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Gelehrige Schüler Moskaus

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Etwa zur selben Zeit, da man in Oesterreich des vor 90 Jahren eingeführten Reichsvolksschulgesetzes gedachte, führte die Tschechoslowakei eine Schulreform durch, die nicht nur einen rücksichtslosen Bruch mit der Vergangenheit, die ja durch Jahrzehnte konform oder fast parallel zur österreichischen gegangen ist, sondern gleichzeitig das konsequenteste Eingehen auf die sowjetischen Vorbilder und Vorschläge darstellt.

Die Volks- und Mittelschulbildung wurde in zwei Zyklen eingeteilt; der erste umfaßt die Pflichtschulbildung der Jugend bis zu 15 Jahren an neunjährigen „Arbeitsschulen” oder „Polytechnischen Schulen”. Die Aufgaben dieser Schultype, die um ein Jahr verlängert wurde — was allerdings nur etappenweise innerhalb von drei Jahren erfolgen kann, —, formuliert nicht etwa das Unterrichtsministerium, sondern die KPC, die erklärte:

„Die neunjährige Pflichtschule soll der gesamten Jugend bis zum 15. Lebensjahr eine allgemeine und polytechnische Grundbildung geben, sie zur Teilnahme an der Produktionsarbeit und zur weiteren Bildung vorbereiten, auf die richtige Berufswahl orientieren und besser als bisher um ihre moralische, ästhetische und körperliche Erziehung — im Einvernehmen mit den Zielen und den Bedürfnissen der kommunistischen Gesellschaft — sorgen.” Aber in derselben Sitzung des Zentralkomitees der KP, in der diese Aufgabe des neuen Schultyps bekanntgegeben wurde, scheint man es auch für nötig befunden zu haben, auftauchende Bedenken von vornherein abzubiegen. Dazu griff einer der maßgeblichsten Männer der Partei, der Sekretär des ZK der KPC, Jifi Hendrych, ein, der darauf verwies, Ziel der neuen Schulreform sei „ein Mensch, der Theorie und Wissenschaft hoch einschätzt, der die Praxis und die Produktion beherrscht und sowohl für geistige wie für physikalische Arbeit geeignet ist”. Er mußte jedoch gleich anfügen, daß dieser „Produktionsunterricht” keine „Fronanstalt” wie die „Kinderarbeit im Kapitalisipps” darstelle, sondern „sozialistische Erziehung, welche den Unterricht mit produktiver, Arbeit

Vorerst wird das Experiment an einigen Schulen durchgeführt; der Uebergang zur neunjährigen Schulpflicht wird im Verlauf von drei Jahren verwirklicht (bis 1961/62).

