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Form und Reform

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Das Zeitalter der Technik und Oekonomie ist unzweifelhaft auch eine Epoche der Zweckmäßigkeit und Nüchternheit. Hier scheinen sich die Geister zu scheiden: die einen, die mit dem Strom, dem Katarakt der Zeit sind, die den rasanten Fluß noch beschleunigen wollen, um möglichst neue Ufer (?) zu gewinnen, und andere, die das Gefälle verlangsamen wollen, damit mit dem Sturz des Vergänglichen nicht auch zeitlos Gültiges begraben werde. Ob der Gegensatz wirklich unüberbrückbar ist? Den „Stuttgarter Weisungen” sind die gemäßigten „Wiesbadener Empfehlungen” gefolgt — auch zu ihnen stehen die österreichischen Reformfreunde nicht mehr hundertprozentig. Hören wir einmal aus dem Munde von Berufenen die These und die Antithese. Möglicherweise finden Fachleute auch eine Synthese. Unsere schreibfreudigen Leser sind ausnahmsweise nur höflich eingeladen, mitzuhören — vielleicht laden wir sie zu einem späteren Zeitpunkt auch ein, mitzureden. „Die Furche”

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Das Zeitalter der Technik und Oekonomie ist unzweifelhaft auch eine Epoche der Zweckmäßigkeit und Nüchternheit. Hier scheinen sich die Geister zu scheiden: die einen, die mit dem Strom, dem Katarakt der Zeit sind, die den rasanten Fluß noch beschleunigen wollen, um möglichst neue Ufer (?) zu gewinnen, und andere, die das Gefälle verlangsamen wollen, damit mit dem Sturz des Vergänglichen nicht auch zeitlos Gültiges begraben werde. Ob der Gegensatz wirklich unüberbrückbar ist? Den „Stuttgarter Weisungen” sind die gemäßigten „Wiesbadener Empfehlungen” gefolgt — auch zu ihnen stehen die österreichischen Reformfreunde nicht mehr hundertprozentig. Hören wir einmal aus dem Munde von Berufenen die These und die Antithese. Möglicherweise finden Fachleute auch eine Synthese. Unsere schreibfreudigen Leser sind ausnahmsweise nur höflich eingeladen, mitzuhören — vielleicht laden wir sie zu einem späteren Zeitpunkt auch ein, mitzureden. „Die Furche”

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Reform der Schreibung, nicht der Sprache

In den letzten Wochen haben viele Zeitungen kurze Notizen, aber auch umfangreiche Artikel, ja ganze Artikelserien über eine bevorstehende Rechtschreibreform gebracht, aber trotzdem sind die Leser nur unvollkommen oder einseitig informiert und können sich kaum ein’ eigenes, begründetes Urteil über die Sache bilden.

Es geht um folgendes: Kein Mensch’ denkt daran, auch nur das Allermindeste an der Sprache zu ändern. Auch die Schreibung selbst soll nicht wesentlich verändert werden, und niemand hat die Absicht, das ie oder das Dehnungs-h abzuschaffen, weil durch solche Eingriffe das gewohnte Schriftbild und damit die Leichtigkeit des Lesens beeinträchtigt würden. Man denkt nur an die Beseitigung überflüssiger Schwierigkeiten, wodurch am einzelnen Wortbild so gut wie nichts geändert würde. Daß solche Schwierigkeiten bestehen und viele, sogar die meisten Menschen unsicher machen, wird niemand bestreiten, wenn er nur daran denkt, daß man zum Beispiel zu meinen Gunsten — zugunsten eines anderen, Ski laufen — eislaufen, etwas Gutes — etwas anderes, Schuld tragen — schuld haben, Angst haben — angst machen, mit Bezug auf — in bezug auf, sein Bestes tun — sein möglichstes tun usw. schreibt. Die Beispiele dafür sind zahllos, die Unsicherheit, die vielleicht romantische Dichter beglückend finden, ist grenzenlos.

