alle Menschen gleiche Rechte haben - und es normal ist, verschieden zu sein. Was bedeutet das für den Alltag und die Bildungschancen von Flüchtlingen? Und für die Gesellschaft insgesamt? Nachlese einer Debatte.

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Es ist normal, verschieden zu sein"; "Vielfalt macht stark" oder "Jedes Kind ist besonders": Mit Slogans wie diesen wird seit vielen Jahren ein Umdenken im Umgang mit Kindern mit Behinderungen gefordert. Statt sie "exklusiv" in Sonderschulen zu stecken, sollten sie - mit der nötigen Unterstützung - in Regelschulklassen "inklusiv" unterrichtet werden. Das Ziel von "Inklusion" ist, allen Kindern gleichermaßen Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen, Unterschiedlichkeit (Diversity) als Bereicherung zu verstehen - sowie von- und miteinander zu lernen.

Eine große Vision, die nicht nur Jubel auslöst. Erst Anfang Juni haben sich Eltern mit einer Bürgerinitiative dagegen gewehrt, dass Sonderschulen in Österreich (wie im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention vorgesehen) bis 2020 zur Ausnahme werden sollen. Das eigentliche Motiv aus Elternsicht: Einsparungen.

Heterogenität als Herausforderung

So kontrovers Inklusion im Kontext von Behinderung nach wie vor diskutiert wird: In vielen Integrationsklassen hat sich das Lernen in Vielfalt - bei entsprechenden Rahmenbedingungen - durchaus bewährt. Durch das umfangreiche Pflichtmodul "Inklusive Schule und Vielfalt" bei der neuen, gemeinsamen Lehrerbildung von Universitäten und Pädagogischen Hochschulen in der Region Nordost müssen sich auch alle künftigen Lehrer mit Heterogenität in der Klasse auseinandersetzen, wie Gottfried Biewer vom Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien betont. Doch lässt sich aus den bisherigen Integrationserfahrungen lernen, wie Inklusion auch im Zuge der so genannten "Flüchtlingskrise" gelingen könnte? Diese Frage wurde vergangene Woche bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Tagung "Inklusive Perspektiven auf Flucht und Bildung" am Institut für Bildungswissenschaft diskutiert.

"Viele sagen: Die Rede von Inklusion ist theoretisches Gewäsch, das von der Wirklichkeit noch meilenweit entfernt ist. Und das stimmt in gewisser Weise", gesteht Tobias Buchner vom Kultur- und Sozialforschungsinstitut "queraum". Es gehe freilich auch darum, einen Kampf um Ideen zu führen. Dass Erfahrungen in Integrationsklassen beim Umgang mit Flüchtlingen hilfreich sein können, zeige jedenfalls das Beispiel einer Wiener Mittelschule, die am Projekt "Inclusive Spaces" teilgenommen hat. Gleich nach den Weihnachtsferien seien zwei neue Schülerinnen aus Syrien in die Klasse gekommen, erzählt Buchner, zwei Wochen später ein Schüler aus dem Irak. In einem "Neu in Wien"-Kurs hätten sie täglich eine Stunde Deutsch gelernt, die übrige Zeit verbrachten sie im regulären Unterricht -wobei sich das Team-Teaching in der Integrationsklasse als großer Vorteil erwiesen habe. Mittlerweile hätten alle drei Kinder bereits Grundkenntnisse in Deutsch und könnten mit ihren Peers kommunizieren. Ein "automatisches Miteinander" habe sich zwar noch nicht eingestellt, doch werde es durch Angebote wie einen regelmäßigen Familientag für Kinder und Eltern stimuliert. "Teilhabe kann man nicht erzwingen", betont Buchner. "Aber es geht darum, Angebote zu setzen, dass sie möglich wird." Von einer "Krise" sei man jedenfalls weit entfernt.

Ein Befund, den auch Terezija Stoisits, Beauftragte des Bildungsministeriums für Flüchtlingskinder an den Schulen, teilt. Bis Schulschluss seien 14.000 Kinder mit Fluchterfahrungen ins Schulsystem gekommen -bei einer österreichweiten Gesamtschülerzahl von 1,1 Millionen. 11.200 seien in Pflichtschulen gelandet, die übrigen in allgemeinbildenden bzw. berufsbildenden mittleren und höheren Schulen. In Wien waren es rund 2700 Flüchtlingskinder - von 227.000 Schülerinnen und Schülern. Herausfordernd sei die Situation freilich allemal, so Stoisits: Vor allem punkto Mehrsprachigkeit - zumal 42,8 Prozent der Kinder in Wien eine andere Erstsprache haben als Deutsch. Unterstützung kommt hier freilich vom Sprachförderzentrum des Stadtschulrats: 210 Lehrkräfte mit 22 verschiedenen Sprachen haben zuletzt mitgeholfen, dass gemeinsames Lernen möglich wird.

Keine Krise, aber zahlreiche Herausforderungen ortet auch Ercan Nik Nafs von der Kinder- und Jugendanwaltschaft: Wie zuletzt bei der Protestkundgebung "Keine halben Kinder" kritisiert, würden minderjährige Flüchtlinge deutlich weniger Betreuung, Bildung und Gesundheitsleistungen erhalten als hier geborene Kinder. Dazu kommt, dass begleitete Minderjährige von ihren Familien oft nicht in ihren weiteren Ausbildungsplänen unterstützt werden (s. u.). Umso nötiger sei die Ausweitung der Ausbildungspflicht bis 18 Jahre auf Asylwerber. (Ob Mittwoch dieser Woche im Parlament diese Regelung beschlossen wurde, war bis Redaktionsschluss unklar; Anm.).

Gesetze als Integrationshemmnis

Schlicht katastrophal sei die Kürzung der Mindestsicherung in Oberösterreich von 914 Euro auf 365 Euro (plus 155 Euro "Integrationsbonus"), ergänzt Ruth Schöffl vom UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR. "Menschen rutschen dabei unter die Armutsgrenze - und Teilhabe wird unmöglich." Auch der Umstand, dass subsidiär Schutzberechtigte ihre Familie nun erst nach drei Jahren nachholen könnten, torpediere das Ankommen.

Die inklusive Perspektive auf Flucht steht also in der Praxis permanent Problemen gegenüber. Um weiter über Lösungen nachzudenken, hat die Bildungswissenschafterin Sabine Krause die Initiative "SOLIdee" mitgegründet (www.solidee.at)."Es gibt Fremdheitserfahrungen auf beiden Seiten", weiß Krause. "Die Frage ist: Wie können wir aus diesem Erleben des Fremden nach und nach ein Anerkennen des Fremden machen und uns selber fragen: Wer sind wir und was tun wir? Vielleicht kommen wir dann drauf, dass wir alle gar nicht so unterschiedlich sind."

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