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Geld allein pflegt keinen Menschen

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Die Pflegegeldgesetze werden zu Recht als neue Dimension der Sozialpolitik gefeiert. Sie laden derzeit allerdings auch zum Mißbrauch ein.

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Die Pflegegeldgesetze werden zu Recht als neue Dimension der Sozialpolitik gefeiert. Sie laden derzeit allerdings auch zum Mißbrauch ein.

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Vor rund 20 Monaten sind das Bundespflegegesetz (BPGG) und die neun Landespflegegeldgesetze in Kraft getreten. Diese Neuregelungen, vor allem das Bundespflegegesetz, wurden weithin als „Jahrhundertgesetz” und als „neue Dimension der Sozialpolitik” gefeiert.

In der Tat sind die Gesetze in mehrfacher Weise als bahnbrechend zu werten. Erst durch sie hat Pflegebedürftigkeit als eigenständiges soziales Bisiko Anerkennung gefunden, für das unabhängig von der Ursache des jeweiligen Bedarfes Hilfe zu leisten ist. Damit ist es zur Überwindung jener - historisch zufälligen und nicht zu rechtfertigenden -Differenzierung gekommen, nach der Pflegebedürftigen ein höheres Maß an Unterstützung zugestanden wurde, wenn ihr Bedarf auf eine Kriegsverletzung oder einen Arbeitsunfall zurückging, als dies bei „bloß” altersbedingter Pflegebedürftigkeit oder gar nach einem Freizeitunfall der Fall war. Mit diesem Bekenntnis zum Finalitäts- beziehungsweise Bedarfsprinzip („gleiche Leistungen bei gleichem Bedarf”) werden auch bestehende Kompetenzgrenzen überschritten. Rechtliche Klammer für den Versuch, alle zuständigen Träger koordiniert in die Pflicht zu nehmen, ist ein „Staatsvertrag” zwischen Rund und Ländern.

Die Etablierung einer wirklich einheitlichen und umfassenden Pflegevorsorge ist freilich (vorerst?) nicht gelungen. Bereits bei den Geldleistungen bestehen einige Unterschiede zwischen Bundespflegegesetz und den einzelnen Landesregelungen. Die Leistungsvoraussetzungen sind zwar im Kern ident, bereits die Vereinbarung über die einheitliche Höhe der sieben Pflegegeldstufen gilt hingegen nur mehr für das laufende Jahr. Eine erneute Differenzierung des Ausmaßes der verschiedenen pflegebezogenen Geldleistungen ab 1996 ist demnach nicht auszuschließen.

Das größte Problem betrifft eindeutig den Sach- beziehungsweise Dienstleistungsbereich. Dafür vorzu-sorgen ist Aufgabe der Länder. Die Implementierung hat nun aber erst ab dem Jahr 2000 (in drei Stufen bis 2010) zu erfolgen. Die Mehreinnahmen auf Grund der zum Teil doch erheblich erhöhten Leistungen (zum Vergleich: der Hilflosenzuschuß betrug zuletzt zirka 3.000 Schilling, das Pflegegeld der Stufe vier beläuft sich mittlerweile auf 8.535 Schilling, bei Stufe sieben sogar auf über 21.000 Schilling) fließen indes bereits jetzt: Bei Unterbringung in einem Pflegeheim et cetera gehen bis zu 80 Prozent des Pflegegeldanspruches auf das Land (die Gemeinde) über, soweit dieses (diese) für die stationäre Unterbringung aufkommt.

Mit Inkrafttreten der Pflegegeldgesetze ist es nun vielfach zu - mitunter enormen - Erhöhungen der Heimtarife gekommen. In ähnlicher Weise sind meist auch die Kosten für die Inanspruchnahme von - ebenfalls von den Ländern beziehungsweise Gemeinden organisierten -ambulanten Diensten gestiegen.

Es wäre gewiß nicht zu rechtfertigen, Pflegebedürftigen solche Dienstleistungen zu Billigsttarifen zu offerieren und ihnen zusätzlich erhöhte Geldleistungen zukommen zu lassen. Wenn diese dann auf Sparbücher oder - ohne Gegenleistung (dazu später) - in die Taschen von Angehörigen wandern, wäre das ohne Frage ein zweckwidriger Einsatz von Pflegegeld, ein Mißbrauch, wenn man so will.

Ist es aber nicht auch eine zweckwidrige Verwendung, wenn den Betroffenen gleichsam von einer öffentlichen Hand eine neue Geldleistung gewährt wird, ihnen aber dann sofort wieder (weitgehend) von einer anderen öffentlichen Hand abgenommen wird, dort aber nicht in den Auf- beziehungsweise Ausbau der pflegerischen Infrastruktur investiert, sondern vielleicht zum Stopfen anderer Budgetlöcher verwendet wird? Dieser „versteckte Finanzausgleich” ist wohl ebenso ein „Mißbrauch des Pflegegeldes”.

Beide „Mißbrauchsformen” sind nur Folge der Konzeption der Pflegegeldregelungen. Diese beruht letztlich auf der Überlegung, daß die Gewährung zusätzlicher Geldmittel (für 1995 wurde allein auf Bundesebene ein Mehraufwand von über acht Milliarden Schilling prognostiziert) an Pflegebedürftige deren Position am „Pflegemarkt” stärken wird, der wiederum auf die so erhöhte Nachfrage mit einem entsprechenden Dienstleistungsangebot reagieren wird.

