"Gerechtigkeit? Nur im Film!"

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Es gibt Verbesserungsbedarf. Aber dass jeder Professor eigene Beispiele geben konnte, war auch nicht das Gelbe vom Ei. (R. Taschner)

Immer weniger Studierende haben die Auseinandersetzung mit Texten gelernt. Dafür sind sie geschickt, bei Tests zu erraten, was man von ihnen will. (S. Hopmann)

Wie viele junge Menschen am 3. Mai bei der Deutsch-Matura sitzen, kann man nur erahnen. Exakt 44.763 Klausuraufgaben hat das Bildungsministerium jedenfalls in diesem Fach bestellt -knapp 19.000 für die Allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS), rund 22.000 für die Berufsbildenden Höheren Schulen (BHS) und 4200 für die Berufsreifeprüfung. So unterschiedlich die Schulkarrieren der jungen Menschen auch verlaufen sind -sie alle werden zwischen denselben drei Paketen mit je zwei unabhängigen Aufgabenstellungen wählen müssen. (Eine dieser sechs Aufgaben ist die Interpretation eines literarischen Textes.) Außerdem müssen sie sich an einem "Textsortenkatalog" orientieren. Darin enthalten sind "Empfehlung", "Erörterung", "Kommentar", "Leserbrief", "Meinungsrede","offenerBrief","Textanalyse", "Textinterpretation" und "Zusammenfassung".

Ob das alles sinnvoll ist, darüber scheiden sich seit Jahren die Geister. Die Zentralmatura habe "Deutsch und auch die anderen Sprachen richtig kaputt gemacht", meinte etwa die Übersetzerin Karin Fleischanderl im April 2015 bei einem FUR-CHE-Streitgespräch. "Es wird in keinster Weise mehr gefordert, dass ein Schüler oder eine Schülerin einen Gedanken frei in einem Aufsatz äußern kann, sondern es werden Genres ( ) erfunden und den Schülern dann inferiore Zeitungstexte zur Bearbeitung vorgesetzt." Bis heute steht Fleischanderl zu diesem Befund -umso mehr nach den Erfahrungen ihrer Tochter: Durch die Zentralmatura werde "eine völlig uninteressante Form von Wirklichkeit konstruiert" und vor allem die Schreiblust getötet.

"Das eigenständige Denken geht verloren"

Nicht ganz so vernichtend, aber kritisch bewerten auch viele Pädagogen die neue Deutsch-Matura. Eine jener Lehrerinnen, die den Wechsel vom alten ins neue Maturasystem begleitet haben, ist Birgit Gmeindl-Oser, Deutsch-und Englischprofessorin am Privaten Gymnasium Sacré Cœur im dritten Wiener Bezirk. Sie ortet sowohl beim Entstehungsprozess als auch bei der Umsetzung der Deutsch-Matura Probleme. "Die Pilotphase war -anders als in Englisch -viel zu kurz", meint sie. Auch das Beurteilungsraster sei "sehr schwammig". Umso konkreter seien die Arbeitsaufträge: "Hier wird sehr viel vorweggenommen, man absolviert Arbeitsauftrag um Arbeitsauftrag, und das eigenständige Denken geht verloren." Dass sich nur eine von sechs Aufgaben der Literatur widmet, sieht Gmeindl-Oser ebenfalls kritisch. Dass ab 2020 die Textsorten "Empfehlung" und "offener Brief" wegfallen, ist hingegen ein kleiner Trost. Aber sie sieht auch positive Seiten: "Erstens ist es nicht mehr möglich, Schülern anzudeuten, in welche Richtung die Prüfungen gehen; und zweitens kann sich durch externe Prüfer die Zusammenarbeit der Lehrkräfte mit den Schülerinnen und Schülern verbessern."

Weitgehend zufrieden zeigt sich indes Stefan Krammer, Professor für Neuere Deutsche Literatur und ihre Didaktik am Institut für Germanistik der Uni Wien -und an der Konzeption der neuen Deutsch-Matura beteiligt. Dass eines der drei Aufgabenpakete ein literarisches Thema beinhalte und dies nun auch an der BHS vorgesehen sei, unterstreiche den Stellenwert der Literatur, so Krammer. "Und aus der Feldforschung wissen wir, dass Schreibanlässe wichtig sind, um das Schreiben voranzubringen. Die Textsorten sind dabei pragmatische Möglichkeiten, anhand derer gewisse Fertigkeiten sichtbar werden." Weil das Zusammenfassen, Analysieren und Interpretieren von Texten wesentlich zur Studierfähigkeit gehöre, biete das neue Maturaformat auch "eine gute Vorbereitung für die Universität".

Krammers Kollege an der Uni Wien, der Bildungsforscher Stefan Hopmann, hat mit dem Fokus auf solche und andere Fertigkeiten hingegen zunehmend Probleme. "Die unselige Kompetenzorientierung führt zur unsinnigen Abprüfung fiktiver Teilkompetenzen und zum Umgang mit ebenso konstruierten Aufgabenstellungen", ist er überzeugt. Dass Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler gelernt hätte, "auch mit unsinnigen Anforderungen zielführend umzugehen", entspanne die Übung zwar; die Folge sei allerdings, dass der Unterricht oft zur Prüfungsvorbereitung verkomme. Auch habe er an der Uni den Eindruck, "dass immer weniger Erstsemestrige zu uns kommen, die in der Schule die intensive Auseinandersetzung mit Texten gelernt haben. Dafür sind sie ganz geschickt darin, bei Tests zu erraten, was die Testkonstrukteure von ihnen wollen." Eine ähnlich pessimistische Zwischenbilanz -allerdings punkto Mathematik -hat vor kurzem Tomas Kubelik im "Spectrum" der Presse gezogen. Unter dem Titel "Kolossal banal" warnte der Deutsch-und Mathematikprofessor am Stiftsgymnasium Melk davor, dass durch die "Kompetenzrhetorik" Inhalte so weit ausgedünnt würden, dass die Studierfähigkeit in den technisch-naturwissenschaftlichen Fächern bedroht sei. Rudolf Taschner, renommierter Mathematiker und nun ÖVP-Bildungssprecher, kann manchen Argumenten Kubeliks durchaus etwas abgewinnen. "Es ist klar, dass es hier Verbesserungsbedarf gibt", erklärt er im FURCHE-Gespräch, eine Weiterentwicklung der Zentralmatura stehe deshalb auch im Regierungsprogramm. Dennoch dürfe man nicht vergessen, dass es auch im alten Maturasystem Probleme gegeben habe. "Dass früher jeder Professor seine eigenen Beispiele geben konnte, war ja auch nicht gerade das Gelbe vom Ei." Er persönlich würde sich -wie schon vor drei Jahren - eine teilzentrale Matura wünschen, ist sich aber der Schwierigkeiten bei der Umsetzung (Stichwort Vergleichbarkeit) bewusst. Problematisch sei auch, dass es zwar an den BHS verschiedene Mathematik-Matura-Varianten ("Cluster") gebe, die sich an den Stundentafeln orientierten -nicht jedoch an den AHS. "Hier zwischen humanistischen und Realgymnasien Gerechtigkeit herzustellen, ist schwierig", meint Taschner. "Aber Gerechtigkeit gibt es eben nur im Film."

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