Um diesem Uebelstand abzuhelfen, haben im Mai 1956 in Deutschland der Bundesminister des Inneren und die Ständige Konferenz der Kultusminister der deutschen Bundesländer einen Arbeitskreis für Rechtschreibregelung einberufen, dem mehr als dreißig Mitglieder angehörten, und zwar Universitätsprofessoren, Vertreter der Akademie für Sprache und Dichtung, des Journalistenverbandes, der Schriftstellerverbände, der Industrie, des graphischen Gewerbes, der Verleger, des Buchhandels (zum Beispiel als geschäftsführender Vorsitzender des Arbeitskreises der Leiter der Duden-Redaktion), der Lehrerverbände usw. Dieser Arbeitskreis von Männern, denen man weder Fähigkeit noch ernsthaftes Bemühen absprechen kann, ist nun nach zweieinhalb) ähriger Arbeit zu folgenden, den Kultusministern übergebenen Empfehlungen gekommen:

1. Die jetzige Großschreibung der „Hauptwörter” soll durch die gemäßigte Kleinschreibung ersetzt werden. Darnach werden künftig nur noch groß geschrieben: die Satzanfänge, die Eigennamen, einschließlich der Namen Gottes, die Anredefürwörter und gewisse fachsprachliche Abkürzungen (zum Beispiel H2O).

2. Das Komma soll weitgehend auf die Fälle beschränkt werden, in denen das rhythmische Empfinden des Schreibenden mit der grammatischen Gliederung des Satzes übereinstimmt. (Bezieht sich fast durchweg auf den Infinitiv mit zu und Mittelwortgruppen.)

3. Das Schriftbild soll bei der Silbentrennung sowenig wie möglich verändert werden. (Also nicht: dar-an, Päd-agogik, Sym-ptom, sondern: da-ran, Pä-dagogik, Symp-tom usw.)

4. Doppelformen sollen beseitigt werden. (Also nur: Knittelvers, panschen, diminutiv, nicht daneben auch noch: Knüttelvers, Pantschen, deminutiv usw.)

5. Häufig gebrauchte Fremdwörter aus lebenden Sprachen sollen wie bisher nach und nach der deutschen Schreibung angeglichen werden. (Also: scharmant, Schi, Porträt, kontra, Kusine, Limusine, Soße, Triptik, Tur, Revü usw.) Bei den allgemein gebräuchlichen Fremdwörtern griechischen Ursprungs soll ph, th, rh durch f, t, r ersetzt werden (zum Beispiel Fotograf, Telefon, Grafiker, Stenografie usw.). Die bisherige Schreibung soll jedoch weiterhin zulässig sein.

6. Künftig sollen nur noch echte Zusammensetzungen zusammengeschrieben werden. Selbständige Satzglieder oder Gliedteile schreibt man dagegen getrennt. In Zweifelsfällen ist die Getrenntschreibung vorzuziehen. (Also: schwer beladen, kennen lernen usw.)

Die seinerzeitigen nicht offiziellen „Stuttgarter Empfehlungen” haben eine Gesamtlösung vorgeschlagen. Was daraus ohne echte Schwierigkeiten durchführbar ist, enthalten nun die hier wiedergegebenen „Wiesbadner Empfehlungen”. Die Hauptforderung, die gemäßigte Kleinschreibung, ist übrigens gar nichts Neues oder Absonderliches. Sie war vor dem Barock selbstverständlich und wurde in den letzten hundert Jahren immer wieder angewendet, in der Germanistik seit Jacob Grimm, in der Dichtung zum Beispiel bei Stefan George. Die moderne Graphik, besonders die Plakatkunst, ist ebenfalls, vielfach aus ästhetischen Gründen, zur Kleinschreibung übergegangen, worin sich ein ganz allgemeiner Zug unserer Zeit manifestiert.

Daß die Verwirklichung dieser Empfehlungen an der Sprache nichts änderte, aber schon rein optisch einen guten Eindruck gäbe, möge ein kurzer Probetext zeigen:

„Zeigt mir in der weiten weit den mann, der die wölken besser kennt und mehr lieb hat als ich! Oder zeigt mir das ding in der Welt, das schöner ist als wölken sind! Sie sind spiel und augentrost, sie sind segen und got- tesgabe, sie sind zorn und todesmacht. Sie sind zart, weich und friedlich wie die Seelen von neugeborenen, sie sind schön, reich und spendend wie gute engei, sie sind dunkel, unentrinnbar und schonungslos wie die Sendboten des todes. Sie schweben silbern in dünner Schicht, sie segeln lachend weiß mit goldenem rand, sie stehen rastend in gelben, roten und bläulichen färben. Sie schleichen finster und langsam wie mörder, sie jagen sausend kopfüber wie rasende reiter, sie hängen traurig und träumend in bleichen höhen wie schwermütige einsiedler” (H. Hesse: Peter Camenzind).

