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Gemeinsame Verantwortung

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Bei einer Koalition im hergebrachten Sinne verbinden sich zwei oder mehrere Parteien, um gemeinsam die öffentlichen Probleme im Interesse möglichst aller Schichten des Volkes zu lösen und die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Weiterentwicklung offenzuhalten, kurz, um die Politik eines Landes zu machen. Im weiteren Sinne ist aber auch die Arbeit einer einzigen Regierungspartei, zum Beispiel als Mehrheitspartei in England, eine Koalition der Vertreter verschiedener Richtungen, was durch die Tatsache bewiesen wird, daß einzelne Mitglieder einer Einparteienregierung zurücktreten und damit eine Regierungskrise auslösen, wenn sie glauben, für einzelne Entscheidungen die Verantwortung nicht übernehmen zu können. Wir sehen also, daß Koalition in besonderer Weise gemeinsame Verantwortung heißt, woraus sich zunächst schon ergibt, daß ein koalitionsfreier Raum gleichbedeutend ist mit einem „verantwortungsfreien Raum“, was schon nicht mehr so schön klingt. Man kann sich nun schwer eine Regierung von Dauer vorstellen, welche innerhalb ihrer Pflichten einen verantwortungsfreien .Raum tragen könnte.,.aber audh’feeinitaatswölk, welches -seinciHgtw wählten Verteeter oder die Regierung von dep Verantwortung für'öbi Führung der politischen Dinge in jenen Angelegenheiten entheben möchte, in denen sie nicht in der Lage sind, das gemeinsame Beste herauszufinden.

Wozu haben wir euch gewählt?

Abgesehen von der zu befürchtenden Wahlmüdigkeit und von daraus resultierenden Zufallsmehrheiten sind überhaupt Volksabstimmungen über viele Probleme nicht unbedingt als demokratisch zu bezeichnen, sondern eher geneigt, die Demokratie ad absurdum zu führen. Die gewählten Vertreter eines Volkes sind mit ihrer Wahl unmittelbar beauftragt, sich in die öffentlichen Angelegenheiten einen tieferen Einblick zu verschaffen und einen gehobeneren Horizont zu gewinnen, aus dem heraus sie an die Beurteilung der einzelnen Fragen herantreten und neben den Interessen der Allgemeinheit auch die Folgen bestimmter Maßnahmen erwägen müssen. Der seinem Beruf nachgehende Staatsbürger ist zweifellos nicht in der Lage, alles Für und Wider abzuschätzen (nicht einmal die erfahrenen Politiker bemühen sich immer darum) und daraus die entsprechenden Schlüsse zu ziehen.

Vor einigen Jahren konnte ich ein Beispiel erleben, wie sich der einfache Staatsbürger die richtig funktionierende Demokratie vorstellt. Bei einem großen ländlichen Verein war es im Vorstand zu keiner Einigung über eine wichtige Frage gekommen, deren Lösung in die Kompetenz des Vorstandes fiel. Da dieser seiner Pflicht nicht nachkommen konnte oder wollte, berief er die Vollversammlung ein, um darüber entscheiden zu lassen. Bei der Vollversammlung kam es zu heftigen Auseinandersetzungen und zu Reden, die mit der Sache selbst kaum etwas zu tun hatten. Ein älterer Bauer hörte dem Durcheinander längere Zeit zu, meldete sich dann zu Wort, erinnerte den Vorstand an seine Pflicht, die vorliegende Sache selbst zu entscheiden, und schloß unter allgemeinem Beifall mit den herrlichen, demokratischen

Wohl zu unterscheiden von dem

„nichts tun“ innerhalb der tatsächlichen Aufgaben, dessen sich Regierung und Parlament in dringenden Fragen infolge Nichteinigung schuldig machen.

Worten: „Wozu haben wir euch denn gewählt?!“ Dieser Bauer hat wahrscheinlich das Wesen einer Demokratie besser erkannt als manch kluger Theoretiker. Die gewählten Vertreter haben eben gehobene Pflichten und auch gehobene Möglichkeiten, sich in die politischen Dinge einen tieferen Einblick zu verschaffen. Treffen sie wesentliche Fehlentscheidungen, müssen sie bei den nächsten Wahlen hinweggefegt werden können. Bei Volksabstimmungen in Einzelfragen kann hingegen die Demagogie Triumphe feiern.

