6652743-1959_11_07.jpg
Digital In Arbeit

Gesucht: Studierte Arbeiter!

Werbung
Werbung
Werbung

Eine der wichtigsten Reformen im derzeitigen Umbau des Sowjetstaates ist die sehr weit gehende Schulreform.

Das einstige zaristische Schulsystem beruhte ganz auf dem Normalschulsystem Kaiser Josefs II. von Oesterreich. Da die Sowjets vor etwa 25 Jahren in vielem zur zaristischen Schulmethode zurückgekehrt sind, ist dieses System auch heute weitgehend gültig.

Alle Schulen in der Sowjetunion gehörten bis jetzt den drei Kategorien der niederen, mittleren und der Hochschule an. Entsprechend der Vergangenheit war dabei die Mittelschule in zwei Stufen geteilt, ähnlich den Progymnasien und Gymnasien der zaristischen Zeit. Die Absolvierung der unteren Mittelschule berechtigt zum Besuch einer mittleren Fachschule, in der Sowjetunion durchgehend Technikum genannt. Die Matura berechtigt zum Hochschulstudium. Auf diese Weise gibt es in der Sowjetunion beinahe für alle Berufe zwei Kategorien von Fachleuten, solche mit Hochschulbildung und solche mit fachlicher Mittelschulbildung. Auf dem Gebiet der Technik sind die einen die Ingenieure, die anderen die Techniker, auf dem der Medizin Äerzte —. Feldscherer, auf dem . der Pädagogik die Absolventen eiries pädagogischen’ Technikums oder eines pädagogischen Instituts, welch letzteres eine Hochschule ist.

Einer der wichtigsten Teile dieser Reform ist nun die Erweiterung der Schulpflicht von sieben auf acht Jahre. Gleichzeitig sind die Programme aller dieser achtjährigen Schulen einander angeglichen worden. Wenn diese Reform durchgeführt ist, besitzt jeder Sowjetbürger die Reife der Untermittelschule, die ihn zum Besuch einer Fachschule berechtigt. In Zukunft, wenn auch sehr langsam, soll die Schulpflicht auf elf Jahre erweitert werden, also mit der Matura abschließen.

Gleichzeitig ist die Verbindung zwischen Schule und Wirtschaft stark verstärkt worden. Auch während der achtjährigen Schulpflicht müssen die Schüler in steigendem Maße in industriellen oder landwirtschaftlichen Betrieben tätig sein. Es ist allerdings nicht so, wie es im Westen falsch ausgelegt wurde, daß diese Schüler und Schülerinnen ihre Arbeitskraft der Produktion zur Verfügung zu stellen haben. Das Programm des Werkunterrichtes ist einfach erweitert worden und wird mit zunehmendem Alter aus dem Klassenzimmer in die Betriebe selbst verlegt. Das genauere Programm hierfür kennt man noch nicht.

Nach Absolvierung der Schulpflicht sollen jedoch die drei Jahre bis zur Matura eng an das praktische Leben angeglichen werden. Diese Obermittelschüler müssen nun direkt in Betrieben ihres zukünftigen Berufes als vollgültige Arbeitskraft, allerdings mit stark verkürzter Arbeitszeit, arbeiten. Also in Industrien, in der Landwirtschaft, zukünftige Aerzte in großen Krankenhäusern. Den zweiten Teil des Tages verbringen sie in den Schulräumen zur Weiterbildung in den allgemeinen Fächern.

Um diese Reform der Mittelschule ganz zu verstehen, muß man wissen, daß die Sowjets sehr gute Erfahrungen mit sogenannten Abendoder Fernhochschulen gemacht haben Sie haben auf diesem Gebiet eine breite Organisation geschaffen, durch die sehr viel Techniker und vor allem Ingenieure herangebildet wurden. Das System ist weit mehr ausgebaut als ähnliche westliche Institutionen, die ihm zum Vorbild gedient haben. Auch der gewöhnliche Arbeiter hat auf diese Weise die Möglichkeit, durch Abendkurse die Matura zu erlangen. Dann kann er Student einer Fernhochschule werden. Als solcher erhält er von der Hochschule die Anweisungen schriftlich und reicht auch schriftlich seine Arbeiten ein. Die Hochschulen haben Exposituren, die über das ganze Land verbreitet sind, an denen die Fernstudenten periodisch zu Prüfungen erscheinen müssen. Zur Ablegung der Jahresprüfungen erhält der Fernstudent einen Monat vollbezahlten Urlaub von seiner Arbeitsstelle. Das letzte Jahr seines Studiums arbeitet er bei gleichem Lohn verkürzt und erhält drei Monate Urlaub zur Vorbereitung der Verteidigung seiner Diplomarbeit.