An der vollendeten Prosa Hesses hat sich selbstverständlich nichts geändert. Es sind ja auch nur ein paar Großbuchstaben weniger. Das macht beim Lesen kaum mehr Mühe (besonders wenn man einmal daran gewöhnt ist), erspart aber beim Schreiben viel Unsicherheit und (beim Maschineschreiben) viel Arbeit. Und darum geht es den Rechtschreibreformern.

Prof. Dr. LUDWIG POINTNER, Vorsitzender des wissenschaftlichen Kuratoriums des „bundes der österreichischen rechtschreibreformer”

Antwort eines Dichters

Für das Gesamtgebiet der Technik stehen Zweckmäßigkeit und Perfektion an erster Stelle. Eine Maschine, die nicht funktioniert, ist so lange zu verbessern, bis sie funktioniert. Hier wäre ein Bewahren weniger perfekter Einrichtungen aus kulturellen Gründen genau so unsinnig, wie es die auf kulturelle Sachgebiete übertragene Forderung nach technischer Perfektion ist. Wenn heute jene, die als bewußte abendländische Menschen wirken, um die Erhaltung der Eigenart kämpfen und jeder Nivellierung, jeder Vereinfachung, jeder „Anpassung” an eine sogenannte Nützlichkeit widerstehen, handeln sie durchaus zeitgemäß, ja fortschrittlich gegenüber den sicher vorhandenen Nachzüglern eines im Grunde primitiven Rationalismus. Mit dieser Feststellung sind die Ausgangspositionen der Partner für und gegen eine überstürzte Rechtschreibreform gegeben.

Wenn Professor Dr. Pointner meint, daß vielleicht „romantische Dichter” die „grenzenlose Unsicherheit unserer gegenwärtigen Rechtschreibung” beglückend finden, versteht er unter Dichtern und vor allem „romantischen” Dichtern doch wohl jene, die nicht der Meinung sind, daß es die Aufgabe unserer Zeit sei, alles Eigenartige, eigenständig Gewachsene möglichst auszumerzen, alles Besondere zu verdecken und das geistige Leben genau so zu veröden wie all die anderen Dinge, die der Nützlichkeit und Allerweltsmode bereits zum Opfer gefallen sind. Diese „Romantiker” sind nämlich gar nicht so romantisch, sie leben und schaffen auch nicht gegen die Zeit, sie wissen sehr geriau, daß wir als Einzelmenschen und als Völker dem Ansturm der durchgeplanten und genormten Zeitgenossen nur widerstehen, wenn wir unsere Eigenständigkeit, unsere gewiß nicht immer einfache ererbte Menschlichkeit gegen nicht unbedingt notwendige „Erleichterungen” schützen, ob es nun um alte Bauten geht, die einigen Verkehrsfachleuten im Wege stehen, oder um unsere Schrift. Die Schrift eines Volkes nur auf ihre Zweckmäßigkeit hin zu prüfen und zu reformieren, heißt übersehen, daß sie mehr als ein Verkehrsmittel von Mensch zu Mensch ist, sondern eine der wesentlichen Grundlagen jeder menschlichen Kultur. Gewiß ist die deutsche Rechtschreibung voll von Schwierigkeiten. Wir brauchen darüber auch nicht zu jubeln. Sie sind aber ebenso gewiß nicht größer als die Aussprache des Französischen oder des Englischen. Möglichkeiten für eine vernünftige, das. heißt die Grundlagen schonende Reform werden auch in den obenstehenden Punkten 2 bis 6 angedeutet.

Diese „Wiesbadner Empfehlungen” sind tatsächlich maßvoller als die Stuttgarter und könnten auf den ersten Blick vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit her betrachtet werden. Die Zweckmäßigkeit aber fordert, daß man nicht nur Schwierigkeiten behebt, sondern auch nicht neue schafft, daß man, wenn man sich schon zu neuen Regeln entschließt, tatsächlich klare Regeln setzt und die rechte Schreibung nicht dem

Gefühl überläßt. Das Komma bei den Mittelwortgruppen erleichtert das Lesen. Auch das Komma beim Infinitiv mit „zu” schafft auf den ersten Blick klare Verhältnisse. Die Feststellung: „Seine Absicht war zu ändern” wird ohne Komma sogleich zweideutig. Wozu, wenn man das Lesen erleichtern will?

Die Sprachsilben wiederum sind auch dort, wo die Herkunft eines Lehn- oder Fremdwortes dem Schreibenden nicht mehr bewußt ist, sichere und natürliche Anhaltspunkte für die Silbentrennung. Warum will man sich auf einmal nach dem „Schriftbild” richten?

