Gesamtschulen überfordern die Lehrer

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Konsequente Binnendifferenzierung ist äußerst aufwändig und erfordert viel höhere Budgets.

Von den 30 Schülern, die ich in der siebten Klasse übernommen habe, waren zehn massiv auffällig. Dieses Drittel ist jetzt in der neunten Klasse nicht mehr da. Teils von den Eltern von der Schule genommen, kurz vor dem Versagen, teils strafversetzt, teils sitzen geblieben, teils verzogen. Dafür sind jetzt zehn neue Schüler da, die Hälfte davon schwierige Fälle. Diese Auffälligen fordern meine ganze Kraft. Es ist im Grunde ungerecht: Die zehn Braven laufen so mit. Es herrscht nicht Gewalt an meiner Schule, das wäre übertrieben. [...] Es herrscht bei einem Teil der Schüler eine Verrohung der Sitten, ein Verlust von Regeln und Grenzen."

Finnische Realität

Dieser Leserbrief von einer Studienrätin aus einer Berliner Gesamtschule - zitiert aus Die Welt vom 29. April 2002 - kommt mir in den Sinn, wenn ich an die verschiedenen Versuche denke, unter dem Eindruck der PISA-Studie die Gesamtschule in Österreich wieder ins Gespräch zu bringen. Wenn wir uns auch die finnische Gesamtschule wünschten, wir bekämen in Österreich eine ganz andere. Oder sind folgende Rahmenbedingungen hierzulande vorstellbar?

* Integration auf Finnisch: Ausländische Kinder müssen verpflichtend Finnisch oder Schwedisch lernen, bevor sie in eine normale Klasse gesetzt werden.

* Eliteschulen auf Finnisch: Bestimmte Schulen werden als Eliteschulen geführt, an die eine bestimmte Elternklientel ihre Kinder schickt, damit deren Begabungen bestmöglich gefördert werden.

* Schulautonomie auf Finnisch: Ganz gezielt bieten im Rahmen der Schulautonomie verschiedene Schulen in städtischen Ballungszentren anspruchsvolle Unterrichtsangebote an (z. B. Russisch, Japanisch, Deutsch). Womit eine Schülerstromlenkung abseits von jeder Gesamtschulidee entsteht.

* Numerus clausus auf Finnisch: Die Matura im sozialdemokratischen Finnland begründet keinen Anspruch auf einen Studienplatz. Die Zahl der Studienplätze richtet sich nach den Ressourcen der Universitäten und nicht nach der Zahl der Maturanten. Die finnischen Maturanten müssen einen bestimmten Notendurchschnitt erreichen. Die Aufgabenstellungen bei der Matura erfolgen zentral.

* Nachhilfe auf Finnisch: In jeder finnischen Gesamtschule gibt es mehrere Planstellen für den Förderunterricht lernschwacher Kinder. Die Kinder werden phasenweise vom Regelunterricht befreit und gezielt im Einzel- oder Gruppenunterricht an die Leistungen der übrigen Schüler herangeführt.

* Klassenschülerhöchstzahl auf Finnisch: Im Regelfall hat keine finnische Gesamtschulklasse mehr als 20 Schüler.

* Schulpersonal auf Finnisch: In jeder Gesamtschule stehen ganztägig eine Krankenschwester, eine Kuratorin mit sozialpädagogischer Ausbildung, eine Psychologin für "schwere Fälle", mehrere Speziallehrer für den Förderunterricht und mehrere Unterrichtsassistenten zur Entlastung des Klassenlehrers zu Verfügung. Zudem gibt es Küchenpersonal.

Dagegen hätte die binnendifferenzierte österreichische Gesamtschule wahrscheinlich folgendes Aussehen: Klassen mit 30 Schülern für einen unterrichtenden Lehrer. Lehrer, denen für den hohen Anspruch eines binnendifferenzierten Unterrichts jede Ausbildung fehlt. Lehrer, die nicht ausreichend durch Spezialisten unterstützt werden. Kein differenziertes Lehr-und Lernmaterial.

Gut - aber teuer

Komplexe Organisationsformen - wie binnendifferenzierter Unterricht - stellen aus meiner Sicht eine permanente Überforderung für den unterrichtenden Lehrer dar: Disziplinprobleme, Tempo des Unterrichts, Menge des Unterrichtsstoffes, unterschiedlicher Abstraktionsgrad der Darbietung, mediale Präsentation, die Fähigkeit, mehrere Gruppenprozesse gleichzeitig zu steuern - das alles ist durch einen Lehrer in großen heterogenen Klassen nicht erfolgreich zu bewältigen.

Konsequente Binnendifferenzierung ist unerhört aufwändig und erfordert gewaltige budgetäre und personelle Anstrengungen. Ich warne vor pseudofinnischen Gesamtschulexperimenten, die zu Berliner Zuständen führen.

Der Autor ist Obmann der Vereinigung Christlicher Lehrerinnen und Lehrer an Höheren/Mittleren Schulen in Oberösterreich und Direktor am Ramsauergymnasium Linz.

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