Einen solchen Markt gibt es jedoch nur ansatzweise, vielfach wird sogar bezweifelt, ob Pflege überhaupt ein marktfähiges Gut sein kann. Faktum ist jedenfalls, daß bei vielen, zumal älteren Pflegebedürftigen die bloße Vergabe von Geldleistungen zur (Erleichterung der) selbstbestimmten Deckung des Be-treuungs- und Hilfebedarfes keine Verbesserung der Pflegesituation zu bewirken vermag („Geld allein pflegt nicht”).

Fehlende Infrastruktur

Perspektivisch müßte eine wirklich umfassende Pflegevorsorge zumindest auf vier Säulen aufbauen. Zum einen bedürfte es der Schaffung eines bedarfsgerechten und fläcnen-deckenden Dienstleistungsangebotes im ambulanten wie im (teil)sta-tionären Bereich. Eine derartige Infrastruktur besteht derzeit bestenfalls in Ballungszentren, auch dort aber mit großen Unterschieden. Dort wo Marktmechanismen nicht ausreichen, haben öffentliche Träger einzuspringen und für entsprechende Angebote zu sorgen. Die diesbezüglichen Defizite sollen in von den Län-3ern bis Ende 1996 zu erstellenden „Bedarfs- und Entwicklungsplänen” ermittelt werden. Deren Umsetzung hat freilich - wie erwähnt - erst ab 2000 zu erfolgen.

Diese Dienstleistungen müssen zum zweiten, gleichgültig ob sie von privaten/kommerziellen oder öffentlichen/karitativen Trägern bereitgestellt werden, Qualitätsstandards er-

füllen. Diese Standards müssen zum Teil erst definiert werden, beschränkten sich die bisherigen Ansätze doch auf zugegebenermaßen wichtige, aber letztlich eben doch nur punktuelle Fragen wie Betreuungsschlüssel oder (primär technisch-bauliche) Gestaltung von stationären Einrichtungen.

Aus der Sicht der Betroffenen werden diese Vorgaben zudem um eine Art pflegerechtlichen Konsumentenschutz ergänzt werden müssen, der auch und gerade bei ambulanten Leistungen unverzichtbar ist. Die „Heimgesetze”, wie sie in einzelnen Bundesländern bereits verabschiedet sind oder zumindest in Entwurfsform vorliegen, können bestenfalls als erster Ansatz hierfür angesehen werden. Auf Sicht wird es weitergehender und differenzierterer Maßnahmen zur Planung, Vernet-

zung und Steuerung aller sozialer Dienstleistungen sowie zur Sicherung ihrer Qualität, etwa mit Hilfe von „Soziale-Dienste-Gesetzen”, bedürfen.

Die dritte Säule einer umfassenden Pflegevorsorge ist die einzige, die wirklich steht. Mit dem Pflegegeld hat Osterreich fraglos europaweit eine Spitzenposition eingenommen. Auch das ursprüngliche Hauptproblem des Bundespflegesetzes, die fehlende Einklagbarkeit der Pflegegeldstufen drei bis sieben, wird ab 1. Juli dieses Jahres beseitigt sein (die Länder werden hier dem Vernehmen nach bald folgen).

In Summe hat das Pflegegeld bisher wohl nur einen Teil der Pflegebedürftigen (namentlich jüngere körperlich Behinderte, die in Ballungszentren leben) die intendierte Verbesserung ihrer Wahl- bezie-

hungsweise Selbstbestimmungsmöglichkeiten gebracht.

Für die (nach wie vor in erster Linie weiblichen!) Angehörigen, die die Hauptlast der Pflege tragen, bedeutet das Pflegegeld eine erste offizielle, wenn auch bescheidene (und ihnen zudem vielfach nur indirekt -durch Erhöhung des Haushaltseinkommens - zukommende) Anerkennung ihrer Betreuung und Hilfe. Für eine umfassende Pflegevorsorge sind freilich zusätzliche Maßnahmen zur Förderung derartiger informeller Pflege vonnöten: Diese wird in Zukunft nicht nur aus budgetären Überlegungen unverzichtbar bleiben, sie wird auch in der Begel von den Pflegebedürftigen selbst bevorzugt.

Flankierende Massnahme

Als flankierende Maßnahme, und damit ist die vierte Säule angesprochen, müßte hier etwa für Schulung und Supervision pflegender Angehöriger vorgesorgt werden. Des weiteren sind Vorkehrungen für Kurzzeit- beziehungsweise Verhinderungspflege zu schaffen;' damit pflegende Angehörige ohne Sorge Urlaub machen oder einfach einmal abschalten können. Schließlich müßte es zu einer soliden sozialrechtlichen Absicherung der Pflegepersonen kommen, um Nachteile in Pensions- beziehungsweise Arbeitslosenversicherung zu vermeiden, die sonst aus der wegen der Pflege erfolgten Aufgabe der Dienstverhältnisse resultieren würden.

Nur der letzte Aspekt hat explizit in die Bund-Länder-Vereinbarung Eingang gefunden, wenn auch nur als vage Verpflichtung des Bundes, eine solche Absicherung „zu ermöglichen”. (In all diesen Fragen geht das PflegeVG übrigens wesentlich weiter und sieht vielfach entsprechende Rechtsansprüche für pflegende Angehörige vor!)

Zusammenfassend ist die Erweiterung des Sozialsystems um ein weitgehend einheitliches und bedarfsorientiertes Pflegegeld fraglos als ganz bemerkenswerter Schritt anzusehen. Eine erste Bilanz bestätigt, daß es sich dabei aber nur um den Einstieg in eine umfassende Pflegevorsorge handelt, dem - rasch - weitere Schritte folgen müssen.

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