Daß wir alte, meist sehr alte Doppelformen mitschleppen, ist sicher nicht ganz vernünftig. Hier könnte die eine oder die andere Entscheidung fallen, aber doch nur dann, wenn Stammeseigentümlichkeiten dabei nicht verwischt werden.

Ob man heute Telefon, Kusine, Soße, Porträt schreibt, ist dem einzelnen überlassen. Aber das ganze Gebiet ist ja längst in Fluß geraten. Wir schreiben durcheinander, und sicherlich nicht nach einer klaren Regel. Die Frage lautet: ob diese an sich natürliche Entwicklung bereits so weit fortgeschritten ist, daß man sich zu einer definitiven Regelung entschließen kann und soll, oder ob man so „charmant” ist, diese Art „Scharm” noch nicht jedermann zuzumuten und Menschen mit feinerem Sprachgefühl nicht zu beleidigen. Wenn ohnedies beide Formen wieder erlaubt sein sollen, wozu dann?

Bleibt also die „gemäßigte” Kleinschreibung. Alle anderen Vorschläge sind doch nur Rahmenvorschläge für diese eine radikale und umstürzende Form unseres Schriftbildes. Denn was da noch „gemäßigt” sein soll, ist für mich unerfindlich. Diese Forderung wird historisch, aber vor allem durch Zweckmäßigkeitsgründe untermauert. Mit Großbuchstaben schreiben wir erst seit der Barockzeit. Germanistische Standardwerke, die ja meist wieder nur für Germanisten geschrieben sind, verwenden keine Großbuchstaben. Stefan George schrieb seine großen Gedichte klein. Aber was unternahm er nicht alles, um sich von der Masse der Dichter abzuheben? Viele junge und jüngste Dichter ahmen ihn nach. Sie schreiben keine großen Gedichte und wollen nur auf den ersten Blick durch ihre andere Schrift auffallen. Warum (das nur nebenbei) will man ihnen dieses Restchen „Originalität” zerstören? Sollen sie dann nur noch mit Großbuchstaben schreiben? Die Frage aber, ob wir in Oesterreich ein Erbstück der Barockzeit leichtfertig oder eben nur aus Zweckmäßigkeitsgründen zerstören dürfen, ist ernst gemeint. Der Barock bestimmt unseren Lebensstil noch immer, auch dort,” wo wir es nicht einmal mehr ahnen. Wer etwa die österreichische Lyrik und Prosa auch der Jüngsten, selbst der Avantgardisten, untersucht und sie mit der anderen deutschen Lyrik und Prosa vergleicht, wird das barocke Erbe überall finden und über seine unverminderte Lebenskraft staunen. Und von dieser unserer Kraftquelle, von dieser unserer vorgeprägten Eigenart, sollen wir freiwillig abrücken? Ob unsere Art jedem paßt oder nicht, ob wir genau so viele Fehler in ihr entdecken wie Vorzüge, sie ist, mit ihrem Widerstand gegen jede reine Betriebsamkeit, mit ihrer natürlichen Bereitschaft, das menschliche Leben immer noch menschlich zu nehmen und nicht irgendeinem Ismus zu opfern, der morgen durch einen anderen Ismus verdrängt sein wird, gewiß nicht die schlechteste in Europa.

Und die Erleichterungen? Abgesehen von einer jahrelangen grenzenlosen Verwirrung inmitten einer ohnedies durcheinandergewirbelten Zeit, auch diese Erleichterung würde nur wieder neue Schwierigkeiten schaffen. Wir haben nun einmal eine ganze Reihe von Worten, die ihren Sinn nur von der Groß- oder Kleinschreibung empfangen: paar, kraft, dank, ehe, trotz usw. Will man dann neue Hauptwörter erfinden oder Zusätze oder komplizierte Umschreibungen? Warum in einer Zeit, die voll ist von Unklarheiten, gegebene und eingeführte klare Begriffe verwischen, nur um auch einige Unsicherheiten beim Maschineschreiben zu ersparen? Als ob nicht gerade die Tatsache, daß wir das gleiche Wort als Eigenschaftswort und Hauptwort gebrauchen können, zum Reichtum und durch die verschiedenen Anfangsbuchstaben aber auch zur Klarheit unserer Sprache beitrüge.

Ganz abgesehen davon, daß der Reiz einer Sprache nicht zuletzt in den Schwierigkeiten liegt.

Sprache ist Leben,- und das Leben ist alles andere als leicht oder einheitlich ausgerichtet oder allein eine Sache der Nützlichkeit.

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