Für den zweiten Schulzyklus, der etwa mit dem Mittelschulwesen gleichzusetzen ist, gibt es verschiedene Schultypen, an denen das kommunistische Regime allerdings unterschiedlich interessiert ist. Den größten Wert legt man auf die fachlichen Lehrstätten und Lehrlingsschulen, die industriellen und landwirtschaftlichen Betrieben angegliedert sind bzw. werden, aber auch sogenannten „Nationalausschüssen”, also den untersten Verwaltungseinheiten. Diese Schulen sollen den Schülern eine „Facharbeiterausbildung” vermitteln und ihre „allgemeine polytechnische Bildung vertiefen”. Ferner gibt es ebenfalls dreijährige „Mittelschulen für Werktätige”, die den Charakter von Abend-, Fern- und Schichtschulen haben und ebenfalls bei Großbetrieben und Nationalausschüssen errichtet werden. In diesen Schulkategorien sollen rund zwei Drittel aller Pflichtschulabsolventen weiterunterrichtet werden. Daneben wird es dreijährige allgemeinbildende Mittelschulen geben, wo „das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis sowie die Art der Kombination zwischen Arbeit und Unterricht je nach Richtung und Grundvorbereitung der Schüler, aber auch den örtlichen Bedingungen angepaßt”, gestaltet werden soll. Schließlich wird es zwei- bis vierjährige Fachschulen geben. Bevorzugt werden bei dieser Schulkategorie Bewerber mit bereits absolvierter Praxis in Industrie und Landwirtschaft. Wie bei Industrie, Landwirtschaft usw. wird auch bei der Schule jedes Detail „von oben” geplant. So sollen zum Beispiel in die beiden letzten Schulkategorien je 17 Prozent der in Frage kommenden Schüler aufgenommen werden. Die neuen Pläne machen nun keineswegs vor den Hochschulen halt. „Die Forderung einer engen Verbindung der Bildung mit der gesellschaftlichen Produktionstätigkeit gilt voll und ganz für die Hochschulen”, heißt es in der Entschließung des Zentralkomitees der Partei, und vielleicht noch bedeutungsvoller ist der Hinweis (und die in diesem Hinweis angeführte Reihenfolge): Die reorganisierte Hochschule soll „hochqualifizierte Fachleute für Industrie, Landwirtschaft, Wissenschaft, Kultur und andere Sektoren heranbilden und sie zugleich zu aktiven und bewußten Baumeistern der kommunistischen Gesellschaft erziehen”. Die Verbindung zwischen Studium und manueller Arbeit soll beim Hochschulstudium weiter ausgebaut werden, wobei keineswegs nur an ein „Ferial- praktikum gedacht wird. Daneben sollen noch viel stärker als bisher die „außerordentlichen Studienformen” ausgeweitet werden: das Fern-, Abend- und Ergänzungsstudium. Das Ziel dieser „Neuordnung” skizziert vielleicht am drastischsten der Vorsitzende des Zentralkomitees der tschechoslowakischen Jugendverbände, der erklärte, für die Mehrzahl der Werktätigen werde in Hinkunft nicht nur das Mittelschulstudium, sondern auch das Hochschulstudium „etwas Selbstverständliches” sein, so wie bisher die Schulpflicht. Jeder Arbeiter soll Ingenieur, jeder Ingenieur Arbeiter sein. Die Mittelschule solle außer der Reifeprüfung die Grundlage der „Arbeiterqualifizierung” bringen. Die erste Etappe des Umbaues der Hochschulen bringt eine Verbindung des Studiums und der Produktionspraxis; eine immer größere Bedeutung gewinne jedoch das „Studium ohne Unterbrechung der Berufstätigkeit”, das „an einigen Fakultäten zur Hauptform des Studiums” wird.

Die Bedenken und Sorgen, die diese radikale Schulreform hervorruft (ZK-Sekretär Hendrych: „Gewisse Einflüsse der alten bourgeoisen Kultur und Ideologie werden dabei bekämpft werden müssen”; der slowakische Landesminister für das Schulwesen, Vasil Bilak: „Wir stehen gewiß vor keiner leichten Aufgabe. Denn eben auf dem Gebiet des Schulwesens haben die bürgerlichen Nationalisten enorme Schäden angerichtet, die wir jetzt mühevoll überwinden und beseitigen müssen”), versucht man durch großzügige Planungen auf dem Gebiet des Schulbaues zu übertünchen. So erklärt man, daß man bis zum Jahre 1965 18.500 neue Lehrzimmer errichten wolle. Der Komplex der landwirtschaftlichen Hochschule samt Studentenheim in Prag soll 143 Millionen Kronen beanspruchen; noch heuer soll in Prag mit dem Bau der einzelnen Fakultäten der Technik sowie einem Studentenheim für 5000 (!) Studenten begonnen werden, während in Neutra in der Slowakei eine landwirtschaftliche Hochschule und in Preßburg eine Maschinenbaufakultät errichtet werden soll. Unter den von manchen Seiten vorgebrachten Bedenken spielt merkwürdigerweise die Befürchtung, daß das Niveau der Mittel- und Hochschüler wesentlich absinken könne, keine entscheidende Rolle…Die Notwendigkeit der Schulreform”, so erklärte Parteisekretär Hendrych, „steht in Zusammenhang mit der Vollendung des sozialistischen Aufbaues und der damit zusammenhängenden Erziehung des Menschen im kommunistischen Geist.”

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