Dieses System, sehr erweitert und nunmehr auch auf die drei oberen Klassen der Mittelschule erstreckt, bildet die neue Grundlage der Schulreform. Auch in der Sowjetunion wurden Bedenken dagegen laut, nicht so sehr gegen die praktische Betätigung der rtochschüler als vielmehr der Mittelschüler. Die Gegner der Reform behaupteten nämlich, die Mittelschule bilde die Grundlage der Allgemeinbildung, und das neue System würde die fachliche Ausbildung auf Kosten der Allgemeinbildung bevorzugen. Das wird wahrscheinlich auch der Fall sein. Wahrscheinlich ist es auch eine Illusion, daß der Zwang zu körperlicher Arbeit während der Studienzeit den psychologischen Gegensatz zwischen Kopf- und Handarbeiter zum Verschwinden bringen wird. Es ist auch nicht gesagt, daß eine gewisse Geringschätzung der körperlichen Arbeit dadurch verschwinden wird. Im Gegenteil. Da das neue Schulsystem die Auslese schon vor die Matura und vor die Immatrikulation an einer Hochschule verlegt, werden sich die Akademiker in Zukunft noch mehr als Elite fühlen als bisher. Vom Erfolg der drei oberen Mittelschuljahre und der ersten Jahre am Arbeitsplatz soll es auch abhängen, ob der Student von Anfang an oder etwas später direkt an die klassischen Hochschulen als Vollstudent kommt oder nicht. Es werdep also mehr als zwei Kategorien Vön verständlich, daß die Absolventen der Universitäten und der traditionellen Hochschulen eine Art Korporationsgeist entwickeln ihren Kollegen gegenüber, die nur eine Fern- oder Abendhochschule absolviert haben.

Anderseits ist nicht zu verkennen, daß auf industriell-technischem Gebiet, vielleicht auch auf dem der Medizin, das neue System nicht nur dem Sowjetstaate große Ersparnisse bringt, sondern auch praktische Erfolge verspricht. Ersparnisse bringt es auf jeden Fall. Heute erhalten mehr als 90 Prozent der Fach- und Hochschüler vom Staate ein festes Monatsgehalt, das von Semester zu Semester steigt. Den F n- und Abendhochschülern braucht dieses Gehalt nicht bezahlt zu werden, nur für die Studienurlaube, denn sie erhalten sich selbst durch ihre Lohnarbeit.

Bedeutend wichtiger für den Sowjetstaat ist jedoch ein anderer Gesichtspunkt. Im Gegensatz zum zaristischen Staat 1st es dem Sowjetstaat gelungen, immer mehr und mehr Akademiker heranzubilden, so daß der Bedarf bald ganz gedeckt sein wird. Dagegen leidet das Sowjetleben heute wie zur zaristischen Zeit an Mangel an qualifizierten mittleren und unteren Spezialisten. Die Zahl der Ingenieure genügt heute schon, jedoch gibt es viel zuwenig gelernte Arbeiter, gute Meister und Techniker. Es ist eben so, daß heute ein junger Mensch, wenn er sich schon in die Schulbank setzt, gerade das höchste Diplom anstrebt. Selbst wenn er zuerst ein Technikum absolviert, ist das Technikerdiplom nur die Zwischenstufe zum Ingenieurdiplom. Dasselbe gilt vom Feldscher in der Medizin. Heute strebt jeder Feldscher darnach, Arzt zu werden. Diese Feldscherer sind jedoch eine Notwendigkeit für ein Land wie die Sowjetunion, denn für viele Sanitätsstationen im weiten Land oder in der Stadt genügt ein solcher Feldscher. Ein Arzt auf einem solchen Posten, der im Verlauf, der Jahre bedeutend höher bezahlt werden muß, wäre nur eine Vergeudung von Mitteln.

Die neue Schulreform und die damit verbundene Auslese bezweckt nicht zuletzt, daß sich sehr viele mit einem mittleren oder niederen Fachstudium begnügen müssen. Die Zahl der gelernten Arbeiter, der Meister und Techniker wird jedoch zweifelsohne steigen, und das wird für die Sowjetindustrie von Nutzen sein.

Interessant ist, daß auch für das Studium der Geisteswissenschaften dieselbe Reform gilt. Nur ist hier das vorliegende Material noch sehr ungenau, so daß man Einzelheiten noch nicht erkennen kann. Interessant ist nur ein Doppeltes: Es soll in den Betrieben und in den Kolchosen durch ein besonderes System das Interesse auch für Geisteswissensohaften geweckt werden. Außerdem kommt eine völlig neue Institution hinzu, gewissermaßen in Beantwortung des Vorwurfes, daß als Folge der neuen Schulreform das man diese neue Institution als ein ,\kleines akademisches Diplom” der geisteswissenschaftlichen Fakultäten nennen. In Zukunft soll jeder, der daran Interesse hat und dazu befähigt ist, zum , Studium einzelner Geisteswissenschaften zugelassen werden, die er gewissermaßen als Hobby und nicht als Beruf betreibt. Dieses Studium soll auch mit einem Diplom bescheinigt werden. Ob aus diesem Plan etwas wird, wird erst die Zukunft zeigen. Auf jeden Fall aber wird man im Westen gut daran tun, die sowjetische Schulreform aufmerksam zu verfolgen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung