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Fremder Geist im neuen Recht

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„Der Geist des Volkes und der Geist der Zeit ist auch der Geist des Rechts.“ Dieser Satz, der von dem großen Rechtslehrer Ihering stammt, hat in der Gegenwart seine Bedeutung nicht verloren. Unser „Rechtsüberleitungsgesetz“ lehnt ausdrücklich alles Recht aus der letzten Vergangenheit ab, das dem Rechtsempfinden des österreichischen Volkes widerspricht oder typisches Gedankengut des Nationalsozialismus ist.

Die Rechtsgeschichte lehrt, daß der Satz Iherings im großen und ganzen richtig ist. In Zeiten des Überganges verschiedener gesellschaftlicher und politischer Richtungen. und des Wechsels von Rechtssystemen treten jedoch zuweilen Übergangserscheinungen auf, Rechtseinrichtungen, die sich an grundsätzlich abgelehnte Systeme anlehnen, gewissermaßen die Folge von Reflexwirkungen sind. Als derartiges „reflektiertes“ Recht können wir im weitesten Sinne alles Vergeltungsrecht (Retorsion) und vorbeugende Recht (Präventivrecht) werten. Oft wird da mit lapidaren Rechtsgrundsätzen (zum Beispiel mit dem Rechtssatze: Nullum crimen sine lege — es gibt kein Verbrechen, das nicht im Gesetze als solches bezeichnet wäre) gebrochen. Das Zeitalter der französischen Revolution war eine Blütezeit reflektierten Rechts, ebenso wie die Zeit der Entstehung, Ausbreitung und Bekämpfung des Faschismus. Auch bei uns kann derartiges reflektiertes Recht festgestellt werden. Hieher zählen heute insbesondere alle jene Erscheinungen, die ansonsten als Merkmale eines „autoritären Regimes“ gelten. Mehrmals schon mußten Gesetze in der Form von „Verfassungsgesetzen“ erscheinen, um Eingriffe in verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte formell zu decken. Mehrmals schon wurde die Beschwerde

an den Verwaltungsgerichtshof

ausgeschlossen, was einem Verzicht auf die Garantie der gesetzmäßigen Verwaltung gleichkommt. Auch Anzeichen von Relativitätsbegriffen finden sich im Rechte von heute.

Neben der Reflexwirkung beeinflußt auch ein gewisses Beharrungsmoment die Rechtsbildung in Übergangszeiten. Bestimmte Einrichtungen, oft typisches Gedankengut eines abgelehnten Systems, v rden im neuen Recht aufgenommen, obwohl für diese Rezeption nicht die geringste Notwendigkeit besteht. Es werden dabei nicht nur bestimmte Ausdrücke in der Rechtssprache, sondern auch Rechtsinstitutionen mit allerlei Fragekomplexen übernommen.

Ein drastisches Beispiel stellt die „eidesstattliche Erklärung“ dar, die in diesen Blättern schon zum Gegenstand öffentlicher Kritik gemacht wurde. Dieses Rechtsinstitut hatte im früheren österreichischen Recht keinen Anklang gefunden. In der nationalsozialistischen Zeit wucherte es wie Unkraut empor und streut auch jetzt noch im neuen österreichischen Recht seinen Samen. Es steht zweifellos mit dem Geiste unseres Rechtes in Widerspruch. Abgesehen von Bedenken religiöser Art und der grundsätzlichen Ablehnung eines solchen Superlativs im gewöhnlichen Rechtsverkehr — preußischer Amtsgeist glaubte, damit an Autorität zu gewinnen — ist diese Einrichtung in juristischer Hinsicht sehr bedenklich. Ihre Anwendung in Fällen, in denen mit der eidesstattlichen Erklärung eine Selbstbeschuldigung verbunden ist, kann als unmoralisch bezeichnet werden. Die nationalsozialistischen Strafrechtstheoretiker haben bekanntlich ganz ernsthaft die Forderung der absoluten Wahr-

heitspfficht des Beschuldigten erhoben, eine

Auffassung, die in modernen Kulturstaaten verworfen wird. Es gilt der Rechtssatz, daß auf den Beschuldigten keinerlei seelischer oder physischer Zwang bei der Aussage ausgeübt werden darf. Eine Vereidigung des Beschuldigten ist aus diesem Grunde unstatthaft* Dieser Standpunkt hat seine tiefere psycho-

logische Begründung. Es geht nicht an, einerseits den Beschuldigten als Rechtsbrecher, als Menschen minderer moralischer Qualität anzusehen, andererseits ihm zuzumuten, daß er selbst auf die Gefahr einer Benachteiligung seiner Person oder seines Vermögens die Wahrheit auszusagen hätte. Auf diesen psychologischen Fragenkomplex wurde in der nationalsozialistischen Zeit nicht Bedacht genommen. Es sind Fälle bekannt, daß Priester unter Berufung auf ' ihre Priesterehre einvernommen worden sind, ob sie verbotene ausländische Sendungen abgehört haben. Die Bejahung dieser Frage genügte, diese Leute ins KZ zu bringen. Wenn derartige Rechtsanschauungen allgemeine Geltung erhalten hätten, dann wären Zustände möglich, die einem Schildbürgertum auf juristischem Gebiete gleichkämen. Nach einer solchen Strafprozeßmethode könnten eines Tages die Behörden an alle Bewohner Fragebogen aussenden, worin jeder an Eides Statt zu' erklären hätte, ob er sich irgendwie einmal gegen das Strafgesetz vergangen habe. Selbst dann, wenn die unrichtige Beantwortung mit einer Strafandrohung verbunden wäre, hätte jeder die Wahl, sich tatsächlich zu beschuldigen oder durch Verschweigung der Delikte die Möglichkeit offenzuhalten, völlig straflos auszugehen. Es ist einleuchtend, daß zumeist der letztere Weg gewählt werden würde. Vom Standpunkte der Moral hätten diese Leute die Entschuldigung, daß sie bei der Beantwortung der Frage unter Zwang gestanden sind.

Das Beispiel zeigt, daß Einrichtungen fremder Systeme nicht bedenkenlos übernommen werden dürfen, auch dann nicht, wenn sie zuletzt gebräuchlich waren und sich anscheinend als bequem durchgesetzt haben* Das Recht bildet einen wesentlichen Bestandteil der Kultur eines Volkes. Wir wollen nicht, daß spätere Generationen bei leidenschaftsloser Betrachtung unserer Rechtsein-i richtungen Schulbeispiele juristischer Unmöglichkeiten oder Abirrungen in fremdgeistiges Gebiet entdecken.

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