Wem zum Nutzen?

Wer erwartet sich nun praktisch von einem koalitionsfreien Raum, also von der Möglichkeit laufender Volksabstimmungen, etwas Nützliches für das Staatswesen oder für sich? Etwa der gehobene Facharbeiterstand, wenn es um seine Probleme geht, etwa der Unternehmer, der Bauer, der Beamte? Oder machen wir Volksabstimmungen über die Eisenbahntarife, über die Stempelgebühren, über die Postgebühren, über die Einkommensteuer, über die Bäckereiarbeiterlöhne, über das Streikrecht der öffentlich Bediensteten, über das Landwirtschaftsgesetz, über, das. Wer er- s wartet sich in Fragen, deren Lösung nur in einem Gesamtkonzept möglich ist, eine fruchtbare Regelung durch Volksabstimmungen? Diese Methode würde bald nicht nur zum Staatsbankrott sondern überhaupt zur Auflösung führen. Wir wissen auch, daß es vor allem verantwortungslose Demagogen am besten verstehen, auf dem Klavier der Volksabstimmung zu spielen. Was uns hier bevorstünde, kann man aus dem demagogischen Gespött entnehmen, das sich die ÖVP gefallet lassen mußte, als sie in Erkenntnis des Widerspruches zwischen Verantwortung und koalitionsfreiem Raum keiner uferlosen, sondern nur einen begrenzten Raum koalitionsfrei stellte. Wollen wir den Zufallsmehrheiten ausgelieferten Abstimmungskampf einet Gruppe gegen die andere, den Kampl aller gegen alle? Wollen wir den Verantwortlichen das Alibi gewähren ihre Kapitulation vor, schwieriger Problemen hinter ADifimmüngen ae: enttäuschten oder irregeführten Bun- desvolkbs zu Verstecken? Muß dä riföKi der Ruf laut werden nach Menschen die bereit sind, die Verantwortung füi all diese Dinge zu tragen? Aufgabe der verantwortlichen Politiker muß es doch sein, mit Blickrichtung auf das Allgemeinwohl sich zu gemeinsame!

Arbeit zusammenzufinden und nicht durch eine ruinöse Lizitationspolitik die Grundlagen des Gemeinwohls zu zerstören. In diesem Sinne darf es für einen Politiker, der mit Ernst seiner

Berufung nachgeht, keinen verantwor- i tungsfreien Raum geben.

Politikfreier Raum

Ich glaube vielmehr, daß das allge- ’ meine Bedürfnis nach Lockerung der ’ starren Koalition und des lähmenden [ Proporzes mit der Forderung nach - einem „koalitionsfreien Raum“ mißverstanden wurde. Wir können hier

Beispiele aus der Weltpolitik heranziehen, in denen sich auch die Sehnsucht der Völker nach Frieden und Beendigung des kalten Krieges ausdrückte, und die großen Anklang fanden, zum Beispiel die Forderung nach „atomwaffenfreien Zonen“. Erst kürzlich ist durch die ganze Welt ein hoffnungsvolles Aufatmen gegangen, als das eingeschränkte Atomtestverbot vereinbart wurde. Der materielle Inhalt des Vertrages ist äußerst gering, wird aber als hoffnungsvoller Ansatzpunkt allgemein begrüßt. Das Atomtestverbot sagt im wesentlichen, daß sich die einzelnen Staaten verpflichten, auf einem bestimmten Gebiet, nämlich auf dem Gebiet der Atomtests über der Erde, „nichts zu tun“. Diese Sehnsucht der Völker, auf bestimmten Gebieten „nichts zu tun“, läßt sich auch auf die Innenpolitik übertragen mit dem Vorschlag, in bestimmten Bereichen „nichts zu tun" , bestimmte Bereiche p o liti k f r e i zu stellen, aus der staatlichen Regelung herauszunehmen und dort das gehobene Urteils- und Handlungsvermögen des Volkes sich bewähren lassen. Ich habe oben erklärt, daß es keine politische Führung auf Dauer geben kann, die innerhalb ihrer Pflichten einen verantwortungsfreien Raum billigen könnte.

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